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Kontrahenten: Sich verewigen

„Es fühlt sich an, wie eine Ewigkeit, seit ich das letzte Mal hier war. Als Raffael und ich auf die Schule gekommen sind, haben wir uns mit den Anderen immer hierhin geschlichen. Wir wären beinahe rausgeschmissen worden. Das Gebäude steht schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Seit dem gibt es einen Wachmann“, erzählte sie und Etienne meinte, Stolz aus ihrer Stimme herauszuhören.

Irgendwann hatte Scarlett die Führung wieder übernommen. Schon bald entdeckten sie den gelangweilten großgewachsenen breiten Mann, welcher singend den Gang mit schleifenden Schritten entlang schlenderte. Scarlett führte Etienne zu einer unverschlossenen Tür in einem anderen Flur und sie versteckten sich dort, bis er an ihnen vorbeigegangen war. Dann schlugen sie den Weg weiter zum Dach an. Als sie oben ankamen, traf Etienne der kalte Wind. Am Horizont erstreckte sich eine dunkle Wolkenfront. Es sah nach einem Gewitter aus, welches vom Meer zu ihnen herübergetragen wurde.

Während Scarlett direkt einige Abdeckplanen ansteuerte, sah Etienne sich um. Eine dunkelbraune und kahle Bäumefront erstreckte sich vor ihr. Hinter sich konnte sie das Hauptgebäude der Schule ausmachen. Es war deutlich höher. Der Turm, welcher mit dem Gebäude vor Jahrzehnten noch eine andere Funktion hatte, erstreckte sich hoch über ihr. Von dort würde sie nicht nur ganz Calisteo sehen, sondern auch weit hinter die Stadt blicken können. Die Höhe übte eine Faszination auf sie aus und das nächste Mal wollte sie dorthin.

Etienne lief an der halbhohen Wand entlang, welche sie an ein Mosaik erinnerte, gefüllt mit der Geschichte der vergangenen Jahre. Nur dass es nicht vergleichbar war mit dem Gebilde in Vheruna, welches sich über die ganze Front des Parlamentsgebäudes erstreckte und die Geschichte von der dunklen Stunde bis hin zum ersten Licht erzählte. Hier, bei dieser selbstgemachten Miniaturausgabe, entdeckte Etienne verschiedene selbstgemalte Bilder. Mache waren fürchterlich schlampig, andere mit viel Mühe und Detail. Aber sie alle waren bunt und hoben sich besonders von der grauen Wand und des grauen Gefühls des stürmischen Tages ab. In den Wänden war flache Beleuchtung eingebaut. Auch diese war mit Sprüchen und Namen bekritzelt. Etienne entdeckte auch den ein oder anderen Wunsch. Jemand hatte geschrieben, dass er Künstler werden wollte, ein anderer, dass er nach Vheruna und dort eine Schneiderei aufmachen wollte. Jemand anderes hatte Familie aufgeschrieben. Ein weiterer wollte reich werden. Etienne entdeckte weitere Sätze, überflog sie alle. Von besonderen Begehren zu kleinen Wünschen, alles war dabei.

Ein gefundenes Fressen für einen Djinn, dachte sie lächelnd.

Zwischen den Sätzen konnte sie auch Namen ausmachen. Sie entdeckte sehr schnell Scarletts Namen, sowie den von Raffael. Sie sah auch Keyens Namen. Zu ihrer Überraschung sah sie jedoch auch welche, den sie nicht erwartet hatte. Einer davon war der von Elias. Auch Valtin war dabei. Etienne sah zu Scarlett, welche unter der dreckigen, grünen Planen eine Kiste herauszog und öffnete. Neugierig ging sie zu ihr und sah ihr über die Schulter. Es waren diverse Gegenstände in der Kiste zu finden. Etienne entdeckte einige Notizhefte, welche sehr alt aussahen. Sie sah ein Plüschtier und Nagellack, einige Filzstifte.

„Was ist das?“, fragte sie und Scarlett zuckte zusammen. Etienne sah sie entschuldigend an.

„Habe ich mir über die Jahre hinweg zusammengesammelt.“

Sie hielt Etienne grinsend einen Filzstift hin und sprach weiter, „Willst du dich auch verewigen?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Ich passe.“

Scarlett lachte, „Ah komm. Bisher haben sich fast alle überreden lassen. Du brichst eine richtig unwichtige Tradition. Außerdem könnte ich damit angeben, dass ein künftiger Herrscher mit mir hier oben war. Ganz allein. Die werden denken, ich wäre ganz wichtig.“

Etienne hob abwehrend die Hand, „Nein.“

Scarlett warf den Stift wieder in die Kiste, welcher klackernd von der Ecke zurücksprang und zwischen den Heften landete.

„Vielleicht änderst du ja irgendwann deine Meinung.“

„Hast du vor mich öfters hierhin zu bringen?“, fragte sie und kalter Wind wehte beinahe ihre Worte davon.

Scarlett setzte sich anders hin und zog die Kiste auf ihren Schoß, „So wie es aussieht, ja. Ich werde mal die Tage über schauen, inwiefern Halil vorhat, sich dich herauszupicken. Wenn er es auf dich abgesehen hat, dann werden wir uns öfters hier wiederfinden.“

Etienne unterdrückte es, das Gesicht zu verziehen. Sie konnte ihre Zeit nicht damit verschwenden, sich hier oben zu verstecken. Sie musste herausfinden, wie sie mit Meng oder Elias in Kontakt treten konnte.

