Tumult brach aus, als eine Tür zu ihrer Rechten aufgestoßen wurde und drei Schüler herausfielen. Beinahe hätte einer von ihnen Etienne in seinem Fall mitgerissen, doch sie schaffte es, ihm auszuweichen. Als er mit dem Gesicht auf dem Boden landete, spürte sie das schlechte Gewissen. Sie hätte ihm helfen sollen, doch ihr erster Impuls war es, zurückzuweichen. Als er den Kopf hob und sie erschrocken anblickte, lächelte Etienne ihn an, „Alles in Ordnung?“
Er errötete und sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken. Die anderen beiden beeilten sich, ihm aufzuhelfen.
Miss Arvon trat an sie heran und Etienne konnte trotz des Lächelns der Frau sehen, wie der Zorn in ihren Augen aufleuchtete, „Sind wir schon wieder am Schwänzen, Keyen, Walo und Quinn?“
Die Jungen sprangen in verschiedene Richtungen davon. Sie drehten sich nicht mal um. Etienne blinzelte verwirrt über die schlagartige Flucht. Die Sekretärin schob wütend ihre Brille zurecht und atmete tief durch, „Verzeih diese Störung. Das ist leider öfters der Fall als es sein sollte. Nur kommen sie damit durch, weil ihre Noten passen. Auch wenn Keyen sehr knapp an der Grenze ist.“
Etienne lächelte verunsichert und folgte der Dame weiter durch die Flure, während diese sich über die Schüler ausließ. Sie vermerkte in ihrem Kopf, wie vieles von den Noten abhing. Sie würde sich sicherlich das eine oder andere erlauben können, zumindest für die Dauer ihres Aufenthalts.
„Voila!“, sagte Miss Arvon nach einer Weile, wieder glücklich und am Strahlen. Sie klopfte an die Tür, „Deine Klasse.“
Damit verließ sie Etienne, die ihr nachdenklich hinterherschaute. An einer Abzweigung des Ganges sah Etienne ehrfürchtig zu, wie die Hand der Frau zur Seite schellte und kräftig einen Jungen an seinem Ohr hinter der Wand hervorholte und ihn dann unbarmherzig mit sich zog. Es war einer von vorhin. Die schlagartige Flucht ergab auf einmal Sinn. Die Tür wurde aufgerissen und Etienne wurde von einer kräftigen Hand hineingezogen. Sie verlor vor Überraschung das Gleichgewicht, wurde jedoch von einem kräftigen Griff oben gehalten. Die große Person zog sie ins Zimmer. Neue Gesichter blickten ihr entgegen und zwei davon grinsten. Scarlett saß hinter Raffael und sah Etienne mit großen Augen an, welche anschließen, vor Erkenntnis noch größer wurden. Neben Raffael saß einer der Jungen, der ihr in der Halle vor die Füße gefallen war und Etienne fragte sich, ob das die Vorhut zum Ausspähen war.
Zu ihrer Freude waren ihr auch andere bekannt. Die Klasse war in vier Teile aufgeteilt. Etienne entdeckte schnell die zierliche, geisterhafte junge Frau, welche sie am Vortag in der Schneiderei gesehen hatte. Auch sie musterte Etienne neugierig, doch sobald sie ihren Blick bemerkte, senkte sie den ihren und duckte sich regelrecht hinter einem Riesen. Anders wusste Etienne ihn nicht zu beschreiben. Es fühlte sich an, als würde allein seine Präsenz den ganzen Raum erfüllen und das lag zum einen an seiner Größe, zum anderen an der Menge seiner Muskeln, welche durch seine Kleidung deutlich zu sehen waren. Er schien genervt zu sein, während er sie gelangweilt von oben bis unten musterte und dann den Blick abwandte. Etienne war sich sicher, er könnte Löcher in Wände schlagen. Sie saßen in der Nähe des Lehrerpultes im vorderen Teil der Klasse, nah an den Fenstern. Eine in sich geschlossene kleine Gruppe. Von diesen gab es noch zwei weitere und Anaki, der allein ganz hinten bei den Fenstern saß. Dieser Platz gehörte wohl den Neutralen, von denen keine Gefahr ausging und welche wahrscheinlich auch keine Gefahren zu fürchten hatten.
