Etienne trat nach ihm hinein und sie mochte es direkt nicht. Die Gänge waren eng und eine Treppe ging direkt nach oben in die nächste Etage. Es war dunkel, sodass sie nur die Schemen ausmachen konnte, roch moderig und die Luft fühlte sich feucht an. Von einem unerklärlichen Gefühl der Bedrohung gestochen, griff sie schnell zu ihrem Talisman. Die innere Unruhe in ihr verstärkte sich und das Misstrauen stieg, auch wenn sie für einen Moment nicht wusste, wogegen oder wen. Bis der Fluch vor ihrem inneren Auge auftauchte, dann das Klavier, was sie schließlich dazu brachte, durchzuatmen. Etienne ließ helles, weißes Licht leuchten. Sie entdeckte Raffael mit einer Lampe in seiner Hand, welche er wohl gerade anmachen wollte. Ihre Ruhe kehrte wieder ein.
„Das geht natürlich auch“, sagte Raffael anerkennend zu ihrem Talisman und stellte die Lampe wieder weg.
„Wieso sieht es hier so kaputt aus?“, fragte sie, nachdem sie sich kurz umgeschaut hatte. An der Tür gab es zusammengekehrten Dreck und Stein. Die Wände sahen teilweise eingeschlagen aus, Risse waren an einigen Stellen zu entdecken. Auch die Treppe, welche sie ihm hinauf folgte, sah nicht sehr heil aus. An einigen Stellen fehlte die Ebenheit. Manchen Stufen fehlte der glatte Stein zum Auftreten, stattdessen gab es Löcher und Einschlagstellen in den unterschiedlichsten Größen. Dafür konnte sie Spuren der Rekonstruktion erkennen. Heller Putz war in den Lücken verteilt und füllte einen tiefen Riss aus, welcher sich über mehrere Stufen hinweg zog.
„Vor einem Jahr ist ein Teil dieser Seite der Mauer eingestürzt“, erklärte er ihr, „Du kannst dir sicherlich denken, wie lang sie ist. Nachdem andere Probleme sich in den Vordergrund gedrängt hatten, wurden einige Prüfungen übersprungen. Um an Menschen und Zeit zu sparen. Die problematischen Dinge wurden nach hinten geschoben, da anderes in den Vordergrund trat. Das hat sich dann so gerächt.“
„Ihr habt an eurem effektivsten Schutz gegen Feinde gespart?“, fragte sie nach.
Seine Schultern hoben und sanken in einem Schulterzucken. „Es würde nichts zum Schützen bleiben, wenn die Menschen innerhalb der Mauer verhungern.“
„Hunger?“, fragte sie überrascht, „Ihr hab wahrscheinlich das fruchtbarste Land in der gesamten Region und einen Zugang zum Meer. Wie habt ihr es geschafft, euch in den Hunger zu treiben?“
„Eine Verkettung aus wirklich unglücklichen Ereignissen“, erwiderte er, „Unser früherer Herrscher hat es nicht für notwendig gehalten, sich um die Wartungen von Maschinen und die Beschaffung von Düngemitteln zu kümmern. Die Preise waren gestiegen und daran wurde gespart. Zu dem Zeitpunkt waren die Reibungen zwischen den Provinzen besonders groß und es wurde viel Geld ins Militär gesteckt. Der Fokus lag eher beim Feind innerhalb der Mauern und weniger an dem von außerhalb und seien wir mal ehrlich, es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand die Rhina durchqueren wird, um uns anzugreifen. Es ist schon schwer genug, diese als Handelsweg zu halten, man müsste verrückt sein, eine Armee durch diese Wüste durchzutreiben.“
„Dennoch, eine furchtbare Idee euren Schutz zu vernachlässigen“, beharrte sie, „und das ausgerechnet diese Stelle. Sie zeigt genau ins Landesinnere. Ich könnte es verstehen, wenn es die Seite zum Meer wäre.“
In einer flüssigen Bewegung drehte er sich auf dem Absatz zu ihr um. Er schien etwas schwer zu atmen und ihr ging es genauso. Das Gespräch machte den Aufstieg deutlich schwerer.
