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Kontrahenten: Alte Wunden

Raffael wandte sich an Braad, welcher auf sein Handy starrte und unterdrückte es, ein missbilligendes Geräusch von sich zu geben, welches auf ihn aufmerksam machen würde.

Raffael atmete noch einmal tief durch. Und dann trat er vor Braad. Ohne ihn zu fragen, zog er den Stuhl zurück und setzte sich vor ihm hin.

„Guten Morgen! Bin ich froh, noch ein bekanntes Gesicht hier zu sehen.“

Braad zuckte zusammen und ließ sein Handy auf den Tisch fallen. Seine Augen sprangen gehetzt und panisch zu ihm und seine Wangen färbten sich rot. Schnell schnappte er sich das Handy wieder und schaltete den Bildschirm aus. Um Misstrauen zu vermeiden, blickte Raffael weg davon und öffnete sein Buch, „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mich dazu setze. Es ist den ganzen Morgen einfach viel zu ruhig hier. Es ist so langweilig, ich könnte einschlafen.“

„Heute kein Schwarm von Menschen um dich herum?“, fragte er und Raffael fiel schon wieder dieser gehässige Ton in seiner Stimme auf, welchen er immer aufsetzte, sobald er mit ihm sprach. Raffael wusste nicht, wieso er ihn so sehr hasste, aber es war seit der ersten Begegnung so gewesen und es hatte nie aufgehört. Aber er machte sich nichts draus. So war es manchmal.

„Alle sind mit ihren Aufgaben beschäftigt. Warlen hat besonders viel ausgeteilt. Wie läuft’s bei dir? Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen. Ist deine Familie noch beim ‚Traum der Meere‘ zu Besuch? Wie geht’s deiner Mutter? Ich hab gehört, sie hat einen neuen Vertrag in Goldvail geschlossen. Scarlett hat sie erst vor kurzem wieder gesehen und mir davon erzählt. Sie kann es kaum erwarten mit den ganzen Stoffen zu arbeiten, welche mit der nächsten Lieferung ankommen.“

„Ihr geht es gut, glaube ich“, sagte Braad unsicher und schien Schwierigkeiten dabei zu haben, den ganzen Fragen zu folgen, „Wieso willst du über den neuen Handelsvertrag sprechen?“

Er blinzelte verwirrt und schien von einem Moment auf den anderen entschlossen zu haben, dass Raffael ihn scheinbar aushorchen wollte. Er schien jedoch dabei den Fehlschluss getroffen zu haben, dass er etwas haben würde, was es sich zum Aushorchen lohnen würde. Raffael bezweifelte es sehr stark, dass seine Familie mit ihm wichtige Inhalte ihrer Geschäfte teilen würde. Es war eher seine ältere Schwester, welche sich leidenschaftlich an der Arbeit der Familie beteiligte, und es würde sehr wahrscheinlich der Fall sein, dass sie das Familiengeschäft übernehmen würde.

„Oh, ich muss nichts dazu wissen. Ich habe aber gehört, dass sie echt eine schöne Zeit in Goldvail hatte.“

Ein weiter Weg, den er dieser Familie, trotz der Zugehörigkeit zu Elias Provinz, wirklich hoch anrechnete. Die Handelsrouten waren mittlerweile etwas sicherer als noch vor einigen Jahren. Es wurden zwei neue Schienen gebaut, welche direkt in die erste Provinz von Calisteo führten. Die Vorherrschaft der ersten Provinz bei Handelsbeziehungen war Raffael ein Dorn im Auge. Sie waren abhängig davon, dass die Provinz ihnen die Güter überließ, welche sie brauchten. Dünger, Saat, Öl, mechanische Teile für die Maschinen und vieles andere ging immer zunächst durch die erste Provinz durch, bevor es in den anderen zwei Provinzen ankam. Zeitgleich konnte die erste Provinz es sich aber auch nicht leisten, die anderen zwei Provinzen zu verstimmen. Immerhin waren sie von den Nahrungsmitteln, Wasserversorgung und anderen Ressourcen abhängig, welche in diesen Provinzen produziert wurden. Es war diese gegenseitige Abhängigkeit, welche für einen fragilen Frieden sorgte. Zeitgleich war es genau das, was immer wieder neue Reibungen verursache. So war es beispielsweise nicht zu übersehen, dass es den Mitgliedern der ersten Provinz insgesamt besser ging. Sie waren wohlhabender, manchmal beinahe schon verschwenderisch. Es war offensichtlich, dass in der Hinterhand andere Geschäfte liefen, als die, welche vereinbart waren.

