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Kontrahenten: Grenzen

Der Tag ging ruhig und ereignislos voran. Als sie die Bibliothek verlassen hatten, machten sie sich auf den Weg in die Klasse. Betrübt hatte sie festgestellt, dass noch immer einige Schüler fehlten. Neben Gilgian und Meta, waren, Anaki, Elias und Meng nicht anwesend. Vor allem im Hinblick auf die letzten beiden störte es Etienne, denn auch wenn sie aktuell keine Zeit hatte den Kontakt richtig aufzunehmen, wollte sie doch wenigstens die Chance dazu haben. Wenn sie jedoch nicht da waren, war ihr selbst das verwehrt.

Doch obwohl der Tag ziemlich ereignislos war, hatte sie dennoch eine Veränderung gespürt. Als sie mit Raffael in ihre Klasse gegangen war, hatte sie Halil gemerkt, welcher sie misstrauisch aus der Entfernung betrachtet hatte. Seinen Blick hatte sie sofort gespürt, denn er war gefüllt mit Misstrauen und Verachtung, anders als scheinbar bei Braad, welchen sie nicht hat entdecken können. Lag das daran, dass er gut versteckt war oder war er wirklich weg? Sie hatte eine Gruppe von wunderschönen Frauen in einem der Gänge ausmachen können, welche in ihre Richtung getuschelt haben. Mallory war ebenfalls dort anwesend und schien im Gegensatz zu den anderen Frauen wie ein junges unreifes Mädchen.

Die anderen Schüler, schienen Etienne jedoch dieselbe Beachtung zu schenken, wie die Tage zuvor. Ab und zu neugierige Blicke auf die Neue, aber nichts, was besorgniserregend war. Scarlett war mit Crom auf sie zugegangen und Raffael einen mitleidigen, aber dennoch belustigten Blick geschenkt.

Etienne hatte O’Donnel ausgehalten und wie Raffael es vorhergesagt hatte, war sie darauf aus, Etienne ihren Aufenthalt in der Klasse so schlimm wie nur möglich zu gestalten. Sie hatte es aber ausgehalten und noch besser, sie hatte ihr kooperativ einige Aufgaben richtig beantwortet. Es schien sie jedoch nicht zu besänftigen.

Etienne hatte die letzten zwei Stunden damit verbracht, dem langweiligen Lehrer zuzuhören. Sie hatte ihn in den letzten Tagen schon schnell zu ignorieren gelernt. So schien es auch der Rest der Klasse zu machen und es schien ihm auch nichts auszumachen.

Etienne blickte aus dem Fenster und spürte erneut ein dringliches Gefühl nach Handlung. Beinahe alles an diesem Tag hatte sich wie eine Zeitverschwendung angefühlt. Aber sie konnte die Zeit nutzen, um ihre Gedanken zu sortieren und einen Plan zu entwickeln, wie sie morgen in der Frühe mit Halil umgehen würde. Ziel war es nur noch, dass sie für heute Abend und für morgen früh keinen Raffael oder Scarlett oder sonst jemanden um sich herum hatte, der ihr zu viele Fragen stellen würde. Und als die letzten Stunden vergingen, wusste sie, wie sie vorgehen würde.

Während alle verschwanden, schlenderte Scarlett zu ihr. Raffael blieb noch etwas sitzen und schrieb etwas in sein Handy.

„Du hast den Lack bereits entfernt“, stellte Scarlett belustigt fest.

Etienne lächelte zu ihr hinauf. „Tatinne hat es nicht gutheißen können, dass es nur eine Hand war.“

Es war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht gelogen.

Scarlett lachte und Raffael trat seufzend zu ihnen. „Lasst uns gehen. Ich kanns kaum erwarten nach Hause zu kommen.“

„Wenn wir noch eine Stunde warten, könnte Crom dazu kommen.“

Etienne wunderte sich kurz über die Aussage, bis ihr klar wurde, dass er wahrscheinlich länger hatte. Sie legte ihre Materialien zusammen und blickte zu den Beiden. Scarlett strahlte, während sie das sagte, und betrachtete ihre Nägel, welche heute eine andere Farbe hatten, als am Vortag. Ganz anders, als Raffael, welcher komplett ausgelaugt schien. Doch sie bemerkte, wie ein sonderbarer Blick von ihm in ihre Richtung fiel und wusste nicht so recht, wie sie ihn deuten sollte.

„Sicherlich wirst du einen Abend auf ihn verzichten können“, sagte er und Etienne konnte hören, dass er etwas genervt war.

„Du bist nur neidisch auf mich“, erwiderte Scarlett.

Er schnaubte grinsend und sah dann zu Etienne, „Ich hoffe, du hast nicht auch vor, weiter hier herumzulungern.“

Etienne blickte wieder auf ihre Unterlagen und hoffte, dass ihre neue Taktik funktionieren würde. Sie wusste nun, dass sie ihn mit Halbwahrheiten und Ablenkungen nicht loswerden würde. Ihre ernste Seite wollte sie ihm nicht zeigen, denn das würde bedeutet, dass er sie künftig etwas besser kennen würde. Das musste sie aber jetzt in Kauf nehmen.

„Ich habe gleich etwas vor. Wir werden hier wohl auseinandergehen.“

Sowohl Scarlett als auch Raffael schnaubten und Etienne musste beinahe lächeln. Diese beinahe gleiche Reaktion belustigte sie mehr, als dass es sie beleidige. Was sie wiederum störte, denn es zeigte ihr, dass sie diese beiden Plagen zu mögen anfing.

„Was für einen Ärger hast du diesmal vor?“, fragte Scarlett.

„Ich habe nie vor, Ärger zu machen.“

„Das glaube ich dir, aber vielleicht solltest du, um zu vermeiden, in noch mehr hineinzuschlittern, einfach nach Hause gehen“, schlug Raffael vor.