„Habt ihr eure Namen auf die Lichter geschrieben.“

Scarlett nickte, während sie ein kleines, buntes Fläschchen herausholte und neben sich stellte, „Nachts haben hier früher die Lampen geleuchtet. Manchmal macht die Stadt das noch. Zum Neujahrsfest lassen wir sie aufleuchten. Dann heben sich die Namen vor dem Licht richtig schön ab. Vor allem, wenn es schneit, sieht es traumhaft aus. Warst du schon mal beim Fest?“

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Etienne schüttelte den Kopf, „Nein. So lange werde ich aber auch nicht bleiben.“

Scarletts Augen wanderten zu ihr und sie grinste, „Wir werden sehen. Falls aber doch, dann schreibst du deinen Namen auf.“

Etienne lächelte und antwortete ihr nicht. Scarlett wartete auch keine Antwort ab, sondern wandte sich wieder ihrer Kiste zu.

Die Notizbücher lagen achtlos neben ihr. Etienne war neugierig, was sie drin lesen würde.

Scarletts Handy klingelte erneut. Sie schnalzte mit der Zunge und sah wieder auf das Display, „Er will aber auch nicht aufgeben.“

Sie drückte ihn erneut weg und schrieb einen Text.

„Also, Etienne“, fing Scarlett zu sprechen an und warf ihr einen neugierigen Blick zu, „Wie findest du es hier in Calisteo bisher?“

„Ganz nett für ein paar Tage, aber ich persönlich würde mich hier nicht niederlassen.“

„Wie schade“, sagte Scarlett, „dabei ist es eigentlich eine solch ruhige kleine Stadt. Zumindest im Vergleich zu den anderen. Hab ich gehört.“

Sie kramte ein weiteres, diesmal grünes, Fläschchen aus der Kiste und legte es zur Seite neben das braune.

„Warst du schon mal in einer anderen Stadt?“, fragte Etienne. Sie zweifelte es an.

„Nein“, sagte Scarlett kopfschüttelnd, „Aber ich will irgendwann nach Vheruna. Es war schon immer mein Traum, dort zu leben.“

Etienne lächelte. Wenn Scarlett vorhätte, in Vheruna in die Politik einzusteigen, dann konnte sie sich auf was gefasst machen. Vheruna war politisch gesehen der Inbegriff eines Schlachtfelds. Es war eine große, wohlhabende Stadt und wie Calisteo, war sie neutral. Damals, als die alte Welt zusammengebrochen war, war sie der Zufluchtsort für all die Menschen, die versucht haben die Monster zu überleben. Blue Moon hat über sie geherrscht, bevor sie im Angesicht der Spaltung zur vollständigen Neutralität übergegangen und Blue Moon zurückgetreten war. Aber die historische und politische Relevanz von Vheruna war noch immer so immens, dass die anderen Familien versuchten, Einfluss auszuüben. Vor allem da der Rat, welcher dem Herrscher unterstand, in regelmäßigen Abständen neu gewählt wurde. Es ab viele offene und verborgene Kämpfe. Den Überblick über all das Geschehen zu behalten, schien beinahe unmöglich. Dennoch, schien es dem aktuell amtierenden Herrscher zu gelingen.

„Wird schwer nach Vheruna zu kommen, wenn du eine Provinz zu regieren hast“, sagte Etienne.

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Wird schon klappen. Vor allem, wenn wir sowieso bald abgelöst werden.“

„Was willst du dort machen?“, fragte Etienne weiter nach, „Schneiderin werden?“

Scarlett blickte überrascht zu ihr hoch, „Woher weißt du das?“

Etienne lächelte, „Habe nur geraten.“

Scarlett sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und Etienne merkte, wie sie nachdachte. Nach einem Moment sah sie zu der Wand hinter Etienne und dann lächelte sie, „Geraten? Hätte nicht gedacht, dass du dieses alte Gekritzel siehst. Das steht da schon seit Jahren. Aber du hast recht. Ich habe tatsächlich vor, eine Schneiderei zu eröffnen. Ich lerne bei Alberto das Handwerk, schon seit Jahren. Und ich hoffe, dass ich es für den Rest meines Lebens machen kann.“

Scarletts Augen schienen zu leuchten und Etienne trat unangenehm von einem Fuß auf den anderen. Sie verstand nicht, wieso Menschen eine Obsession über einfaches Handwerk ausbildeten.

„Dieser mürrische Mann hat einen Schüler?“, fragte sie dann, mehr gezwungen, irgendetwas zu erwidern, als wirklich eine Antwort zu wollen.

Scarlett lachte, „Du hast ja gar keine Ahnung, was ich alles durchmachen musste, um ihn zu überzeugen, mich zu unterrichten. Ich hab zunächst nur bei ihm gearbeitet und das Atelier sauber gehalten. Und dann bin ich ihm jahrelang bettelnd hinterhergelaufen. Er konnte mich nicht rausschmeißen, weil hinter diesem grummeligen alten Mann ein weiches Herz steckt und er es niemals über sich gebracht hätte, eine Weise vor die Tür zu setzen, dessen Adoptivfamilie noch dazu nicht sonderlich wohlhabend war. Also hat er sich das angehört, bis er aufgegeben hat.“

Etienne hätte über die freche Art und Weise gelacht, wenn Scarlett sie nicht plötzlich erwartungsvoll angeschaut hätte.