„Willst du es ändern?“, fragte er und sie entdeckte den belustigten Funken in seinem Auge.
„Willst du dich mit mir streiten?“, fragte sie zurück, gereizter, als sie es wollte.
Sein Grinsen wurde etwas breiter, beinahe schon herausfordernd, doch sie entdeckte eine sich langsam entwickelnde Wachsamkeit in seinem Gesicht.
„Du scheinst heute besonders gereizt zu sein“, stellte er fest und sah sie weiterhin forschend an.
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich diesen Aufstieg hier machen muss, anstatt meine Jacken zu bekommen.“
Die Wachsamkeit verschwand wieder, das Lächeln entspannte sich, forderte sie nicht mehr heraus. Stattdessen hob es sich besonders von dem weißen Licht ihres Talismans ab. Es stand ihm mehr zu lächeln, als so verloren auszusehen, wie an dem Tag seiner Konfrontation mit Braad und Bianca. Zusammentreffen, von denen sie verstand, dass sie nicht positiv waren, aber von denen sie nicht einsehen konnte, was dafür zuständig war.
Raffael drehte sich wieder um und ging weiter. „Dann habe ich gute Nachrichten für dich. Du kannst sie oben anprobieren und dabei einen fantastischen Ausblick auf Calisteo und ihre Provinzen genießen. Es gibt nichts Besseres, als einen Blick auf diese Stadt.“
Sie glaubte ihm, dass er das ernst meinte. Erneut schwang dieser zuneigende, liebevolle Unterton in seiner Stimme, als er von der Stadt sprach. Seine Zuneigung hat sich schon zuvor durch jedes Wort seiner Erzählungen der vergangenen Stunden herauskristallisiert. Es lag in der Art und Weise, wie er seine Worte sprach, während es hauptsächlich über Fakten von der Entwicklung der Stadt ging. In der Betrübnis, welche mitschwang, als es über den Hunger, die alte Macht und die kaputte Stadtmauer ging und die Sorge in seinen Augen, als er mit seinen Fingern über die Steine beim Aufstieg gefahren war und sich diese angeschaut hat.
Unangenehm berührt von dieser Erkenntnis, folgte sie ihm still hinauf, bis sie so weit oben waren, dass ein Blick aus den wenigen, kleinen Fenstern auf eine beachtliche Höhe deutete. Das kleine Land breitete sich unter ihr aus und der Anblick war wunderschön, wenn auch langsam der kahle Winter die Natur einnahm. Unabhängig dessen, ob Raffael herausgefunden hatte, dass sie das mochte oder ob er einfach einen Glücksfall hatte, freute sie sich langsam tatsächlich darauf, ganz oben zu sein und die Welt unter ihr zu fühlen. Wie damals, als sie mit ihrem Vater in den Bergen war. Jedes Mal hat sich ihre Existenz dabei als so klein und unwichtig angefühlt, dass eine wohltuende Erleichterung sie durchströmt hatte. Nichts war von Bedeutung, außer dem Moment, indem die unendliche Weite der Natur sich ihren Geist erobert hat. Dann erinnerte Etienne sich wieder daran, dass Raffael wahrscheinlich von ihr wollte, dass sie die Herrschaft über die Stadt übernahm. Das wahrscheinlich unter seiner Führung. Denn sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand, welchem etwas so sehr am Herzen lag, es freiwillig an jemand anderen abgeben würde. Jemand, der seine Pflicht und Verantwortung ernst nahm, einfach zur Seite trat. Sie würde es nicht tun. Er sicherlich auch nicht.
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„Lass mich hier etwas vorgehen“, sagte er und sie blieb stehen. Raffael stützte sich an der rechten Seite der Wand ab, während er über ein Loch kletterte, welches mehrere Stufen der linken Seite der Treppe einnahm. Es war nicht sehr groß, aber es bot ihr einen guten Blick nach unten, einen tiefen Weg hinab, welcher von dichter Dunkelheit gefüllt war.