Er merkte, wie Etienne ihn hinter Braad abwartend ansah und stellte fest, dass Braad noch immer sein Handy fest in der Hand hatte. Er wusste aber schon, wie er darauf das Thema wechseln konnte.

„Nebenbei, Tatinne hat mir davon erzählt, dass sie in der Nähe von Vheruna einige Minen zurückerlangt haben. Auch eine mit Kupfervorkommen soll dabei gewesen sein. Sie hat sich direkt einen Vertrag für kleine Mengen gesichert. Ich frage mich, woher sie die ganzen Leute kennt. Aber unabhängig dessen, sicherlich können wir bald mehr Elektronisches produzieren.“

Er deutet auf sein Handy, dass er noch immer in der Hand hielt, „Du weißt schon, falls es dir abgenommen werden sollte, weil du es in der Schule hast.“

Braad sah ihn erschrocken an und blickte dann panisch zu Adelle, „Willst du es ihr erzählen?“

Raffael lachte, „Nein, ich will dich nur vorwarnen. Du weißt, wie Merlian ist. Tatsächlich ist er in den letzten Wochen noch strenger geworden. Du hast sicherlich davon gehört, was passiert ist. Er hat ganz schön darauf herumgeritten. Habe ihn schon lange nicht mehr so brüllen gehört. Dabei sollte man meinen, er hätte seinen Zenit jeden Montag nach unseren Briefen erreicht.“

Braad blinzelte verwirrt und nickte verunsichert. Raffael unterdrückte ein Schnauben, denn es war gar nichts passiert. Aber Braad würde das nicht wissen, denn er war sowieso selten da und hatte beinahe nie eine Ahnung davon, was in der Schule vor sich ging.

„Er lässt sie neuerdings auch durchsuchen. Pass also auf, dass du es künftig nicht mitnimmst.“

Raffael beobachtete ihn dabei, wie er es eher ungeschickt in seine Tasche stopfte und sah kurz zu Etienne, welche noch immer an der Wand einige Schritte hinter Braad stand. Ihre grünen Augen beobachteten jede seiner Bewegungen und Raffael hatte nicht das Gefühl, dass ihr etwas entging. Ob sie auch andere auf diese Art beobachtete? Ihn? Welche Schlüsse zog sie?

Er sah schnell wieder lächelnd zu Braad, bevor dieser seinen Kopf hob und ihn ansah.

„Was machst du heute eigentlich hier?“, fragte Raffael und beobachtete, wie Braads Blick noch abweisender wurde, als zuvor. Raffael spürte, dass es da wohl etwas gab, was Braad nicht gerne teilen würde und fragte sich, ob es mit Meta zusammenhing. Aber das bezweifelte er, denn Meta hätte heute theoretisch gar nicht hier sein sollte.

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„Wieso willst du das wissen?“, fragte er zurück. Raffael merkte, wie Etienne sich hinter ihm hinhockte und sich an seiner Tasche zu schaffen machte. Beinahe erschreckte ihn diese Handlung. Braad war groß und sie war klein. Sie wurde komplett von ihm verdeckt und wenn Raffael nicht gewusst hätte, dass sie da war, hätte er sie vielleicht nicht bemerkt.

„Ich habe dich schon lange nicht mehr hier gesehen. Wie kommt’s? Familienangelegenheiten?“

Seine Wangen wurden erneut rot, doch diesmal war sein Gesicht vor Wut verzogen. Und Raffael war sich nicht ganz sicher, wieso.

