Etienne stieg mit Catjill die Treppen des Turmes hinauf. Sie war durch ein Fenster hineingeklettert, welches offengestanden hatte. Anschließend war sie mit Catjill an den wenigen Menschen, welche dort scheinbar arbeiteten, vorbeigeschlichen. Die Treppen zu dem Turm waren schnell gefunden und nun lief sie seit einigen Minuten in der Dunkelheit hinauf. Mit einer Hand an der kalten, rauen Wand, welche hier und da etwas Moos zwischen den Steinen wachsen hatte, folgte sie dem Weg nach oben. Sie hatte Catjill nicht befohlen, Licht zu machen, da sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Ihre Gedanken waren schnell zum Talisman gewandert und sie fragte sich, was in sie gefahren war, diesen bei Tatinne liegen gelassen zu haben. Sie war sich sicher, dass Raffael es ihr auf den Tisch gelegt hatte, wie sie es verlangt hatte. Sie war jedoch zu hastig nach unten gegangen. Es war etwas her, seit sie das letzte Mal so aus der Ruhe gebracht wurde.
Die verpackten Tüten in ihren Händen verströmten einen Geruch von heißem Essen. Es bot einen Kontrast zu dem Geruch des feuchten Steins, welcher sich an diesem Ort festgesetzt hatte. Catjill flog vor ihr her, aufgeregt endlich nach Oben zu kommen. Sie hatte ihm nicht erlaubt, sich zu weit zu entfernen. Und so spürte sie seine Aufregung, als er sie anspornte schneller hinaufzulaufen.
„Beweg deine menschlichen Beine, Etienne.“
Etienne war zwar müde, aber ihn so aufgeregt zu sehen brachte sie zum Lächeln. Es war besser, als ihn wütend zu sehen.
Als sie oben ankamen, war die Tür verschlossen. Sie ließen sich davon jedoch nicht aufhalten. Catjill ließ eifrig das Schloss aufschnappen und sie traten hinein. Die kalte Luft strömte ihnen entgegen. Es gab keine Fenster, nur steinerne Bögen um sie herum. Etienne blickte durch diese hindurch. Sie konnten zwar keine Sterne sehen, aber um diese Uhrzeit erstrahlte die Stadt unter ihnen, als wäre sie ein eigener kleiner Sternenhimmel. Etienne liebte den Ausblick. Eine ihrer schönsten Erinnerungen war die, wie sie damals mit ihrem Vater einen Berg bestiegen hatte. Es war ein steiler, anstrengender Weg, doch als sie sich umgedreht hatte, hatte ihr die Aussicht mehr Luft geraubt, als der Aufstieg selbst. Sie waren so weit oben gewesen, dass die Luft so dünn war, dass sie Schwierigkeiten gehabt hatte zu atmen. Sie wurden von wilden Tieren bedroht und es gab Wesen, welche sie noch nicht gekannt hatten. Und doch war das die schönste Erfahrung, die sie je gehabt hatte. Es war traumhaft gewesen. Das waren die schönsten eineinhalb Jahre in ihrem Leben.