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Etienne behielt ihr Lächeln aufrecht und vermied es, ihn anzusehen. Sie wusste ganz genau, dass er sie vorsichtig beobachten würde, um seine eigenen Schlüsse von der Situation ziehen zu können. Damit würde sie nun jedoch eher umgehen können. Sie brauchte nur noch einen Moment, um sich zu wappnen. Also legte sie ihre Unterlagen in die Tasche und verschloss diese. Dann legte sie ihre Hände übereinander auf den Tisch und blickte lächelnd in ihre Gesichter, „Ist das ein Befehl?“

„Was?“, fragte Scarlett verwirrt.

Raffael verdrehte die Augen. „Fang jetzt nicht so an.“

Etienne ignorierte seine Worte. „Wenn das ein Befehl ist, dann müsst ihr mit Tatinne vorher besprechen, inwiefern das auf mich zutrifft. Soweit ich aber weiß, könnt ihr niemanden aus der neutralen Provinz befehligen, also schulde ich euch keine Antwort.“

„Oh um Himmels willen“, rief Scarlett aus, und setzte sich an einen Tisch weiter hinten, „Macht das unter euch aus.“

Etienne sah zu Raffael. „Also?“

Sein Blick war zunächst müde und schien kurz genauso resigniert zu sein, wie am Morgen, als sie ihm von ihrer Konfrontation mit Halil erzählt hatte. Doch dann bekam er etwas Herausforderndes und sie war kurz in Versuchung darauf einzugehen.

„Keine Befehle. Aber ich könnte zufällig dasselbe vorhaben.“

Sie zwang sich, nicht darauf einzugehen. Diesmal durfte sie das nicht, auch wenn die Versuchung noch so groß war.

„Nein“, sagte sie. Bis hierhin und nicht weiter, für ihn und für sich. Sie hatte jedoch nicht das Gefühl, dass sie das aussprechen musste. Sein Ausdruck änderte sich, als er registrierte, dass sie seine Herausforderung nicht annahm. Er erwiderte stur ihren Blick und schien nachzudenken. Oder sich mit der Situation abzufinden. Oder vielleicht überlegte er sich auch, wie er damit durchkommen könnte, diese Grenze zu übertreten? Sie wünschte sich beinahe, dass es letzteres wäre, denn dann würde es ihr jede Berechtigung geben, rücksichtsloser mit ihm umzugehen. Vielleicht würde sie auch kein Mitleid mehr für ihn empfinden, obwohl sie gar nichts über die Situation wusste, die ihm zu schaffen gemacht hatte.

„Also wenn Mallory euch mit diesem Blick erwischt hat, wundert es mich nicht, dass sie flennend zu Bianca gerannt ist“, meldete sich Scarlett zu Wort.

Etienne blickte verwirrt zu ihr, überrascht von der Störung, die sie nicht erwartet hatte. Sie hatte Scarlett bereits ausgeblendet, „Was meinst du damit?“

Raffael ignorierte Scarlett und seufzte einlenkend. „Gut. Erledige, was du erledigen musst. Ich brauche dich aber noch für einen Moment.“

Sie sah wider zu ihm, „Was brauchst du?“

Er nickte in Scarletts Richtung, welche daraufhin misstrauisch wieder aufstand, „Was?“

Etienne war unglücklich mit seiner Bitte. Sie wollte Scarlett nicht die Bilder zeigen. Am liebsten wäre es ihr, wenn diese nichts über die Existenz des Handys wusste. Aber sie hatte bereits vermutet, dass es darauf hinauslaufen würde.

„Na gut“, sagte sie seufzend und holte ein Blatt Papier und einen Stift hervor, „Aber nur, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass es nicht weitererzählt wird.“

Sie sah zu Scarlett, welche trotzig das Kinn hob.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Raffael und sah dann ebenfalls zu ihr, „Ich werde dir später alles genau erklären.“

Scarlett zögerte, nickte dann und Etienne machte sich an die Arbeit.

Raffael beschrieb währenddessen den groben Umriss über das Geschehen in der Bibliothek.

Als Etienne das Handy auf das Blatt Papier legte, stürmte Scarlett regelrecht auf sie zu und sah sich den Inhalt an.

„Ich kann’s nicht fassen“, sagte sie, „was für eine schmierige kleine Ratte.“

Etienne sah sie einschätzend an und wunderte sich, ob sie eingreifen musste, wie sie es bei Raffael bereit war zu tun, als er die Bilder von Scarlett entdeckt hatte. Etienne hatte sie selbst zunächst gar nicht richtig registriert. Sie hatte nur versucht, die Bilder von sich selbst schnell loszuwerden und auf einmal war Scarlett auf dem Bildschirm abgebildet und Raffaels Blick war fest darauf gerichtet gewesen. Doch Scarlett schien ruhiger zu sein als er. Bis sie ihnen zu erzählen anfing, wie sie vorhatte, ihn auseinanderzunehmen. Besorgt sah Etienne zu Raffael, welcher einfach nur schulterzuckend ihren Blick erwiderte.

„Wir würden das fürs Erste unter uns behalten“, sagte er zu ihr, „Wenn es dich stört, streite dich mit Etienne darum, ich würde damit anders umgehen.“

Scarlett richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann atmete sie einmal tief durch und sah wachsam von einem zum anderen. Misstrauisch betrachtete sie dann Etienne. „Mir egal, was du vorhast, aber wenn das noch ein Mal vorkommt, werde ich mich nicht zurückhalten.“

Etienne nickte lächelnd. Es würde kein zweites Mal vorkommen, zumindest nicht, solange sie noch in der Stadt war.

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