Etienne schaute in den Spiegel und zog vorsichtig an dem Pflaster, welches sich an ihrem Gesicht fest verklebt hatte. Das unangenehme Ziehen und die schließlich gerötete, leicht gereizte Haut waren nur ein kleiner Preis für die nun beinahe vollständig verheilte Wunde. Tatinne’ Salbe hatte ihre Arbeit gut gemacht. Frische Luft und ein Gefühl von Erleichterung erfassten die gereizte Stelle. Die neue Haut sah fein und fragil aus, aber zumindest die anderen Kratzer drumherum waren verschwunden. Es sah so aus, als wäre die Heilung sehr gut fortgeschritten und es sollte keine Narbe zurückbleiben. Anders sah es jedoch bei ihrer Schulter aus. Diese war noch immer blau und wenn sie zu abrupte Bewegungen tat, dann stach ein unangenehmer Schmerz durch ihren Körper, als wären die Gelenke unangenehm ineinander verkantet. Es war unangenehm, die Schulter zu bewegen. Also blieb ihr zu entscheiden, ob sie ein Schmerzmittel nehmen sollte oder nicht. Sie konnte natürlich auch die Zähne zusammenbeißen, aber nach zu vielen Bewegungen brannte es unangenehm. Das würde sie ablenken.
„Und?“, fragte Tatinne, welche hinter ihr stand und ihre nackte Schulter betrachtete. Die warme Luft im Badezimmer hinterließ ein wohliges Gefühl auf ihrer Haut. Etienne liebte die Wärme. Es erfüllte sie mit Sicherheit, auch wenn diese nicht wahrhaftiger Sicherheit glich.
„Ist noch nicht wirklich so weit“, sagte sie, mit den Gedanken an einer Einschätzung, wie sehr ihr das zum Problem werden würde.
„Und der Rest? Was ist mit deinem Bein?“
Etienne sprang einige Male hoch und streckte ihr Bein. Mit Ausnahme eines leichten, unangenehmen Ziehens an der Haut, war sie hier wieder fit. Die Wunden des Crawlings waren nur oberflächlich geblieben und um die ganzen Bakterien hatte sich Tatinne gekümmert, sodass Etienne keine Infektion zu fürchten hatte. Ihre Tante war ein Geschenk in dieser Situation. So hatte sie erst vor wenigen Minuten ein streng riechendes Öl in ihre Schulter gerieben, von dem Etienne nicht ausmachen konnte, was drin war. Es roch nach Rosmarin und nach etwas Scharfen, aber sie bezweifelte es, dass ihre Einschätzung richtig war.
„Ist gut soweit. Noch ein, zwei Tage, dann sollte das Meiste durch sein. Bei der Schulter wird es länger dauern.“
Tatinne trat zu ihr und betastete ihre Schulter erneut. Sie war nicht wirklich sanft und Etienne unterdrückte eine Beschwerde.
„Ich kann dir etwas gegen den Schmerz geben. Nimm es einfach vor dem Kampf und die Nebenwirkungen werden dir erst später zu schaffen machen.“
Etienne nickte und zog ihre Schuluniform an. Sie würde weitere Kleidung mitnehmen und sich in der Turnhalle schnell umziehen. So wie sie das plante, sollte niemand außer ihr und Halil in der Halle sein und das für mindestens eine Stunde. So lange würde sie dort aber auch nicht bleiben. Ihrer Rechnung nach sollte der Kampf nach wenigen Minuten vorbei sein.
„Hier“, sagte Tatinne und legte ihr eine kleine Tüte hin. Etienne blickte hinein und zog eine Flasche Parfüm und ein Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit heraus.
„Das ist das Gegenmittel“, sagte Tatinne und deutet auf die farblose Flüssigkeit, „Siehe zu, dass du es nimmst, bevor du das Parfüm aufträgst. Und gib ihm nach dem Kampf auch was, ich will kein gelähmtes Kind nach dieser Auseinandersetzung zu bejammern haben. Und sorge dafür, dass du das alles abwischst, bevor du in die Klasse gehst. Ich hab dir feuchte Tücher hierfür vorbereitet. Werfe sie aber nicht weg und bring sie mir wieder zurück.“
Der raue Stoff der Tasche wurde vorsichtig von Etienne zusammengelegt und sicher eingepackt.
„Wo ist eigentlich dein kleiner Kater?“, fragte Tatinne sie.
