Als sie am Eingangstor zu Tatinnes Haus ankam, drehte sie sich nach Raffael um. Sie wusste nicht, wo es hingehen sollte.
Er kam ihr hinterher und zog die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Dann bedachte er den Ring an seinem Finger. Dieser schien ähnlich dem Anderen zu sein, die sie bisher bei ihm gesehen hatte, doch die Magie, die sie von ihm verspürte, fühlte sich etwas anders an.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie ihn misstrauisch. Etienne konnte ihren Kopf nicht abschalten. Zu sehr war sie noch davon verstört, wie der Fluch im Klassenzimmer auf sie gewartet hat und inwieweit die zu vermutende Person, die den Fluch gezeichnet hat, mit Raffael zusammenarbeitete. Vielleicht war es nur Zufall, dass Bianca Dinge wusste und dass Raffael die naheliegendste Person war, welche ihr von diesen Dingen erzählen konnte. Aber unter diesen Umständen durfte sie so etwas nicht als Zufall abtun.
Raffael sah zu ihr auf. „In die Stadt.“
„Und wofür brauchst du das?“, fragte sie und deutete auf den Ring.
Er sah kurz zu diesem und dann wieder zu ihr, „Der ist nur für etwas Privatsphäre da. Was glaubst du denn, wofür ich ihn brauche?“
Sie gab ein gleichgültiges Geräusch von sich und trat auf die Hauptstraße, weg von der Abbiegung, welche zur Schule führen sollte. Raffael war in letzter Zeit dazu übergegangen, ihr Fragen zu stellen und dabei so zu tun, als würde sie ganz genau wissen, worum es ging. Sie wusste, dass er damit eine Antwort aus ihr herauslocken wollte und ihr somit die Möglichkeit nicht gab, so zu tun, als würde sie keine Ahnung haben. Etienne hatte nur noch nicht entschieden, ob sie dennoch so tun sollte oder ob sie ihm einfach keine Antwort geben sollte. Die Magie des Ringes, zumindest den Mustern nach, welche sie durch ihren kurzen Blick in den zweiten Raum erhascht hatte, würde der Ring ähnlich funktionieren wie die Magie ihres Djinns. Wie eine Tarnung, welche ihn davor schützen sollte, erkannt zu werden. So ihre Vermutung. Was sie aber sicher wusste, war, dass auch dieses Artefakt sehr teuer sein musste. Er musste jemanden haben, der sie ihm herstellte. Und es würde sich lohnen herauszufinden, wer das war und von dort aus weiter zu schauen, ob diese Person sich nur den Artefakten widmete oder ob sie noch andere Webkünste der Magie beherrschte. Vielleicht Flüche? Ein Schauer ging ihr durch den Körper. Die kalte Luft des Tages gab ihr ebenfalls kein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, genauso grau wie ihre Gedanken.
„Woher hast du sie?“, fragte sie Raffael in einem schwachen Versuch, Antworten zu bekommen.
Sein Lachen erklang hinter ihr und mischte sich mit dem pfeifenden Wind, welcher entlang der Hauptstraße ihnen entgegenwehte. „Sicherlich glaubst du nicht, dass ich das beantworte?“
„Nein, das tue ich nicht.“
Vielleicht sollte sie Tatinne fragen? Sie wollte ihre Tante aber nicht zu unnötig in das Ganze hineinziehen.
Er zog an der Jacke, die Tatinne ihr gegeben hatte. „Hier lang.“
„Wann bekomme ich meine Jacke wieder?“, fragte sie.
„Frierst du?“, fragte er zurück.
„Noch nicht.“
Ein prüfender Blick seinerseits und Etienne unterdrückte es, sich unwohl zu winden. Er hatte bisher noch nicht darauf geachtet, doch nun hatte sie ihn darauf aufmerksam gemacht.
„Die sieht nicht aus, als wäre sie für diese Jahreszeit.“
„Tatinne ist der Meinung, dass sie gut ist.“
„In welchem Sinne?“, fragte er zurück.
Sie verzog das Gesicht, weil er ihre ausweichende Antwort nicht akzeptierte und ignorierte seine Frage. Immerhin drängte er sie nicht zu einer Antwort.
Als sie durch die Straßen gingen, stellte Etienne fest, dass hier viel gebaut wurde. Hölzerne Stände wurden entlang der Seite des Flusses aufgebaut. Sie wurden mit Planen bedeckt. Wahrscheinlich endete der Tag auch für diese Menschen und sie bereiteten sich auf den Heimweg vor. Es gab keine Blumen mehr entlang der hölzernen Zäune, welche den Weg vom Kanal trennten. In wenigen Tagen haben der Herbst und der anbrechende Winter die letzten Reste des Sommers weggefegt. Gold, Grün und Orange waren gewichen dem Silber und dem Braun. An manchen Stellen konnte sie ansetzenden Frost erkennen, welcher in seiner eigenen natürlichen Form von Magie Muster zeichnete. Aber das Wasser strahlte noch immer so blau, wie sie es das letzte Mal gesehen hatte, als sie mit Tatinne die vollen Straßen entlang spaziert war. Es strahlte unter den letzten Sonnenstrahlen, brachte etwas Farbe in die Stadt, wie eine Verheißung auf etwas Schönes und Warmes.