Während Catjill um den Turm herumflog, setzte Etienne sich hin und öffnete das Essen. Sie legte die Sachen aus und war doch froh über das Geld, das Gilgian ihr gegeben hatte. Catjill hat sich nicht zurückgehalten. Etienne hätte es sich zwar leisten können, aber ihr Budget war beschränkt und sie wollte nicht zu tief in die Taschen greifen. Vor allem nun, wo sie durch Tatinnes Unterkünfte und Einkäufe etwas sparen konnte, waren unnötige Ausgaben nur hinderlich für sie. Selbstverständlich könnte sie noch eine Aufgabe der Ekklea übernehmen. Nicht umsonst nannte sie ihren Nebenjob Exorzismus. Aber es war auch nicht der Fall, dass sie viel Zeit zur Verfügung hatte. Sie musste sich schnell die Steine besorgen. Demnach bedeutete dies, dass sie sich ihre Abmachungen mit Catjill besser einteilen sollte. Sie sollte nach Möglichkeiten vermeiden, Gefallen für andere Menschen einzulösen. Das bedeutete, dass sie ihn nicht mehr dazu nutzen würde, jemanden zu schützen oder anderwärtig zu helfen. Nicht, dass sie es jemandem schuldig war. Es war manchmal nur die einfachste Art und Weise, für möglichst wenig Aufsehen zu sorgen. Wenn Meta etwas passiert wäre, würde Gilgian sie nicht so einfach davonkommen lassen. Und wenn Gilgian etwas passiert wäre, könnte dies die Machtverhältnisse in der Stadt stören, was ihr unter Umständen mehr schaden, als helfen würde. Wie Raffael gesagt hatte, es lohnte sich seine eigenen Bedingungen vor einer Veränderung zu etablieren. Dasselbe galt für Etienne, wenn sie für Chaos sorgen wollte, in welchem sie sich am leichtesten Bewegen konnte. Kurz huschte Raffaels Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, wie er seine Liebe zu der Stadt bekundet hatte. Schlechtes Gewissen setzte ein. Vielleicht würde sie sich doch Mühe geben, nicht zu allzu drastischen Maßnahmen zu greifen. Sie würde es jedoch nicht für ihn tun. Immerhin ist er schuld, dass sie hier festsaß. Und ein Blick nach unten, auf die vielen Menschen, welche wie kleine Ameisen durch die belebten Nachtstraßen Calisteos herumschwirrten, zeigte ihr sehr deutlich, wieso sie nicht übertreiben sollte. Sie seufzte schwer.
Catjill flog zu dem Essen. Er setzte sich hin und wurde umhüllt von blauem Rauch. Dann saß ein kleiner Junge vor ihr, mit langen, blauen Haaren und hell leuchtenden Augen, mit kreuzförmigen Pupillen, welche nur so von Magie strotzten. Er packte das Essen und zog die Folie ab. Mit seinen Händen schob er sich das heiße Essen in den Mund. Etienne lachte. Er benahm sich genauso wie bei ihrem ersten Treffen, als er sich über ihre Vorräte hergemacht hatte, weil er noch nie zuvor den Geschmack von menschlichem Essen genießen konnte.
„Catjill, iss ordentlich. Es gibt Besteck.“
„Ich brauche kein Besteck“, rief er aus und seine glücklich leuchtenden Augen blickten kurz zu ihr, nur um dann weiter zu schlingen. Etienne schaute ihm dabei zu. Er sah klein aus, aber sein Alter war nicht nach menschlichen Maßstäben zu messen, genauso wenig, wie seine geistige Reife. Wenn Tatinne von einem Herrscher gesprochen hatte, dann musste es sich um Catjill handeln. Diese Schlussfolgerung hatte Etienne direkt nach Tatinnes Erzählung geschlossen. Etienne konnte Raffael nicht erzählen, dass sein Fokus wahrscheinlich auf der falschen Person lag. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, die ganze Arbeit, einen Djinn zu erhalten. Und Raffael drohte ihr indirekt, ihn ihr wegzunehmen. Unter den Umständen musste sie seine Aufmerksamkeit entweder auf sich lenken oder auf jemand anderen. Noch hatte sie den Vertrag mit Catjill, doch es könnte Möglichkeiten geben, ihn ihr wegzunehmen. Er war nicht vollends davon abgehalten, Verträge mit anderen zu schließen. Er glaubte es aber und Etienne beließ ihn gerne in den Glauben. Wenn er dahinter kommen sollte, dann müsste sie sich unter Umständen mit den Anderen um ihren Djinn prügeln. Auf lange Sicht bedeutete dies, dass sie jeden von ihrem Djinn ablenken musste. Was an sich vielleicht gar nicht so schwer zu meistern wäre, da der Djinn durch seine Magie sowieso vor zu neugierigen Blicken geschützt war. Die Menschen hinterfragten ihn nicht. Das würde jedoch nicht ewig halten. Früher oder später würden sich die Leute wundern. Mit Ausnahme von einer Person, welche Etienne überrascht hatte.
„Weißt du, ob Meta immun ist gegen deine Magie?“, fragte Etienne ihn vorsichtig.
Seine leuchtenden Augen blickten nicht mal zu ihr auf, als er sich über das zweite Gericht hermachte. Etienne öffnete auch ihr Essen. Es war das Erste, was sie heute hatte und ihr Magen knurrte unangenehm.
