Raffael schritt den Gang hinunter und wusste nicht, welche Gefühle genau an diesem tobenden Durcheinander beteiligt waren, welches in seinem Inneren herrschte. Ob er wütend war oder ob er traurig war oder ob die Genugtuung, diesem kleinen Biest eins ausgewischt zu haben, die anderen Gefühle übertrumpfte. Aber nichts davon spielte im Moment eine Rolle. Er würde sich zunächst um all das Chaos kümmern, welches im realen Leben anstand, und anschließend sich in die Arbeit seiner Provinz stürzen. Falls Eldan ihn lassen würde.
Sein Handy vibrierte und er las die Nachricht. Anjelika hatte ihm geschrieben, dass sie nun unterwegs waren. Eldan würde sie fahren. Er musste lächeln. Natürlich würde Eldan das tun, um für seine geliebte Nichte da zu sein, auch wenn es einmal bedeuten musste, seine Arbeit nach hinten zu stellen. Diese Fahrt musste sich sicherlich wie Urlaub für ihn anfühlen. Es war nicht immer so gewesen. Als Nexim an der Macht war und Eldan still unter seinem wachsamen Auge seine Arbeit verrichtet hatte, war er ein alter, stiller, zurückhaltender Mann gewesen, der alles in seiner Macht Stehende getan hat, um seine beiden Nichten außerhalb Nexims Blickfeld zu halten. Er hatte sich still und schweigend gefügt und alles ausgehalten, um seine Familie zu schützen und auf seine eigene Art und Weise für die Menschen der zweiten Provinz da zu sein. Dabei hat er viele Opfer hingenommen, viele schwere Entscheidungen fällen müssen. Nach Nexims Fall tat er alles in seiner Macht Stehende, um Raffael zu unterstützen und das nicht unter Zwang, sondern mit voller Hingabe. Raffael wollte ihm dasselbe zurückgeben, sobald er das Handwerk dazu erlernt hat. Das sabotierte Schauspiel der nun einzigen Nichte, welche bei einem erfolgreichen Stück gute Chancen auf eine geförderte Zukunft hätte, gehört aber nicht dazu. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass Etienne der Ursprung dessen war und seine Rolle bei dem Ganzen gefiel ihm überhaupt nicht. Langsam intensivierte sich sein Gefühl, dass er sich zu etwas hat verleiten lassen, was er bereuen könnte.
Dennoch. Nun wusste er, wie weit das kleine Biest gehen wollte. Er weigerte sich, auf dasselbe Niveau zu sinken, aber er würde es ihr dennoch in allem heimzahlen. Sie würde auf die harte Weise lernen, dass sie ihm nicht auf der Nase herumtanzen konnte und zeitgleich würde er alles dafür tun, dass Anjelikas Projekt ein Erfolg war. Es war in den letzten Monaten ihr einziger Lichtblick gewesen, nachdem ihre Schwester verstorben war. Einen gemeinsamen Traum zu verwirklichen, welchen nur noch eine Person verfolgen konnte. Verflucht sei Etienne, sie wusste nicht, was sie da anrichtete.
Dann huschten seine Gedanken zu Bianca und zu ihrem Angebot. Wenn Mirtin nicht hier bleiben würde, müsste er irgendwie dafür sorgen, dass so viele andere Teilnehmer wie möglich hier blieben. Bianca hatte genug Einfluss, um viele zum Bleiben zu bewegen. Er biss sich nervös auf die Lippe, als Übelkeit in ihm aufstieg. Auf keinen Fall würde er sie in Elias’ Provinz, weit außerhalb der Stadt, ans Meer begleiten. Da könnte er sich gleich selbst beseitigen und es Elias’ Familie leicht machen. Nicht, dass seine Provinz aktuell viel von Raffael als Person abhing, aber nach den letzten Monaten war er unfreiwillig zu einem Gesicht herangewachsen, welches fest mit der Freiheit der zweiten Provinz verbunden war. Ihm war nur zu gut bewusst, welches Symbol seine sonst so irrelevante Person darstellte und er konnte es nicht wegwerfen. Aber vielleicht würde Bianca sich auf etwas anderes einlassen? Er musste nur die paar Tage durchhalten und Anjelika da durchbringen. Etwas mehr als eine Woche war es nicht.
Scarletts Kopf tauchte hinter der Tür auf, als sie Anstalt machte, aus dem Saal zu treten, doch als sie ihn sah, blieb sie stehen.
„Wo warst du?“, fragte sie ihn und nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in Hörweite war, erzählte er es ihr.