„Wenn wir uns jetzt beeilen, kommen wir vielleicht noch pünktlich an“, sagte Raffael und beschleunigte seinen Schritt. Die Sonne war schon dabei, am Horizont zu versinken. Es würde noch vielleicht eine halbe Stunde hell bleiben und Etienne war sich nicht sicher, ob sie wirklich mit ihm irgendwohin gehen wollte, während er einen Ring anhatte, welcher seine Person verbarg und es bald dunkel auf den Straßen Calisteos wurde. Auch wenn ihr die Dunkelheit deutlich lieber war als die Helligkeit. Es wurde durch das Radio durchgesagt, dass erneut Regen in der Nacht die Stadt treffen sollte, was wohl gar nicht so ungewöhnlich für diese Gegend war. Vor allem über das Meer wurden viele Wolken über Calisteo geweht. Etienne hoffte nur, bis dahin besser ausgerüstet zu sein, egal, was kommen sollte.
„Hoffentlich zu meiner Jacke, weil es bald regnet und du sicherlich nicht willst, dass ich im Regen stehe“, meinte sie, hoffte, dass er ihr etwas mehr erzählen würde.
Raffael grinste unter seiner Kapuze zu ihr zurück und machte keine Anstalt, viel von sich zu geben. „Keine Sorge, ich habe das gut verplant.“
Auf einmal fuhr seine Hand nach oben und er zeigte auf ein altes Gebäude inmitten eines Platzes, an welchem sie vorbeiliefen. „Das war einst das Hauptgebäude der Stadtgründer.“
„Ah wirklich?“, fragte sie überrumpelt. Er fing an, weiterzuerzählen, beinahe schon zu überschwänglich. Die Geschichte handelte davon, wie es neben dem heutigen Schulgebäude das Erste war, was nicht aus den Überresten der alten Welt gebaut wurde. Die Stadtgründer haben die Umgebung gesichert. Es waren mächtige Menschen gewesen, welche Stabilität in die Region gebracht haben. Stabilität hat zur Folge gehabt, dass Ressourcen in weitreichenden Gebieten abgebaut werden konnten. So haben die Menschen angefangen, Prozesse für den Abbau von Kalkstein zu entwickeln und Zement hergestellt, welcher für einige Gebäude genutzt wurde, zu denen auch das Gebäude gehörte, auf welches er gedeutet hatte. Da auch weißer Ton gefunden wurde, wurden die Gebäude hauptsächlich aus Ziegelsteinen gebaut, viele Straßen in der Hauptstadt aus Zement und weiterer Kalkstein wurde für Fenster verwendet. Das, was den Menschen aber immer gefehlt hat, war ein Zugang zu weiteren Metallen, wie Eisen, Kupfer und Zinn, oder auch zu Ressourcen wie Kohle. Viele Mineralien wurden in etwas weiter entfernten Gebieten vermutet. Zugehörige Minen der Alten Welt waren hierzu auch schon bekannt. Etiennes Gedanken waren hier zu der Karte zurückgewandert, welche sie in Metas altem Haus gesehen hatte. Raffael erzählte ihr währenddessen weiter, dass diese Gebiete nicht befreit werden konnten, da teilweise eine Entfernung von über zwei Tagen zurückgelegt werden musste und an eine Stadt der Alten Welt angrenzte. Somit wurde dieses Vorhaben immer weiter und weiter nach hinten verschoben, bis die internen Konflikte der Stadt es gänzlich in Vergessenheit geraten ließen. Heute holte sich Calisteo die notwendigen Ressourcen größtenteils über Handel, was teilweise auf viele Probleme aufgrund der Entfernung zu den nächstgelegenen Städten stieß. Nicht zuletzt, weil die Wüste Rhina, welche es zu überqueren galt, um Calisteo zu erreichen, viele Gefahren barg. Aber Eisenoxide wurden früher in großen Mengen gegen Glas getauscht. Diese Verbindungen wurden anschließend als Farbpigmente genutzt, weswegen viele Dächer und auch manche Gebäude nicht weiß waren, wie der Ton, den sie aus der Gegend gewonnen haben, sondern hauptsächlich rot-orange, manchmal sogar in ganz anderen Farben. Die Produktion von Eisen hatte sich bei ihnen jedoch nie eingestellt. Es lohnte sich mehr, Eisen als Fertigprodukt zu transportieren, als tonnenweise Eisenoxide, welche sie dann erst bearbeiten mussten. Alles an Metallen, was sie in Calisteo hatten, mussten sie einkaufen. Der Aufbau von manchen Maschinen, wie denen, die sie zum Farmen in seiner Provinz nutzten, wurde erst über Jahre hinweg aufgebaut.
