„Gib mir einen Moment“, sagte sie. Etienne rief sich ins Gedächtnis, wie die Anweisungen für die Windmagie waren.
Ihr Bruder hatte ihr immer gesagt, dass nichts die Macht der Vorstellungen übersteigen würde. Er hatte alles machen können, sei es ein Tornado beschwören oder sein Anwesen fliegen lassen. Er vermochte Dinge zu machen, die Etienne nie für möglich gehalten hatte. Ihr Bruder, wenn es ihm gut ging, war eine Naturgewalt. Und er hatte ihr erklärt, wie sie den Wind kontrollieren konnte. Er vergaß jedoch, dass ihre Kreativität nicht so groß war, wie seine.
Etienne nickte Raffael zu und beobachtete, wie er den Stein des Ringes mit seinem Daumen berührte und sogleich spürte sie wieder Staub auf sie hinabrieseln. Sie sprang weg von ihm und blickte sich kurz nach Catjill um. Dieser versteckte sich unter einem eingestürzten Tisch. Sie hatte sein Alter nicht bedacht, als sie ihm die Anweisung gegeben hatte, zu ihr zu kommen. Wahrscheinlich hat er versucht, direkt durch den Raum zu ihr zu gelangen, in welchem das Wesen wütete. Dann atmete sie tief durch und hob beide Hände. Sie hatte ihren Bruder das schon mal machen sehen. Sie wusste, was sie sich vorstellen sollte und es war den Versuch wert zu testen, ob sie diese fragile Gestalt von einem Wächter gefangen bekommen könnte. Die Luft im Raum fing an sich zu bewegen. Etienne fing ganz außen an und ließ die Kugel aus sich bewegender Luft enger und enger werden. Schon bald erkannte sie die Gestalt des Wächters, welcher auszubrechen versuchte, aber immer wieder vom Luftstrom mitgerissen wurde. Etienne hatte Mitleid mit ihr, denn das hatte ihr Bruder mit ihr auch mal gemacht.
Irgendwann hatte sich die einst riesige Kugel bewegender Luft auf eine Größe zusammengezogen, die kaum größer, als der gefangene Wächter war. Der Wind zerrte an kleinen Gegenständen, zog sie empor und trübte die Kugel mit Staub, Münzen und Steinchen, welche wild im Kreis flogen. Dennoch konnte Etienne noch sehr gut erkennen, wie der Wächter sie wütend aus dieser heraus anfunkelte. Etienne hatte nicht das Bedürfnis, ihre Magie aufzuheben. Sie hatte das Gefühl, dass der Wächter sich insbesondere an ihr dafür rächen würde. Was Etienne ihr nicht verübeln konnte, denn sie hatte sich auch bei ihrem Bruder dafür gerächt.
„Bitte sehr“, sagte sie unzufrieden zu Raffael und bedachte ihn misstrauisch aus dem Augenwinkel. Er zog seinen Ring aus und warf ihn zu der Gestalt rein. Der Ring wurde mitgerissen und rotierte mit der Luft um das Wesen herum, welches versuchte nicht vom Luftstrom mitgerissen zu werden. Sie wunderte sich, wie er vorhatte, ihn zu aktivieren. Die Idee schien wohl zu sein, die Schutzreliquie zu nutzen, um den Wächter an Ort und Stelle gefangen zu halten?
Etienne schielte wieder zu Raffael und sah, wie er eine Kette unter seinem Pullover hervorzog und den Stein berührte, welcher dieselbe Farbe hatte, wie der am Ring. Als er Etiennes Blick sah, zwinkerte er ihr zu, während er mit seinen Daumen die Magie nutzte und Etienne blickte wieder zu der gefangenen Gestalt. Der Ring leuchtete im blauen Licht auf und kurze Zeit später erblickte Etienne ein Glitzern um ihre Luftkugel, welches auf die aktivierte Reliquie deutete. Sie ließ ihre Magie los und der Wind verschwand. Zurück blieb der Geist, an Ort und Stelle.
„Raffael, bist du verrückt?“, hörte sie die junge Frau ausrufen. Seine Begleiter liefen zu ihm und Etienne bemerkte, wie die Frau einen Ring auszog und ihm zudrückte. Der Grünhaarige hielt sie jedoch davon ab und gab ihm stattdessen seinen. Etienne lief zu ihrem Djinn, der mit seinen Pfoten unten den Brocken versuchte einen Weg hinaus und zu ihr zu finden. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.
„Wo ist der Stein?“, fragte sie die Katergestalt, während sie einige umgestürzte Bruchstücke der Möbel zur Seite schob. Der kalte Stein war nass und sie spürte Moos an ihren Fingern.
„Danke der Nachfrage. Mir geht's gut. Wie nett, dass du dir Sorgen machst“, meinte er sarkastisch und hustete dann. Etienne bemerkte, wie er sanft zitterte. Das Abenteuer war vielleicht etwas zu viel für ihn gewesen.
„Mach dir keine Sorgen, es wird schon wieder“, erwiderte Etienne zuversichtlich und streichelte beruhigend seinen Rücken. Er streckte sich ihrer Berührung entgegen und ließ sich trösten.