Mit großen Augen und verschränkten Armen sah sie ihn am Ende seiner Erzählung fassungslos an. Genauso, wie er sich fühlte. „Sie hat das sabotiert?“
„Deswegen werden wir das Bühnenbild auch erst mal liegen lassen“, sagte er, „Wir sollten uns alles andere anschauen, was zu Schaden gekommen ist und anschließend kann das kleine Biest aufräumen.“
Scarletts Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wann habe ich dich das letzte Mal jemanden beleidigen gehört?“
„Das müsste bei Josef gewesen sein“, sagte er und bereute die Worte sofort, als ihr belustigter Ausdruck schlagartig versteinerte und anschließend die Trauer wisch. Er verfluchte sich selbst, dass er sie an die Geschehnisse vor über einem halben Jahr erinnern musste. Auch sie hatte eine enge Beziehung zu seiner Mutter gehabt. Nur ein Verrat hat schwerer gewogen, als der von Josef, welcher am Ende seiner Fassade als liebevoller Mentor und deren engster Verbündeter zum Ausbeuter und Mörder mutiert war. Er hatte Raffael geschickt in das Geschehen gelockt, sich hinter ihm versteckt und ihn an die Front gedrängt, nur um dann, als die Arbeit erledigt war, sich seiner zu entledigen zu versuchen und die Gewalt über die Provinz an sich zu nehmen. Raffaels Mutter hatte daran glauben müssen, sie war aber bei weitem nicht die einzige. Es waren nicht viele Menschen, welche sich um Josef versammelt hatte, aber sie haben genug Schaden angerichtet, nicht zuletzt gehörte auch Anjelicas Schwester zu den Opfern. Es wäre bald ein Jahr her, dennoch schmerzte es noch fürchterlich.
„Entschuldige“, flüsterte er, spürte selbst, wie seine Stimme langsam brach, „Ich wollte das nicht sagen.“
Scarlett riss sich wieder zusammen und sagte, „Mach dir um mich keine Gedanken. Du meintest, Etienne hätte das erwähnt. Weiß sie, was er gemacht hat?“
„Das weiß ich nicht, aber das werde ich später herausfinden.“
Als Crom sie rief, bewegten sich beide langsam Richtung Bühne. Der Geruch von Farbe schlug ihm entgegen und Raffael beschlich die Sorge, dass irgendwo etwas ausgelaufen war.
„Und wie genau willst du das machen?“, fragte Scarlett. Er hatte ihr am Abend alles erzählt und wenn er nicht so wütend gewesen wäre, hätte auch er über Etiennes dusseligen Wetteinsatz gelacht.
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„Dir ist schon bewusst, dass wenn du dich mit ihr nicht verträgst und sie stattdessen dauerhaft zu etwas zwingst, sie dir früher oder später noch mehr Probleme bereiten wird“, führte Scarlett weiter aus, „Vielleicht solltest du wirklich mich mal mit ihr sprechen lassen. Ich bin sicher, dass es da ein Missverständnis gab, welches ich ausbügeln kann.“
„Sie wird dir unter die Haut gehen“, erwiderte er. Es war schon schlimm genug, dass sie ihn mit genau den Dingen angegriffen hat, die ihn am meisten schmerzten. Er würde nicht zulassen, dass sie auch Scarlett verletzte.
„Ich komme damit klar“, sagte Scarlett. Er sah sie zweifelnd an und sie sprach weiter, „Was? Ich kann die Fassung bewahren, wenn ich muss. Es gibt nur meistens keinen Grund dazu. Wieso sollte ich beispielsweise gegenüber dieser tollwütigen Giftziege meine Fassung bewahren? Sie hat es nicht verdient. Etienne… sie hat es vielleicht verdient. Aber um herauszufinden, ob sie es wirklich verdient hat, muss ich erst mit ihr sprechen. Ganz einfach, oder?“
Raffael schnaubte bei Scarletts Bezeichnung für Bianca. Und auch wenn er es niemals aussprechen würde, stimmte er ihr im Stillen zu. Er fühlte sich immer vergiftet, meistens konnte er aber nicht mal sagen, wieso.
„Etienne weiß wahrscheinlich ganz genau, wie sie dich verletzten kann und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dieses Gespräch ruhig enden wird.“
Scarlett zog eine beleidigte Schnute und seufzte theatralisch, „Wenn wir mehr Zeit investieren würden, miteinander zu sprechen, würden wir sicherlich mehr gewinnen und weniger aufräumen müssen.“
„Normalerweise würde ich dir immer zustimmen. Aber zuerst möchte ich ihr die Arroganz aus dem Gesicht schlagen und anschließend werde ich mich auf Versöhnung begeben.“
„Das wird nicht gut ausgehen“, sagte Scarlett, „Aber nun gut. Sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung geändert hast.“
„Meinung wozu?“, fragte Crom, als sie endlich nach ihrem langsamen Gang angekommen waren.