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Ebenfalls hinten, neben einer zweiten Tür, welche in das Klassenzimmer führte, saßen zwei der drei Menschen, die Etienne in der Buchhandlung gesehen hatte. Die junge Frau, mit den kurzen schwarzen Haaren und der junge Mann, welcher hinter ihnen an der Wand saß. Neben ihnen waren zwei weitere Schüler, die Etienne nicht bekannt vorkamen. Sie würde später herausfinden, wer von ihnen den Kontakt zum nächsten Stein hatte. Dass sie zwei von den drei potenziellen Menschen, die eine Verbindung zum Austreibungsrelikt haben könnten, in einer Klasse hatte, erleichterte ihr die Suche schon mal ungemein. Langsam stieg in ihr jedoch die Vermutung auf, das Tatinne dies bereits gewusst hatte.
Und dann war noch der Lehrer. Von all den Eindrücken, welche sie in der kurzen Zeit gesammelt hatte, verlangte er die größte Aufmerksamkeit von ihr. Er schlug ein wie eine Bombe, indem er zu reden anfing und Etienne diese kurze Zeit in einem schnellen und lautem Wortschwall verbracht hat, dass ihr die Ohren zu schmerzen anfingen. Selbst Catjill, der bisher friedlich an ihrer Schulter geschlafen hatte, war aufgewacht und sah mit angelegten Ohren unverwandt zu ihm. Am Ende der Rede, die sie beinahe zwanghaft ignoriert hatte, schlug ihr der Lehrer mit der flachen Hand auf den Rücken und sagte schallend lachend, „Stell dich vor!“
Etienne stolperte beinahe nach vorne, überrascht von der Kraft, die sie nicht erwartet hatte. Er war groß, hatte kurzes schwarzes Haar, sehr muskulös gebaut, auch wenn nicht so, wie der Riese im Raum. Dennoch spürte sie das Brennen seines Schlages noch immer zwischen den Schulterblättern. Er grinste sie mit seinen perfekten Zähnen an und überkreuzte die gebräunten Arme vor der Brust. Sein gelbes Shirt war zerknittert und seine Shorts war strahlend grün. Zu ihrer noch größeren Verwirrung war er barfuß. Etienne lächelte zurück und verspürte zum ersten Mal das Bedürfnis, zurückzuschlagen. Dann wischte sie alle Gefühle beiseite und lächelte ihr bestes Lächeln, „Mein Name ist Etienne. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich habe keine Hobbys. Aber als Nebenjob betreibe ich Exorzismus. Nett euch kennenzulernen!“
„Willkommen! Anscheinend haben wir ein neues jüngstes Küken“, sagte Cruz lachend, „Herzlichen Glückwunsch Elias, du wurdest abgelöst.“
Der junge Mann aus der Buchhandlung lächelte seinem Lehrer kurz zu. Etienne erkannte den Namen, als den des stellvertretenden Herrschers der ersten Provinz.