„Ist das nicht zu gefährlich für jemanden wie dich?“, fragte sie und konnte nicht anders als belustigt darüber zu sein, dass ausgerechnet er, der so sehr auf Sicherheit pochte, sich diesen Aufstieg ausgesucht hatte. Wie sauer er auf sie war, dass sie sich mit Halil angelegt hat und wie sorglos er nun den Weg durch einen ursprünglich teils eingestürzten Ort ging.
Auf der anderen Seite grinste Raffael zu ihr hinunter. „Für jemanden wie mich? Keine Sorge, es ist sicher. Wenn man den Ort kennt und nicht blind hereinrennt. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass dir das gefallen könnte.“
Raffael hielt ihr die Hand entgegen und die Vorstellung, das dumpfe Pochen in ihrer Schulter durch die Anstrengung wieder brennen zu lassen, war ihr zuwider. Also nahm sie den Talisman in die andere, verletzte Seite und ergriff mit ihrer unverletzten etwas ungeschickt die Hand, welche sich im Gegensatz zu ihrer warm anfühlte. Etienne bewegte sich etwas schwer über die Lücke im Boden und versuchte ihr Gleichgewicht durch die ungewohnte Haltung zu wahren, wobei auch er kurz strauchelte, bis sein Griff wieder an Festigkeit gewann und ihr den Halt gab, den er angeboten hatte. Auf der anderen Seite war sie erleichtert, es ohne allzu große Probleme geschafft zu haben. So dachte sie zumindest, bis sie ihren Blick zu seinem Gesicht hob und Irritation sah. Verwirrt starrte auf die Hand, die sie ihm anstelle der anderen gegeben hat. Etienne konnte regelrecht sehen, wie seine Gedanken ratterten und wie er zu einer Schlussfolgerung kam, als seine Augen auf ihre verletzte Seite fielen. Sofort stieg die Nervosität und das Misstrauen in ihr auf, als ihr klar wurde, dass sie eine Schwäche offenbart hatte und Etienne zog ihre Hand schnell zurück.
„Priorisierst du wieder deine Jacke?“, fragte er und sie hörte einen Unterton heraus, dem sie nun mehrmals ausgesetzt und von dem sie sicherlich nicht mochte, dass er gegen sie gerichtet war.
„Ich stehe nicht gerne mit dem Rücken vor einem Abgrund“, erwiderte sie angespannt. Kurz huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, wie er sie schubsen würde. Auch wenn sie auf der Hut war, verwarf sie ihn wieder. Es gab keinen Grund für ihn, das jetzt zu tun. Sie mochte das Bild dennoch nicht.
Mit einem gemischten Gesichtsausdruck wandte er sich ab und ging weiter. Sie redeten nicht mehr, etwas, dass sie zeitgleich erleichterte und beunruhigte. Sie stiegen höher und höher, bis sie die Decke näher kommen sah und eine Luke in ihr Sichtfeld trat. Raffael holte wieder den Schlüsselbund hervor, öffnete die Luke über ihnen und stieg hindurch. Das Licht des Abends schien so hell in den dunklen Gang hinein, dass es sich schon beinahe wie der Mittag anfühlte und nicht der Abend, welcher es eigentlich war.
Raffael hielt ihr erneut die Hand entgegen, diesmal die andere und aus dem unangenehmen Bedürfnis heraus, die vorherige Situation in Vergessenheit geraten zu lassen, nahm sie seine Hilfe leise an.
Das Licht umfing sie und sie deaktivierte ihren Talisman. Ihre Augen gewöhnten sich an das andere Licht des endenden Tages, während sie frische, kalte Luft atmete. Etienne fand sich in einem Raum mit hohen Decken und zu ihrer Linken und Rechten ging es hinaus zum Wehrgang. Der Wind pfiff durch das Zimmer, gab ihr kurz das Gefühl der Schwerlosigkeit, bis sie sich gegen diesen stemmen konnte. Innerhalb des Raumes gab es alte Möbel und einen Tisch. Abgebrannte Kerzen standen drauf und Etienne entdeckte eine Spielkarte unter dem Bein eines Tisches liegen, davor bewahrt, vom Wind verweht zu werden.