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„Er schläft noch oben. Du müsstest heute noch einmal auf ihn aufpassen.“
Tatinne verdrehte die Augen, packte einige Handtücher zusammen und ging hinaus, „Ich hab es nicht anders erwartet.“
Etienne folgte Tatinne in die Küche. Es roch bereits nach Kaffee, aber ihre Tante hatte die Tasse kaum angerührt. Genauso wenig wie das Essen, welches sie sich gemacht hatte. Etienne nahm sich etwas Leichtes, was ihr für die nächsten Stunden den Hunger nehmen würde, und eine Flasche Wasser mit. Dann machte sie sich auf den Weg. Draußen war es dunkel, dunkler als sonst. Die Luft fühlte sich kalt beim Einatmen an. Ihre Nase schmerzte leicht, während sie sich langsam an die Kälte gewöhnte. Eilig lief Etienne die leeren Straßen entlang. Heute sollte das Wetter nicht so bedrückend sein, wie die letzten Tage. Kein Regen, welcher den Streit und die Bedrohung begleiten würde. Stattdessen sollte die Sonne scheinen, doch dafür war es noch viel zu früh. Es würde wahrscheinlich nicht mal ein Sonnenstrahl fallen, wenn Etienne mit Halil fertig werden würde. Und bis dahin ging sie ein Risiko ein, nur um die Situation friedlicher zu lösen, als sie es eigentlich musste. Selbst Tatinne hatte die Augen bei ihrem Plan verdreht und Etienne hatte sich unwohl gefühlt und hinterfragt, ob es nicht einen anderen Weg gab, den sie übersah. Doch damit würde sie sich nun nicht weiter beschäftigen. Sie hatte sich für einen Weg entschieden. Den würde sie bis zum Schluss gehen.
Also schlich sie erneut in die Halle, diesmal schneller als am Vortag. Sie hatte sich am Abend noch einmal hineinbegeben und Halil dabei zugeschaut, wie er seine Abendroutine beendet hatte. Nachdem er weg war, hatte sie sich angeschaut, wie die Umkleiden aufgebaut waren, welche Versteckmöglichkeiten es gab und wo Halils Schließfach war. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass die Tür sich nicht richtig verschließen ließ, sodass sie diesmal einfach hineinging, ihre kleine Sabotage korrigierte und die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie war jedoch nicht gänzlich eingesperrt in der Halle, denn sie hatte die Türen an den oberen Sitzplätzen ebenfalls behandelt, sodass sie notfalls dort hinauslaufen konnte. Als sie in die dunkle Umkleide hineinging, nutzte sie ihr Talisman für mattes Licht, um sich etwas besser orientieren zu können.
Sie ging in die Ecke bei den Duschen, welche sie sich am Vortag herausgesucht hatte. Halil war am Vortag mit einer Wasserflasche aus dem Gebäude gegangen, aber diese war nicht in der Halle auszumachen gewesen. Also würde er sie wahrscheinlich in der Umkleide lassen. Sie zog sich schnell in ihre gewohnte Kleidung um. Sie wäre nicht so bequem wie sein Karateanzug oder wie die einfachen Sportsachen, aber sie hatte nichts anderes, was sie nutzen konnte. Also stopfte sie die Uniform in ihre Tasche und bewegte noch einmal etwas ihre Schulter, im Versuch sie etwas zu lockern, und nahm nach einem kurzen Blick auf die Uhr die Schmerztablette, die Tatinne ihr gegeben hatte. Der Geruch nach Rosmarin war schon lange verschwunden. Sobald sie hörte, wie die schwere Tür im Gang zufiel und energische Schritte in die Umkleide führten, zog sie sich zurück und blieb so still, wie man es ihr beigebracht hatte.