„Das geht dich gar nichts an“, er spuckte ihm die Worte regelrecht ins Gesicht, „Ich werde ja wohl ab und zu noch hier hinkommen dürfen?“

Raffael blinzelte verwirrt, überrascht von der Wut, die ihm entgegenschlug. Aber es war nichts, was er nicht schon kannte. Die meisten Gespräche mit ihm waren so abgelaufen.

„Ich wollte nur mal nachfragen. Immerhin waren wir eine Weile in derselben Klasse und deine Schwester hat uns mit Dustin Anweisungen zum Umgang mit O’Donnel gegeben.“

Braad schlug mit der Faust auf den Tisch, „Du meinst, sie haben dir alles hinterhergeworfen und mich dir Arbeit machen lassen?“

Raffael sah abschätzend zu seiner Faust. Es war das erste Mal, dass er in seiner Anwesenheit Gewalt ausübte, selbst wenn das nur gegen einen Gegenstand war. Raffael blickte prüfend in sein Gesicht, „Ist etwas vorgefallen?“

„Kannst du einfach verschwinden?“, spukte Braad ihm entgegen, „In erster Linie wäre ich dir dankbar, wenn du nicht deine Nase in alle möglichen Angelegenheiten anderer Leute stecken würdest.“

Raffael entschloss sich, sich zurückzuziehen. Etienne entfernte sich bereits zwischen den Regalen und er vermutete, dass sie das Handy hatte. Und Braad war offensichtlich fürchterlich auf ihn zu sprechen. Was auch immer ihm zu schaffen machte, er ließ es an ihm aus und Raffael sah keinen Grund, in den Streit einzusteigen. Er war sowieso nicht in der Position, sich das leisten zu dürfen. Es würden nur schlechte Gerüchte entstehen, dass er, ein Provinzherrscher, sich auf Schulstreitereien einließ.

„Ok“, sagte Raffael und hob lächelnd die Hände, „Lass mich dich nicht weiter stören. Du hast sicherlich ganz wichtige Dinge zu erledigen.“

„Wichtiger, als hier herumzulungern und so zu tun, als würde ich etwas in der Schule lernen“, erwiderte er, als Raffael das Buch schloss. Er verschränkte grinsend die Arme vor der Brust und sah zu ihm, als hätte er einen Kampf gewonnen. Raffael würde ihn in dem Glauben lassen. Er blinzelte ihm grinsend zu, eine fürchterliche Angewohnheit, die er von seiner Mutter übernommen hatte und er würde sie nie hergeben, weil sie von ihr war.

„Dann lass dich bei diesen ganz wichtigen Angelegenheiten nicht stören.“

Er schob den Stuhl zurück und war bereit zurückzugehen, als er erneut Braads Stimme vernahm, „Lass mich dir mal einen Tipp gehen. So vom Älteren zu Jüngeren. Du solltest dich nicht so herumschubsen lassen.“

Raffael verdrehte die Augen. Er wollte weiter gehen. Es wäre es nicht wert, sich diesen Schwachsinn anzuhören. Er wusste, dass Braad sich das nur herausnahm, weil Raffael zurücktrat. Doch es gab eine Grenze von dem, was er anderen durchgehen lassen konnte. Früher wäre er lachend weggegangen. Und eigentlich war niemand hier, der ihm dieses Gespräch zum Nachteil auslegen konnte, außer vielleicht Etienne, die er aus den Augen verloren hatte. Auf der anderen Seite jedoch, würde Braad vielleicht herumposaunen, dass Raffael, der Provinzherrscher, vor ihm davonlief. Und so leid es ihm tat, er hielt ihn tatsächlich für so blöd, dass er das tun würde. Also drehte er sich zu ihm und stützte sich leicht lächelnd am Tisch ab, „Und wer, denkst du, schubst mich herum? Du? Weil ich so nett war, zurückzutreten?“