A case of literary theft: this tale is not rightfully on Amazon; if you see it, report the violation.
Er hörte nicht auf zu sprechen, während sie ihm durch die Straßen folgte und still zuhörte. Sie wollte Fragen stellen, denn das Vorgehen seiner Welt hörte sich teilweise so anders von dem an, als was sie kennengelernt hatte. Beinahe schon, als hätten die Menschen hier alles mit Hand gebaut und nicht mit Magie, wie es üblich der Fall war. Sicherlich mussten sie doch wenigstens die Stadtmauer und die darin eingelassenen drei Gebäude mithilfe von Magie gestaltet haben?
Am Rand merkte Etienne, dass die zunächst vollen Straßen leerer und leerer wurden, desto weiter sie sich von dem inneren Bereich der Stadt entfernten. Bis ihr auf einen Schlag auffiel, dass sie nicht mehr im neutralen Bezirk sein konnten. Sie schreckte aus dem Zuhören auf.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie ihn misstrauisch, während sie über die große, breite Brücke gingen. Die hohen Wände der inneren Stadtmauer erhoben sich langsam über ihnen und ließen sie im kalten Schatten laufen. Hier fühlte sich der Wind besonders unangenehm an, das schon eine Weile, doch sie hatte es nicht gemerkt, zu sehr war sie konzentriert darauf gewesen, seine Stimme durch den Wind zu hören.
„Da hoch“, sagte er und zeigte auf einen kleinen Turm, einen von vielen, die in einem regelmäßigen Abstand an der Wehrmauer entlanggingen. Kaum hatte er ihre Aufmerksamkeit auf die Mauer gelenkt, erzählte er weiter, wie auch alle Häuser der Provinzherrscher ein Teil dieser Mauer waren. Der zweite Schutz, der anfiel, sollte Calisteo angegriffen werden. So haben es die Stadtgründer geplant und auch wenn es von den Herrschern nach ihnen nicht immer gewürdigt wurde, blieben die mächtigen Häuser immer ein kaum zu überwindbarer Teil der Mauer. Sie waren verbunden über den Wehrgang und deckten jeden Weg ab, der von außerhalb zu Calisteo führte. Mittlerweile wurden die Wehrgänge streng kontrolliert, um mögliche Überfälle auf Provinzherrscher zu unterbinden. Diese innere Mauer war zum Schutz der dicht besiedelten Wohngegend gedacht. Sie war deutlich höher als die äußere, welche kaum genutzt wurde, geschweige denn gewartet. Heutzutage diente sie mehr dazu, den bewohnten Teil von Calisteo zu markieren.
„Was sollen wir da oben?“, fragte sie und konnte nicht anders, als sich jammernd anzuhören.
Er lachte laut und deutete dann auf ein Haus am Ende der Straße. „Vorher gehen wir dort vorbei.“
Das Haus sah nach nichts Besonderem aus. Die Wandfarbe war teilweise abgeblättert. Die Fassade sah an manchen Stellen etwas schwarz aus. Etienne sah sich misstrauisch um. Sie waren wahrscheinlich eine halbe Stunde gelaufen. Der neutrale Bezirk war nicht sehr groß. Nun waren sie in der Nähe der zweiten Mauer und im Raffaels Bezirk. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie hier gelandet waren. Aber sie rechnete dennoch damit, dass seine Untergebenen sie zu überwältigen versuchen würden. Deswegen hatte ihren Djinn zu Hause gelassen. Wenn das passieren würde, dann würde sie sich darum kümmern und der kleine Kater würde außerhalb eines möglichen Einflusses von ihm bleiben. Sie konnte es nicht riskieren, den Djinn an Raffael zu verlieren und bevor sie ihm diesen Gedanken geben würde, würde sie den Djinn möglichst aus seinem Blickfeld halten.
Sie traten zu dem Haus. Die Lichter schienen ausgeschaltet zu sein und Etienne stellte sich auf einmal die Frage, ob auch dieses Haus von Elektrizität bedient wurde oder von Lichtkugeln, welche nur etwas Energie benötigten, um stundenlang zu leuchten. Sie waren nicht leicht herzustellen, aber Elektrizität doch auch nicht? Tatinnes Haus war mit letzterem bedient, genauso wie die Schule und die steinernen Laternen, welche entlang der Straßen aufgestellt waren.