„Meinst du das hier?“, hörte sie Raffael plötzlich fragen. Sie blickte zu ihm und sah, wie Crom ihm die Schatulle übergab. Er öffnete diese und blickte hinein.
„Das solltest du nicht machen“, sagte Etienne warnend und vermerkte sich, dass diese Menschen scheinbar keine Ahnung von Reliquien aus der ersten Stunde der neuen Welt hatten. Dann versuchte sie ihr bestes Lächeln, „Und ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir das übergeben würdest.“
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Er blickte wieder zu ihr und lächelte, „Wie dankbar wärst du denn?“
Etienne versuchte ihr Lächeln aufrechtzuerhalten. Ein Schauder stieg ihr den Nacken hinauf, während sich in ihrem Hinterkopf eine unangenehme Ahnung regte. Deswegen mochte sie keine Menschen. Sie tauchten einfach auf und wollten etwas. Und wenn Etienne nicht nachgab, dann suchten sie nach einem Weg, sie zu zwingen.
„Was willst du haben?“
Sie hatte genug Kämpfe für einen Tag. Und da draußen gab es immer noch einen Wächter, welcher nur darauf wartete, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie würde ungern einen weiteren Kampf provozieren.
Er sah nachdenklich zu ihr und dann wieder zu dem Stein. Er schloss die Schatulle und sagte, „Nach Kämpfen liegt es mir gerade nicht. Aber ich werde das dennoch an mich nehmen.“
Er übergab die Schatulle an Crom und nickte Scarlett zu, die daraufhin die Augen schloss.
„Ich mache dir ein faires Angebot. Du kommst in meine Stadt und dann unterhalten wir uns unter zivilisierten Umständen über den Stein und darüber, wie viel wir künftig miteinander zu tun haben werden“, sagte er und fügte dann hinzu, „Wenn du jedoch versuchst ihn zu stehlen, dann werde ich ihn vernichten lassen.“
Er warf ein Stück Papier auf den Boden und sein Blick hatte etwas Triumphierendes. Etienne strahlte ihn an und überlegte sich, ob sie nicht doch noch einen Kampf wagen sollte, nur um ihn schlagen zu dürfen, „Da war kein Angebot für den Stein in deiner Aussage drin.“
Die Luft um sie herum fing zu flimmern an. Etienne wusste, worum es sich handelte. Sie hatte schon öfters Menschen mit dieser Fähigkeit gesehen und wenn die Wut über die Situation nicht von ihr Besitz ergriffen hätte, dann würde sie sich wundern, wieso sie diesen Springer nicht kannte. Und Etienne kannte viele von ihnen. Wie die meisten anderen Menschen auch, denn Personen mit diesen Fähigkeiten waren selten und meistens unterstanden sie den Mächtigen.
Er lachte, „Das bekommst du, wenn du da bist.“
Und dann verschwanden sie und es war still. Der Wind wehte durch die Lücken im Dach, welche nach dem Kampf noch größer waren, als zuvor. Etienne hörte die Monster auf der anderen Seite der Tür wieder ganz deutlich gegen diese einschlagen. Sie hielt aber, bestärkt durch die uralte Magie, welche hier irgendwann, lange vor ihrer Zeit gewirkt wurde.
Etienne starrte vor sich hin. Ihr Kopf war leer.
„Soll ich ihn einfach umbringen?“, fragte sie dann Catjill.
Der Kater richtete sich auf und nach einem Strecken fing er an seine Pfote zu lecken, „Übertreibe nicht. Das sind die ersten Menschen, denen wir seit Monaten begegnen. Aber für einen guten Preis, kann ich das sicherlich für dich einrichten.“
„Das ist furchtbar!“, rief sie dann aus und zwang sich kurz darauf, wieder ruhig zu werden. Nach so vielen Strapatzen war sie zum ersten Mal kurz davor gewesen, den ersten Stein zu erlangen. Sie hatte sogar eine wertvolle Ampulle dafür hergegeben. Der Verlust dieser wog besonders schwer dafür, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatte.
Der Kater seufzte nur und fing an sich mit der Pfote über den Kopf zu wischen. Etienne warf die Hände in die Luft, „Verdammt seist du, wer auch immer da oben in den Wolken sitzt!“
Sie trat zu der am Boden liegenden Karte und hob sie hoch.
„Aufschlussreich. Wie soll ich den finden? Ein Frauensalon? Oh, das ist ja in Calisteo!“
Catjill sprang auf ihre Schulter und beäugte die Karte neugierig, „Diese kleine, neutrale Stadt?“
Etienne nickte und lächelte dann strahlend, „Was für eine wundervolle Gelegenheit meiner Tante einen Besuch abzustatten. Sie wird sich bestimmt freuen.“
Der Kater sah sie verwirrt an, „Du hast eine Tante?“
Etienne nickte. Dann steckte sie die Karte ein. Sie blickte zu dem Wächter, welcher noch immer in der Schutzbarriere gefangen war. Etienne wusste einiges über diese, wäre selbst aber nie auf die Idee gekommen, sie so zu verwenden. Der Wächter funkelte sie wütend an.
Etienne lächelte zu ihr, „Ich mache dir ein Angebot.“