„Etienne also“, meinte ein anderer Junge bei Gilgian. Sie bemerkte einen wachsamen Blick von Raffael in deren Richtung. Das Mädchen neben Elias flüsterte ihm irgendetwas zu. Etienne spürte eine Spannung im Zimmer, die ihre eigene wiederspiegelte. Alle schienen etwas zu wissen, sie selbst konnte es jedoch nur erahnen. Etienne vermerkte weiter in ihrer imaginären Liste, dass sie ihre Tante später ausfragen sollte, was genau sie den jeweiligen Herrschern über ihre Vorhersehung gesagt hatte. Wenn sie, wie Raffael, Etienne als Gegenstand der Vorhersagung betrachten würde, könnte das ihren Zugang zu den Steinen einschränken. Ihre Tante hatte ihr nur oberflächlich davon erzählt und Etienne nahm dies nicht allzu ernst. Es konnte sich nicht um sie handeln. Sie musste nur noch Raffael und die Anderen davon überzeugen. Oder sich die Steine besorgen und verschwinden, dann konnte sie das mit dem Überzeugen überspringen, was ihr als die deutlich attraktivere Lösung vorkam.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Der Direktor stand tobend im Raum, brüllte sie alle an und gestikulierte wild mit den Armen. Etienne vernahm einige wütende Worte Richtung Elias und Raffael, anschließend wurden Papiere auf den Tisch des Lehrers geworfen. Cruz lachte und seine Hand berührte ihren Rücken. Er deute ihr, sich einen Platz herauszusuchen und schob sie Richtung Klasseninnenraum, während der Direktor weiter brüllte, irgendwas davon erzählte, dass die Schule ihm gehörte, dass sie sich im letzten Jahr zu viel bei ihm herausgenommen hatten. Doch die gespielt-ernsten Ausdrücke in den Gesichtern der Schüler zeigten ihr, dass sie nicht viel auf seine Worte gaben. Etienne kam der Gedanke, dass wenn sie sich auf die gute Seite des Direktors stellte, er sich sicherlich hier und da als eine gute Ressource gegen Raffael darstellen könnte. Sie ging an ihnen vorbei, zu dem leeren Platz neben Anaki. Etienne hatte die Sitzordnung bereits vermutet und sich fest vorgenommen, die neutrale Seite des Raumes zu besetzen. Schnurstracks ging sie zu Anaki und setzte sich neben ihn, wählte die Fensterseite.
„Vielen Dank für gestern“, flüsterte sie ihm zu, hoffte, dass er ihre leise Stimme durch das Toben des Direktors hören würde.
Er nickte ihr lächelnd zu, „Willkommen. Das wird wahrscheinlich eine Weile dauern, also nimm es als Anlass, dich an das Chaos zu gewöhnen.“
Etienne sah wieder nach vorne zur Klasse. Mittlerweile hatte Cruz die Zettel in die Hand genommen und sah sie durch. Einige schienen Briefe zu sein. Nach einigen Minuten wurde die Tür zugeworfen und es gab einige Momente Stille, welche sich im Vergleich zum Gebrüll von vorhin, als viel zu ruhig anfühlte.
Cruz fing an, lachend die Namen vorzulesen, welche auf den Briefen oder den Zetteln standen. Etienne verstand nicht ganz, was vor sich ging.
Sie besah sich die anderen Schüler an, im Versuch an deren Ausdrücken etwas über die Situation zu erfahren, und entdeckte einen wachsamen Blick von Raffael. Seine Wange in die Hand gestützt blickten seine Augen kalkulierend zu ihr und Etienne fühlte sich schlagartig bedroht. Doch dann verflog dieser Gesichtsausdruck, als er ihren Blick bemerkte, und er zwinkerte ihr grinsend zu. Von diesem gespielten Ausdruck würde sie sich jedoch nicht mehr täuschen lassen. Im Château hatte sie gedacht, er wäre ein zu leichtsinniger Abenteurer gewesen, welcher mit seinen Kameraden keine wirkliche Ahnung davon hatte, wo sie gelandet waren.
Raffael wandte sich dem Lehrer zu, der ihm einen Brief entgegenhielt. Er öffnete ihn und las ihn durch. Plötzlich lachte er schallend auf und blickte zu Elias, „Du willst einen Krieg erklären?“
Elias lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und hob eine Braue, „Wie kommst du darauf?“
„Was? Kneifst du jetzt?“, erwiderte Raffael. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es nach Elias.
Der Schüler, eine Reihe vor Elias, der eine große, runde Brille hatte, fing das zerknüllte Blatt ab.
Cruz lachte, „Wollt ihr euch wieder die Köpfe einschlagen?“
„Lass sie doch, haben wir zwei inkompetente Plagen weniger“, meinte Gilgian.
„Ich bin kompetenter als du und das in jeglicher Hinsicht“, sagte Raffael zu ihm.
Anaki lachte und flüsterte Etienne zu, „So läuft es jeden Tag ab.“
„Ah“, meinte Etienne, die solch eine Unordnung und Desorganisiertheit, gebunden mit mangelnder Disziplin, in einer Bildungseinrichtung gar nicht gewohnt war.