Raffaels abruptes, lautes Klopfen an der Tür erschreckte sie. Es gab Menschen, die an ihnen vorbeiliefen. Niemand schien besorgniserregend zu sein.
„Warte hier“, sagte er zu ihr. Dann klopfte er erneut sehr stark und nach einem kurzen Moment hörte Etienne Gerümpel und lautes Fluchen aus dem kleinen Haus. Die Tür wurde aufgerissen und ein älterer Mann trat ihm entgegen.
„Aus welchem Grund nervst du mich schon wieder?“, fragte er in einer barschen Stimme.
Raffaels Stimme war fest und eindringlich, wenn auch noch immer mit dem belustigten Unterton, der ihn stetig begleitete, „Guten Abend. Ich hab dich auch vermisst. Lass uns nicht allzu lange hier aufhalten.“
Er trat hinein und die Tür fiel zu. Etienne blieb draußen stehen und sah sich um, während sie im Haus die Stimmen vernahm. Der Mann war nicht glücklich über den Besuch und seine barsche Art, mit Raffael umzugehen, überraschte sie.
Sie lehnte sich in den Schatten der Wand. Die Steine fühlten sich kalt durch Tatinnes Jacke an und es war beinahe schon erleichternd gegen den Schmerz in der Schulter. Bis die Kälte unangenehm wurde und ihre Muskeln sich wieder anspannten.
Die Wand war bewachsen mit Flechten und die Röte des Ziegels, gemischt mit den dunklen Stellen, gaben mit dem Grün der Pflanzen einen fast schon verwunschenen Eindruck. Es roch nach nassem Stein, was wahrscheinlich auf das leichte Nieseln am Mittag zurückzuführen war. Der Geruch vermischte sich mit dem von feuchtem Staub unter ihren Füßen. Für einen kurzen Moment war es friedlich und Etienne wünschte sich, sie könnte wieder durch die Berge reisen, das nasse Gras riechen, die Stille des Waldes hören und den Ausblick genießen.
Die Tür wurde wieder geöffnet und Raffael trat hinaus. Er sah etwas genervt aus und verzog kurz das Gesicht, als die Tür fest hinter ihm ins Schloss fiel. Der laute Knall hallte durch die Straße.
„Und das ist der Grund, weshalb dich keiner besucht!“, rief er zu ihm durch.
„Ha!“, hörte sie von der anderen Seite und dann Schritte, welche sich entfernten.
Unsicher, was sie aus dieser Beobachtung machen sollte, wartete sie ab, bis er sich wieder an sie wandte.
„Auf gehts, Beeilung!“, sagte er und sie beeilte sich, ihm hinterherzukommen, als er schnellen Schrittes losging. Eine große Tasche lag in seiner Hand und Etienne wollte ihn fragen, wie Calisteo es mit den Stoffen machte, hielt ihre Neugierde jedoch zurück. Es waren nicht die Fragen, mit denen sie sich jetzt beschäftigen sollte.
„Ich dachte, du hättest gesagt, es gäbe Wachen an der Mauer“, meinte sie, als sie ihn aufholte.
„Die gibt es, aber wir sind an dieser schon vorbei“, sagte er.
„Wirklich?“, fragte sie überrascht und rief sich die letzten Momente in den Kopf, „Der Mann im Haus?“
Er grinste sie an und holte dann einen Schlüssel aus seiner Jackentasche hervor, „Natürlich kann ich dir das nicht beantworten. Ich muss meine Menschen schützen. So ätzend manche von denen auch sind.“
„Was wollen wir dort oben?“, fragte sie weiter. Diese Frage konnte er ihr beantworten.
„Du hattest noch nicht die Chance, viel von der Stadt zu sehen“, sagte er, während er den Schlüssel in das Schloss einer Tür neben einem Gittertor steckte und ihn drehte, „Also werde ich dir eine kleine Einführung geben.“
„Es gibt nicht wirklich etwas, was mich interessiert“, sagte sie und folgte ihm durch die Tür. War das sein Plan? Ihr etwas zu erzählen und davon auszugehen, dass sie die Stadt schlagartig gut genug mögen würde, um in ihr zu leben? Nicht, dass es nicht interessant war, aber doch war es auch nicht Grund genug, sesshaft zu werden.
Dennoch gab es eine Sache, die sie hierbei wirklich reizte. Das war die Höhe der Mauer und der Ausblick, welcher sich ihr dabei bieten würde. Etienne wusste nicht, wann sie das letzte Mal so weit oben war, um die Weite der Welt sehen zu können. Im Château der la Fortune hatte sie nicht die Zeit dazu gehabt.
Raffael verschwand beinahe in der allumfassenden Dunkelheit, als er durch die Tür trat und zögernd folgte sie ihm.