Er bemerkte zufrieden, wie Braad die Augen auf seine Finger senkte. Unter seinen Fingernägeln war Dreck, welchen er zu entfernen versuchte. Doch es hielt ihn nicht davon ab, weiterzusprechen, „Ich meine ja nur. Du bist viel zu weichherzig. Wenn du etwas weniger nachgiebiger wärst, dann würden sich die Leute nicht so viel bei dir erlauben. Das kann wirklich ein Problem werden. So wie damals mit Josef-“

„Nimm einen tiefen Atemzug und denk nach“, fuhr Raffael dazwischen, kaum in der Lage, die Wut zu bändigen, die in seiner Brust aufloderte. Gefolgt von dem Schmerz, welcher bis vor wenigen Monaten noch dafür gesorgt hatte, dass er als ein trauriges Häufchen Elend zusammengekauert in der Ecke des Zimmers gelegen hatte, welches zu dem verfluchtem Haus gehörte, in dem er leben musste. Aber er würde sich dazu zwingen, diese Gefühle zu unterdrücken, denn er konnte nicht eine Prügelei anfangen, wie er es vor einem Jahr noch getan hätte. Und das, worauf Braad anspielte, war es wert ihn windelweich zu schlagen, „Denk jetzt genau darüber nach, was du sagen willst, bevor das Gespräch wirklich zu einem Problem für uns beide wird.“

Er beobachtete, wie Braad bleich im Gesicht wurde und sein Blick kurz zu ihm wanderte, nur um dann auf den Tisch zu fallen. Raffael merkte, wie es in seinem Kopf ratterte und er nach und nach zu verstehen schien, was er da von sich gab.

„Es tut mir leid“, sagte er mit zittriger Stimme.

Raffael schwieg. Nicht, weil er ihn zappeln lassen wollte, sondern weil er wirklich Sorge hatte, dass er ihn am Kragen packen und schlagen würde. Er atmete durch. Und dann dachte er an Etienne und daran, dass er ihr ein Vorbild sein musste. Wenn sie die Herrschaft übernehmen würde, musste sie besonnen sein. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nicht so, wie er gerade. Aber es war nicht mal ein Jahr her, seit seine Mutter gestorben war und dieser Mistkerl wagte es, ihm die Schuld dafür zu geben. Er merkte, wie seine Hände zu zittern anfingen und griff stärker nach dem Tisch, „Jetzt, wo du darüber nachgedacht hast. Solltest du schnell verschwinden. Und am besten für eine Weile außerhalb meines Blickfeldes bleiben.“

Er beobachtete Braad dabei, wie er hastig seine Tasche packte und mit hochrotem Kopf aus der Bibliothek rannte. Die Tür fiel ins Schloss und Raffael senkte den Kopf, versuchte an etwas anderes zu denken, nur um ihm nicht hinterherzulaufen und doch in sein Gesicht zu schlagen. Er versuchte, die Vernunft einsetzen zu lassen. Was würde passieren, wenn er das tat? Er würde für einen Moment sehr zufrieden sein. Und dann würde er sich mit Braads Familie auseinandersetzen müssen und damit zwangsläufig mit Elias, den er unter diesen Umständen wirklich nicht sehen wollte. Weiterhin würde das Einfluss auf Scarlett und Alberto haben, welche erst kürzlich einen Vertrag mit seiner Familie geschlossen haben. Das würde auch Einfluss auf seine Provinzmitglieder haben, denn die Spannungen zwischen den Provinzen könnten stärker werden. Die Zeitungen würden ihn auseinander nehmen, vor allem in Elias’ Provinz. Raffael atmete tief durch und fühlte sich nicht besser. Er vermisste seine Mutter. Sie würde mit einem einfachen Spruch dafür sorgen, dass er sich besser fühlen würde. Oder ihm erzählen, wie er Braad einen fiesen Streich spielen konnte und ihm dann verschwörerisch zuzublinzeln.

Eigentlich hatte er gedachte, dass er mit seinem Schmerz gelernt hatte umzugehen. Doch es schien, als würde nur ein Funken reichen, um ihn wieder an einen dunklen Ort zu befördern.