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Calisteo - Stadt der Geister [German/Deutsch]
Heimliche Gefechte: Thymian und Orange

Heimliche Gefechte: Thymian und Orange

„Guten Morgen … Etienne?“, fragte Bianca nach und Etienne vermied es, bei dieser Stimme zu erstarren. Erneut hörte sie sich so unfassbar neutral an, dass es sich unnatürlich anfühlte, als würde sie vor einer Pfütze stehen, welche scheinbar flach war, von der sie aber wusste, sollte sie reintreten, würde sie mit Haut und Haar versinken. Hinzu kam, dass da noch immer etwas so unglaublich Seltsames in ihren Augen war, etwas an der Art und Weise, wie sie Etienne ansah, ihre Umgebung betrachtete. Es irritierte sie und sie konnte nicht anders, als hellwach zu werden und ihre Schmerzen zu vergessen. Ihr Instinkt setzte ein. Das war kein gutes Zeichen. Auf dem Weg ins Klassenzimmer war sie noch alleine gewesen und lieber wäre sie unter diesen Umständen Halil begegnet, als ihr.

Der Kampf mit Halil hat nicht so lange gedauert, wie sie vermutet hatte, und es war mehr als genug Zeit geblieben, sich das Parfüm abzuwischen und wieder umzuziehen. Doch nun bereute sie es, dass sie das Parfüm nicht anbehalten hatte. Eine gezielte Umarmung und Bianca würde sich um andere Sachen kümmern müssen, als ihr hier im noch leeren Gang aufzulauern. Es lag keine Feindseligkeit in ihrem Blick. Und das war einer der Gründe, wieso es Etienne so irritierte.

„Das ist richtig… Bianca?“, fragte sie mit dem freundlichsten Lächeln, das sie zustande bringen konnte.

Bianca betrachtete sie von oben bis unten. Eine weitere Frau stand hinter ihr und tat es ihr gleich. Im Gegensatz zu Bianca jedoch konnte Etienne ihren Blick sehr gut einschätzen. Es war klare Feindseligkeit. Damit konnte sie besser umgehen als mit dieser neugierigen Gleichgültigkeit, welche für sie keinen Sinn ergab.

„Du bist ganz schön früh hier“, kommentierte Bianca, „Bist du fleißig am Lernen?“

Ob früh oder nicht, Etienne hatte immerhin einen Grund, hier zu sein. Bianca nicht. Dieser Korridor war nur Etiennes Klasse vorbehalten, so hatte Tatinne es ihr erzählt. Grund dafür lag an den Provinzherrschern. Sie wurden von den anderen Schülern getrennt, sodass sie mehrere Räume haben konnten, ohne von zu vielen Schülern umgeben zu sein. Eine Schutzmaßnahme für die Herrscher sowie die übrigen Schüler. Demnach hatten diese beiden hier nichts zu suchen, eigentlich genauso wenig wie Etienne selbst, wenn sie nicht als weiterer neutraler Schüler zum Versuch eines Gleichgewichts missbraucht werden würde.

„Ich bin heute ausnahmsweise etwas früher raus“, sagte Etienne lächelnd und wahrheitsgemäß. Sie würde sich künftig in diesem Bereich jedoch ändern und immer früh hierherkommen. Nur um sicherzugehen, dass sie am Morgen in der Früh Bianca künftig dabei zusehen konnte, wenn sie etwas in diesem Korridor ausheckte. Etienne wurde von ihr überrascht, als sie in den Gang zu ihrem Klassenzimmer getreten war. Und so schien es auch bei diesen beiden der Fall gewesen zu sein. Keiner hat den anderen erwartet.

„Du solltest besser auf deinen Schlaf achten. Manche Menschen brauchen mehr davon, als andere“, sagte sie und hörte sich nicht böswillig an. Die Frau hinter ihr kicherte jedoch und auch Etienne verstand die versteckte Beleidigung. Verstand Bianca diese denn? Oder meinte sie das wirklich genau so, wie sie es sagte? Etienne entschied sich, so zu tun, als hätte sie diese nicht wahrgenommen. Bianca würde ihr Interesse an ihr verlieren, wenn sie feststellte, dass es an Etienne nichts Besonderes gab, was es wert wäre, ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Ist notiert“, sagte sie.

„Aber der Unterricht hier muss so schwer sein“, sagte die andere, scheinbar nicht bereit, das Thema fallen zu lassen. „Sie muss sich reinhängen, wenn sie mithalten will.“

„Aber sie ist in die Klasse reingekommen“, wandte Bianca ein und betrachtete Etienne noch einmal, „Immerhin schlau.“

Etienne seufzte schwermütig und legte eine Hand auf ihr Herz, „Ich glaube ehrlich gesagt, dass ich mich übernommen habe. Diese Klasse ist so chaotisch und ich verliere immer den Faden. Vielleicht wird O’Donnel mich schon bald herunterstufen.“

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Sobald das passieren würde, würde Etienne weit weg sein. Neutrale Zugehörigkeit hin oder her. Bei der Rolle, welche Autorität an dieser Schule bisher eingenommen hatte, wollte sie nicht herausfinden, welche Autorität Bianca oder Halil oder Raffael oder sonst wer über sie bekommen würde.

