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Kontrahenten: Emotionsgewalt

„Welche Farbe willst du haben?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von der Frage. Es gab ein helles Grün und ein mattes Braun.

„Ich glaube nicht, dass wir die Zeit dafür haben“, warf sie ein.

„Für eine Hand wird’s reichen“, erwiderte Scarlett grinsend.

Für einen Moment herrschte Leere in ihrem Kopf. Sie starrte die zwei Farben an und war sich nicht sicher, was sie Scarlett antworten sollte. Sie wusste, wofür das war. Ihre Tante nutze einige davon. Ebenso wie ihre Stiefmutter und ein Teil der anderen Frauen in ihrer Familie. Sie nutzten diesen jedoch nicht, um schöne Nägel zu haben. Zumindest nicht nur.

„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Scarlett sie.

Etienne schüttelte zögerlich den Kopf. Sie gehörte nicht zum Teil der Familie, der das machte.

„Na dann wirds Zeit für ein erstes Mal. Welche Farbe magst du?“, sie schüttelte die Fläschchen, „Das Grüne passt zu deinen Augen, das Braun ist eher etwas dezenter.“

Ihr Mund sprach schneller, als sie denken konnte, „Braun.“

Sie trat zur Scarlett und setzte sich vor sie, wunderte sich, was sie da eigentlich tat. Scarlett legte das eine Fläschchen weg und schüttelte das andere ausgiebig. Sie schraubte den Deckel auf und betrachtete die Farbe, „Es ist ganz schön alt.“

„Wie wurde das hergestellt?“, fragte sie zögerlich, „Aus Öl?“

Die Basis für fast alles.

Scarlett schnaubte, „Aus ein paar Kartoffeln, Mais und einigen Eisenerzen, dessen kleine Mengen ich mir damals von meinem Nachbarn hab mitbringen lassen. Keyens Vater arbeitet in einer Mine, dort hat er mir einige Krümmel mitgebracht. Niemals könnten wir es uns leisten, das Erdöl dafür zu verwenden. Die wenigen Mengen, die wir haben, nutzen wir hauptsächlich für die Maschinen. In Vheruna machen sie es anders, oder? Ich habe gehört, sie haben eine Fabrik aufgebaut, welche es verarbeitet und sie bekommen daraus ganz viele verschiedene Sachen aus denen sie ganz viele verschiedene andere Sachen machen. Leider muss ich dich enttäuschen, bei mir gibt es Nagellack nur aus Kartoffeln.“

„Also“, meinte Etienne langsam und versuchte das Gespräch zurück zum für sie Wichtigem zu lenken, „du hast vor nach Vheruna zu gehen. Das bedeutet, du und Raffael habt vor, den Job an mir abzuschmieren und die Stadt zu verlassen.“

Scarlett schaut kurz zu ihr hoch, nahm dann ihre Hand in ihre etwas kalten Finger und fing an, ihre Fingernägel mit der braunen Farbe zu bemalen.

„Es ist nicht ganz so einfach. Ich werde früher oder später auf jeden Fall von hier verschwinden. Eigentlich war mein Plan, nach dem Abschluss loszuziehen. Aber da Raffael nun Herrscher ist, will ich ihn damit nicht alleine lassen. Ich muss zugeben, ich war sehr aufgeregt zu hören, dass er abgelöst werden sollte. Sollen sich doch die Erwachsenen darum kümmern, welche es in den letzten Jahren nicht gebacken bekommen haben, uns vor dem Monster zu schützen.“

Etienne konnte die Ernüchterung in ihrem Gesicht ausmachen, während Scarlett sich auf ihre Tätigkeit konzentrierte. Sie war sicherlich enttäuscht gewesen, Etienne im Château vorzufinden. Vor allem Raffael musste sich die Haare raufen. Etienne war sich sicher, dass er die Herrschaft nicht einfach so abgeben würde, zumindest nicht ohne Vorkehrungen getroffen zu haben. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass er den Stein gegen sie verwendete, um sich Zeit zu verschaffen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Stellte sich die Frage, welche genau es waren.

„Und was hat er vor, wenn er nicht mit dir nach Vheruna gehen wird? Ihr zwei scheint einander sehr nahe zu sein.“

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Ah, er wird diese Stadt nicht verlassen. Das ist mir genauso klar, wie es ihm klar ist, dass ich nicht hier bleiben werde. Aber das macht nichts. Wir können uns auch aus der Ferne unterstützen. Und was ist schon eine kleine Reise von Vheruna nach Calisteo, wenn ein geliebter Mensch mal Hilfe braucht?“

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Etienne lächelte. Mit dem Zug würde es eineinhalb Tage dauern. Und es würde teuer werden. Die Gleise für diese lange Reise mussten instand gehalten werden, was in der gefährlichen Wüste, welche zwischen Calisteo und dem Rest der Welt lag, eine große Herausforderung war. Dafür mussten die Reisenden zahlen. Einer der Gründe, weshalb Calisteo es wirtschaftlich nicht einfach hatte.

„Wieso habt ihr die Herrschaft übernommen, wenn ihr sie nicht wolltet?“, fragte Etienne. Sie wusste von Tatinne, dass die beiden eher reingeschlittert waren, als das sie es wirklich gewollt hatten.

Scarlett machte ruhig weiter und widmete sich dem nächsten Fingernagel. Etienne bemerkte jedoch, wie ihre Schultern sich anspannten und ihr Lächeln aus dem Gesicht verschwand. Die Glocke läutete, doch Scarlett merkte es nicht. Sie atmete tief durch, blickte noch immer starr auf Etiennes Hand, als wäre sie nicht in der Lage zu ihr hochzuschauen. Etienne konnte in ihrem Gesicht Scham ausmachen, gemischt mit Angst.