Raffael warf die Tasche auf einen der Sitzplätze und ließ sich in eine Bank etwas weiter weg zum Fenster Richtung Stadt hinfallen. „Nachts scheinen die Lichter der Laternen und bilden mit den Sternen am Himmel ein atemberaubendes Bild. Es fühlt sich an, als würde Calisteo ein Teil des Nachthimmels werden. Während tagsüber die Stadtfarben besonders intensiv unter der Sonne leuchten. Du hast die blauen Muster der Flüsse, die roten und gelben Ziegel und die schönen grünen Töne der Wälder, im Sommer zumindest. Aktuell überwiegt das Rot, Geld und Orange. Genau zu dieser Zeit jedoch, ist es, als würde die Schwelle zwischen diesen zwei Bildern verschwimmen. Verschaffe dir einen Blick, solange es noch hell ist.“
Noch immer dieser harte Unterton, der sie nervös machte.
Etienne trat schweigend zu den Fenstern. Calisteo tat sich vor ihr auf. Als Erstes sah sie die Schule. Es war das mächtigste Gebäude des neutralen Stadtteils. Die dunklen Umrisse der spitzen Türme hoben sich wunderschön von dem Abendhimmel ab, welcher am Horizont in einem intensiven Orange erstrahlte, nach oben hin Hellblau wurde und anschließend in einem Dunkelblau endete, welches nach und nach den Rest des Himmels einnahm. Sie konnte bereits einige Sterne ausmachen, welche schwach leuchteten.
Dann sah sie Tatinnes Haus. Es war eines der wenigen, hellen Gebäude, welches in einem kleinen Fleck aus Grün stand, dar in dem sonst so dicht besiedelten Stadtteil nicht häufig zu sehen war. Es fühlte sich beinahe fehl am Platz an.
Wie Raffael es gesagt hatte, zeichneten die Flüsse feine Linien durch Calisteo, verschwanden hinter den Gebäuden und tauchten woanders wieder auf. Insbesondere die roten Dächer in ihren eckigen Formen boten eine schöne Geometrie, welche erst von oben gänzlich betrachtet werden konnte.
Gilgians Bezirk tat sich hinter dem neutralen Stadtteil auf. Sie konnte den Park entdecken, welchen sie mit Meta aufgesucht hatte. Dann ging es leicht nach oben zum Haus der McClaines, welches wahrscheinlich immer noch von einem Geist besiedelt war. Es verschwand fast vollständig hinter den ganzen Bäumen. Auch bei Raffaels Provinz und Elias’ sah es ähnlich aus. Desto weiter sie von dem neutralen Boden weggingen, desto weniger dicht besiedelt war die Gegend. Hinter der ersten Mauer war es wahrscheinlich noch karger. Etienne erinnerte sich, von Tatinne gelernt zu haben, dass es immer das Ziel war, dass die Provinzen auf ihre eigene Art und Weise die Menschen im Kern schützen sollten. So sollten sie für verschiedene Aufgaben zuständig sein, jeder sollte seinen Beitrag dazu leisten, ein Leben in Calisteo zu ermöglichen. Am Ende des Tages sollten sie aber alle in den neutralen Teil zurückkehren, als Mitglieder einer Gemeinde, zu dessen Schutz und Wohlstand jeder etwas beigetragen hatte. Nun war das nicht mehr so. Je mehr sich die Menschen über die Generationen hinweg ihrer Provinz zugehörig gefühlt haben, desto mehr waren die Mitglieder der verschiedenen Provinzen auseinandergegangen. Einige Generationen später ging es nicht mehr um eine Einheit, es ging nicht mehr um Zusammenhalt. Die gegenseitige Würdigung der geleisteten Arbeit war verloren gegangen. An dessen Stelle war Missgunst getreten und die Fronten haben sich verhärtet, bis Menschen an die Macht gekommen waren, welche genau diese Missgunst genutzt haben, um sich Gehör zu verschaffen. Um ihre Macht zu legitimieren, haben sie einen Feind gebraucht. Dieser Feind konnte nicht außerhalb gefunden werden, da Calisteo viel zu weit abgelegen und viel zu klein war, um von Interesse zu sein. Also wurde der Feind bei sich gesucht.