„Zu meiner Darstellung eines armen, traurigen Bauernmädchens“, antwortete Scarlett grinsend. Dieses Grinsen hatte er bei ihr schon lange nicht mehr gesehen, aber Crom schien es wieder hervorzuholen.
Crom hingegen verzog das Gesicht. „Wollt ihr mir nicht erzählen, was los ist?“
„Später“, sagte Raffael und dann an alle anderen gewandt, „Lasst uns dieses Chaos beseitigen. Das Bühnenbild kann liegen bleiben, ich kümmere mich später darum.“
„Und Mirtin?“, fragte Elena, ein Mitglied des neutralen Stadtteils.
„Sie wird sehr wahrscheinlich später gehen“, sagte Raffael, wütend über die Ungerechtigkeit, welche die Menschen der zweiten Provinz immer wieder durch sie erfahren mussten. Er musste dafür Sorgen, dass das Ganze hier gut lief. Anjelika brauchte es. Dafür würde er nach einem kurzen Rundgang als Nächstes herausfinden, wo Bianca war.
Besorgt sah Elena zu Anaki, über dessen Anwesenheit sich Raffael besonders freute. Sein alter Freund war immer da, auch wenn sie aufgrund der neuen politischen Verhältnisse Abstand hielten. Sie tauschten einige Worte miteinander aus und Raffael machte sich direkt auf zu Katelin, wollte den Schaden ansehen, den die Kleider abbekommen haben. Er war sich nicht sicher, ob sie in der Schusslinie gewesen waren, aber irgendetwas tat sie dort hinten und er hatte Angst, dass es sie erwischt hatte. Scarlett folgte ihm und flüsterte leise: „Meinst du, Etienne schafft es, dass sie bleibt?“
Raffael zuckte mit den Schultern, „Wenn sie es schafft, dann gut für Anjelika und für uns. Wir werden den Tag nicht verschwenden müssen und keiner von den anderen Provinzen wird sich davonstehlen können, wenn Mirtin anwesend ist. Und wenn nicht, dann verliert sie die Wette und ich werde meinen Preis dazu nutzen, dass sie die nächste Woche alles dafür tut, dass das hier funktioniert. Egal wie es ausgeht, wir können das als Gewinn nutzen.“
„Du hast nur fünf Minuten. Sag mir nicht, dass du vorhast, zu übertreiben?“, fragte sie.
„Es dauert keine fünf Minuten, sich zu dem Ganzen hier zu verpflichten. Muss kein Versprechen sein und einfache, harte Arbeit ist es auch“, sagte er.
„Ja, du hast vor zu übertreiben“, fasste Scarlett zusammen.
„Sie hat angefangen“, erwiderte Raffael und spürte erneut die Wut in sich hochsteigen. Nicht nur wegen des vergangenen Tages, sondern auch wegen des heutigen.
Ursprünglich wollte er diese fünf Minuten so gerne nutzen, um gemein zu sein. Er hatte sich auf dem Heimweg ausgemalt, ihr einen anderen Schwur abzuverlangen oder sein Angebot vom ersten Tag, mit allen Befürchtungen und noch mehr, wahr werden zu lassen und ihr vorzulegen, nur um zu sehen, wie ihr Gesicht bleich vor Angst werden würde und sie damit aufzuziehen, bis sie endlich ruhig wurde. Aber das wäre vergeudete Zeit und Mühe. Er brauchte diesen Einsatz nicht. Was er nun viel eher brauchte, war dafür zu sorgen, dass sie ihm die ganze Woche unterstand. Dann würde er sie und ihren Zugang zu Catjill nutzen, um sie alles ausbügeln zu lassen, was sie verzapft hatte. Jeglichen Schaden zu reparieren und alles in Gang zu halten. Er würde sie bis spät in der Nacht arbeiten und früh am Morgen wieder antanzen lassen, damit sie es sich künftig zweimal überlegte, die ganze Arbeit von so vielen Menschen so auszunutzen. Und der Vorschlag am Morgen, den er Mirtin vorgelegt und mit dem er einen schnellen Sieg beabsichtigt hatte, schien auf einen mal gar nicht mehr so abgehakt.