Etienne hörte, wie die Tür aufgerissen wurde und anschließend ein Schließfach. Weitere Geräusche folgten, wie sich jemand Umzog und wie die Tür des Schließfaches mit einem lauten Scheppern zufiel. Als die Person den Raum verließ, vermutete Etienne, dass sie in die Halle gegangen war. Sie wartete noch einige Momente ab und als sie vernahm, wie in der Halle Matten ausgelegt wurden, trat sie aus den Duschen und ging zu dem halb geöffneten Schließfach. Als sie an dieses trat, öffnete sie langsam die Tür und suchte nach dem Ausweis der Person. Es handelte sich, wie sie vermutet hatte, tatsächlich um Halil. Sie legte sein Portemonnaie wieder in seinen Rucksack und nahm die Wasserflasche, welche er in seiner Sporttasche liegen hatte. Etienne füllte einige Tropfen der farblosen Flüssigkeit in sein Wasser. Tatinne hatte gemeint, dass es keine Überdosis bei diesem Gegengift geben könnte. Es war eine einfache Substanz, die leicht vom Körper abgebaut werden konnte. Anders war es bei dem Parfüm. Tatinne nannte jede Frau, die es trug, eine Schlange. Und das lag daran, dass es sich langsam um seine Opfer schlang, ihm die Luft ausdrückte und in die Bewusstlosigkeit trieb. Die Frauen machten dann den Rest. Etienne hatte heute jedoch nicht vor, so weit zu gehen.
Der herbe Geschmack der Flüssigkeit fühlte sich süß im Nachgang an und das Parfüm roch nach Lavendel, als sie sich einige Spritzer an den Hals, an den linken Oberarm und in die Armbeuge spritze. Wenn sie das so plante, wie sie es vorhatte, waren das die richtigen Stellen. Sie war zwar mit dem anderen Arm stärker, aber der Schmerz in ihren Schultern würde gegen sie arbeiten.
Mit dem Gewicht der Tasche an der heilen Schulter und einem ruhigen Herzschlag, trat Etienne leise durch die Umkleidetür in die Halle. Halil stand still auf einer Matte, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Augen waren geschlossen und er hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Sie merkte, wie er kontrolliert atmete. Kurz wunderte sie sich darüber, ob sie sich ankündigen sollte oder nicht. Dann entschloss sie sich, dies nicht zu tun. Er würde sich erschrecken, wenn er sie still sitzend an den Bänken ausmachen würde. Das würde jeden normalen Menschen aus der Bahn werfen und verunsichern. Zusätzlich zu seiner Wut, welche ihn immer impulsiv machte, war es genau das, was sie brauchte, um einen Vorteil zu erhalten. Und falls nicht, dann war es nicht allzu schlimm. Nur ein Bonus zu ihrem ohnehin sicheren Plan.
Also setzte sie sich auf die Bank und legte den Kopf in die Hände. Sie blickte zu der Uhr und nahm sich ein Zeitfenster, in welchem sie ihn spätestens auf sich aufmerksam machen würde. Sie wollte das Ganze erledigen, bevor die Clubmitglieder hinzukommen würden.
Halil fing an, sich zu bewegen. Diesmal wärmte er sich nicht auf, indem er Runden lief, sondern vollführte einige lockere Übungen. Etiennes Gedanken wanderten zum Vortag zurück. Erneut zwang sie sich, nicht an das Bild im Klassenzimmer zu denken und die Ambivalenz von Raffaels strahlend-bedrücktem Gesicht. Die Situation hatte sie genug verwundert, dass sie Tatinne danach fragen wollte, doch sie hatte sich dagegen entschieden und das mit genau demselben Eifer, mit dem sie sich zwang, sich von diesen Gedanken abzuwenden. Sie konnte es sich nicht leisten, innerlich unausgeglichen zu sein. Diese Rolle hatte sie bereits Halil zugesprochen. Also sprach sie ihr Mantra im Kopf, schöpfte die innere Ruhe und Sicherheit aus diesem, welches sie brauchte und beobachtete dann erneut Halil. Überprüfte noch einmal seine Bewegungen, nur um sicherzugehen, dass sie am Vortag nichts übersehen hatte. Er führte weiterhin die stumpfen Bewegungen aus. Weiterhin schnell und zielstrebig, mit so viel Energie, dass sie sich wirklich Sorgen machte, dass ihre Schulter einen Schlag von ihm nicht überleben würde. Geistig machte sie sich schon mal darauf gefasst, dass es wirklich weh tun würde.
Er bewegte sich weiter, immer wieder, bis er erneut an einer Figur hängen bleib, welche er nicht schaffte, richtig auszuführen. Es waren nur Kleinigkeiten, aber das zeigte ihr, was für ein Perfektionist er war. Dann sah sie ihm dabei zu, wie er beinahe ausrutschte, als die Wut, es nicht zu schaffen, ihn übermannte. Kurz blieb er stehen, starrte wütend und schwer atmend in die Leere und seufzte dann resigniert. Heute war seine Stimmung etwas anders als am Vortag.