Bianca und die andere Frau sahen sich kurz an und kicherten dann erneut. Bianca blickte zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern, ein Geruch von Orange drang zu ihr durch, gemischt mit Kräutern...Thymian? Etienne zwang sich, sich nicht anzuspannen. Zum ersten Mal hatte Etienne das Gefühl, dass ihre Emotion echt war. „Mach dir nichts draus. Du kannst mich jederzeit um Hilfe fragen, wenn du nicht weiterweißt. Weißt du was, weil du so niedlich bist, gebe ich dir einen kostenlosen Ratschlag. Es ist sehr leicht in dieser Klasse, sich in einem Machtkampf zu verlieren. Wenn du schon Schwierigkeiten hast, dem Unterricht zu folgen, solltest du dir überlegen, ob du dich nicht eher von diesen Menschen fernhalten solltest.“

Ihre dunkelgrünen Augen sahen sie unverwandt an. Sie blinzelte sanft mit ihren langen Wimpern und Etienne musste auf einmal an die Puppe denken, welche sie im Haus von Meta gesehen hatte. Sie hatte so friedlich und unschuldig ausgesehen und war dann zum Angriff übergegangen.

„Dabei scheinen alle so furchtbar nett zu sein“, meinte Etienne lächelnd.

Die unbekannte Frau hinter Bianca unterdrückte ihr Lachen. Hatte Raffael am Vortag nicht noch andere Namen genannt? Etienne erinnerte sich nicht mehr.

Biancas Griff auf Etiennes Schultern verstärkte sich. „Sie alle können in dein Gesicht lächeln, während sie im Hintergrund deinen Fall planen. Die Konkurrenz hier ist sehr groß, nicht nur zwischen den Provinzen, sondern auch um die Noten innerhalb der Schule. Immerhin gibt es einem die Möglichkeit, seinen Wert zu steigern. Du kannst ihn natürlich auch steigern, wenn du an Macht kommst, wie Raffael es getan hat. Aber das musst du alleine machen. Keiner wird sich um dich kümmern, wenn du fällst. Und sie mögen zwar so tun, als würden sie sich sorgen, aber in Wahrheit freuen sie sich. Das haben wir bereits vor einigen Monaten beobachtet. Frag Elias, wie es war, als Raffael ihm in den Rücken gefallen ist.“

„Oh nein“, sagte Etienne lachend, „Das wäre zu anmaßend von mir.“

Bianca kicherte erneut und trat zurück. Sie tätschelte Etienne sanft die Wange. „Immerhin kennst du deinen Platz. Belasse es dabei. Aber falls es dir mal wirklich schlecht gehen sollte, ich werde mir ein Ohr für dich offen halten. Du kannst natürlich auch zu Raffael gehen. Aber so, wie er mit dem Stein vor deinem Auge wedelt, würde ich dir davon abraten. Nimm es ihm aber nicht übel. Er verrennt sich manchmal. Das kann man ihm aber verzeihen, immerhin verzeiht er auch unsere kleinen Patzer. Bis bald, Etienne, viel Spaß heute Abend.“

Mit einem Hauch von Thymian, diesmal eindeutig Thymian, und Orange, gingen sie an ihr vorbei und verschwanden an der Treppe nach unten. Etienne bewegte sich selbst langsam zur Klassentür und ging erst in ihre Klasse hinein, nachdem sie sich sicher war, dass die beiden weg waren. Sie schloss die Tür hinter sich, atmete tief durch und ließ ihren Schrecken von den Zügeln. Woher wusste Bianca von dem Stein? Wusste sie auch von der Jacke? Andere Frage: Wer hatte ihr davon erzählt? Die Liste an Menschen konnte nicht sehr groß sein und die meisten gehörten Raffaels Provinz an. Sprachen sie miteinander darüber? War ihre Beziehung zueinander, vielleicht mehr durch einen Streit gekennzeichnet, als durch eine offene Feindseligkeit?

Erneut schoss ihr Biancas ausdrucksloses Lächeln ins Gesicht, wie ein Warnschild, als würde ihr Gehirn sie auf etwas aufmerksam machen wollen, eine Gefahr, welche Etienne bereits kannte, aber noch nicht klar benennen konnte, als würde sie durch einen dichten Schleier blicken und die Schemen nur grob erkennen können. Etienne versuchte, die Anspannung in ihren Schultern zu lösen und versuchte nachzuvollziehen, weshalb sie sich so bedroht fühlte. Sie hat sich nicht mal Gilgian gegenüber so gefühlt.

Dann kam ihr ein weiterer Gedanke. Wenn Bianca von dem Stein wusste, dann wusste sie wahrscheinlich auch von der Vorhersehung. Ein schwerer Seufzer entschlüpfte ihr. Eine Person mehr vom Gegenteil zu überzeugen.