„Es war einfach eine komische Zeit“, sagte sie schließlich, noch immer in einer ruhigen Stimme, welche nicht zu dem Ausdruck in ihrem Gesicht passte. Etienne merkte sich diesen. Vielleicht würde sie ihn bei Raffael auch sehen. Und wenn er es zu verstecken versuchen würde, dann wusste sie, worauf sie achten konnte. Es war erstaunlich. Die beiden waren sich ähnlich. Es war offensichtlich, dass sie verwandt waren. Aber Scarlett war viel leichter zu lesen, als Raffael.

„Hattet ihr keine Wahl?“, fragte Etienne weiter nach. Sie wollte Scarlett fragen, ob Halils Kommentar etwas damit zu tun hatte. Aber sie konnte sich nicht überwinden. Sie erinnerte sich an den verletzten Blick von ihr und entschied, dass es noch nicht notwendig war.

Scarlett seufzte, als sie den letzten Finger vornahm, und sagte, „Nexim und seine Frau Alva waren furchtbar gewesen. So sehr ich diesen Job hier hasse, ich würde ihn nochmal machen, solange diese beiden weg sind. Sie und ihre kleinen Speichellecker, welche unsere Provinz terrorisiert haben. Einige von ihnen versuchen es noch immer, aber es sind weniger geworden. Es gab so einige gute Menschen, die nur allzu bereit waren sich für das Gute einzusetzen. Für unsere Freiheit. Und als wir die Chance dazu hatten, haben sie die Chance auch ergriffen. Nun sind wir mehr gute Menschen, als schlechte.“

„Haben die schlechten gestern Nacht zufällig etwas in die Luft gesprengt?“, fragte Etienne nach.

Das entlockte Scarlett ein tiefes Seufzen und nun konnte Etienne Wut in ihren Augen sehen. Ein Funken, den sie am Vorabend bei Raffael ähnlich beobachtet hatte. Doch während Raffael die Wut hinter einem Lächeln versteckt hatte, schien Scarlett sie in all ihrem Sein nach Außen zu tragen. Ihre Wangen färbten sich rot vor Aufregung, die Augen sahen aus, als würden sie Funken sprühen.

Sie sah nun zu Etienne hoch, während sie das Fläschchen wieder verschloss, „Es gibt noch immer einige betrübte Loser, welche sich in Banden zusammengeschlossen haben. Nun terrorisieren sie weiter und denken, dass sie damit Gehör bekommen. Es ist leider nicht ganz unwirksam“, fügte sie dann säuerlich hinzu, „Das Hauptproblem sind die anderen Provinzen. Auch nach Gilgians Machtübernahme, haben sich viele Persönlichkeiten, welche bei der Leitung der Provinz beteiligt waren, gegen ihn gewandt. Wir vermuten, dass sie zusammenarbeiten, dafür gibt es ein paar Indizien. Es ist dann nie ganz klar, wer aus welcher Provinz welche andere Provinz angegriffen hat. Vor zwei Jahren hätte das noch für einen großen Kampf gesorgt. Raffael und Gilgian haben sich aber verständigen können, wahrscheinlich diskutieren sie noch mit den Anderen um die Folgen des Angriffs und wie künftig damit umzugehen ist.“

„Was ist mit eurem Stadtwächter?“, fragte Etienne und Scarlett sah sie verständnislos an.

Plötzlich richtete sie sich stocksteif auf und sah Etienne schweigend an. Ihre Augen wurden groß vor Sorge und sie fragte, „Hat es schon geklingelt?“

Etienne zuckte lächelnd mit den Schultern, „Ich bin mir nicht sicher.“

Es war schon beinahe witzig. Scarlett trug jede Emotion in ihrem Gesicht. Von Scham zu Wut zu Panik, alles war deutlich zu sehen und so ausdrucksvoll, dass an der Emotion nicht gezweifelt werden konnte. Scarlett war sicher fürchterlich bei Kartenspielen.

Scarlett sprang auf, „Verflucht. Das tut mir leid, mir ist das gar nicht aufgefallen.“

Etienne beobachtete sie dabei, wie die Sachen wieder in die Kiste packte. Während sie die Kiste dann erneut unter der Plane verstaute, blickte Etienne zu ihrer Hand. Der Lack war sauber an ihren kurzen Nägeln aufgetragen, die Farbe war dezent. Es sah hübsch aus, als das Tageslicht reflektiert wurde

„Gefällt es dir?“, fragte Scarlett auf einmal und Etienne blickte zu ihr hoch. Auf Scarletts stolzen Blick hin strahlte Etienne sie breit an.

„Natürlich. Du bist sehr gut darin“, sagte sie, ohne zu wissen, was sie sonst sagen sollte.

Scarlett hob eine Braue und betrachtete sie forschend. Etienne grinste sie weiterhin breit an, wartete, bis Scarletts Interesse über Etiennes Reaktion zu ihrer Hand nachließ.

„Na komm“, sagte Scarlett, „beeilen wir uns. Ich werde die Schuld auf mich nehmen. Du hast heute schon genug Ärger abbekommen. Und lass uns bitte bei der vorderen Tür reingehen, dann finde ich nach dem Sprung den Platz leichter.“

Etienne stand auf und diesmal warnte Scarlett sie, bevor sie mit ihr von dem Dach zu dem Klassenzimmer verschwand.