„Nur mentale Magie“, sagte er mit vollem Mund, „ich habe das direkt bei ihr gespürt. Du wirst sie mit Illusionen oder Beeinflussungen ihrer Gefühle nicht dran kriegen. Sie wird das direkt durchschauen. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie es bewusst machen wird. Ich glaube ehrlich gesagt nicht mal, dass sie Magie wahrnimmt, außer es fliegt direkt in ihr Gesicht.“
Etienne nahm nachdenklich etwas Essen in den Mund und dachte über das Gesagte nach. Sie erinnerte sich daran, wie Meta ihr davon erzählt hatte, dass sie mit vielen verfluchten Gegenständen in Kontakt gekommen war. Sonderbar war jedoch, dass sie, wie Etienne, auf den Geist reagiert hatte, welchen Catjill als nicht Existent betitelt hat.
„Erinnerst du dich noch an den ersten Geist, dem wir im Gang begegnet sind?“, fragte Etienne bei ihm nach.
A case of literary theft: this tale is not rightfully on Amazon; if you see it, report the violation.
Catjill lachte, „Da war nichts Etienne. Es war kein Geist.“
„Was dann? Wenn der Fluch rein mentaler Natur wäre, dann hätte Meta nichts sehen sollen.“
„Der war nicht rein mentaler Natur. Es haben sich nur die Gegenstände bewegt. Den Rest hast du dir eingebildet. Und dieses scheue Reh auch. Kein Wunder aber, es ist jedes Mal was passiert, wenn sie rauswollte.“
Etienne aß weiter. Zu dem Schluss war sie auch schon gekommen. Immer wenn sie zu lange an einem Ort waren oder wenn Meta meinte, sie würde wieder rausgehen wollen, war etwas aufgetaucht, was sie zum Weiterbewegen gezwungen hatte.
„Und wieso hat sie den Hund gesehen?“
„Dieser bestand aus manifestierter Magie. Er war so etwas wie ein Lebewesen und ein Geist zugleich, wie die Wesen im Château.“
Etienne sortierte die Informationen in ihrem Kopf. Wenn etwas lange genug mit Magie getränkt wurde, dann nahm es nach und nach eine reale Gestalt an. Dieser Prozess passierte in den dunklen Jahren der neuen Welt schlagartig. Ein Kind konnte sich ein Monster vorstellen und schon war es als Entität da, welche zwischen den Welten wandern konnte. Mittlerweile passierte es viel langsamer, dank der harten Arbeit der übriggebliebenen Menschen der alten Welt.
Ähnlich war es bei Zaubern, welche etwas Reales erzeugten. So konnte die Magie, welche einen Stein bewegte, Meta wahrscheinlich nichts tun, der Stein dafür umso eher. Oder Feuer, welches durch Magie erschaffen wurde, tobende Luft, Stürme, ...
„Ich bezweifle aber, dass Meta die Schatten wahrgenommen hat. Dafür ist ihr Blick in die magische Welt zu abgestumpft“, führte Catjill weiter aus und hustete dann, als er sich am Essen verschluckte.
Sie spürte die Müdigkeit hinter ihren Augen einsetzen. Es war schon späte Nacht. Nachdem Catjill sein Essen verschlungen hatte, leckte er sich die Finger. Etienne war froh drum, sie hatte nämlich kein Interesse, es für ihn zu übernehmen, sie sauberzumachen.
„Catjill“, sagte sie dann, „Erinnerst du dich noch an unsere Regeln?“
Sein wachsamer Blick traf den ihren. Sofort verwandelte er sich in einen Kater. Sie lächelte, „Es ist keiner hier. Mach dir keine Sorgen, ich wollte dich nicht bedrängen.“
„Wieso fragst du dann nach den Regeln nach?“, fragte er misstrauisch.
„Ich wollte nach dem heutigen Tag nur noch mal betonen, dass du in der Nähe der Anderen niemals deine Gestalt wechseln solltest“, sagte sie sanft.
„Ich habe mich bisher immer an alle Regeln gehalten. Wieso sagst du das jetzt?“, fragte er und sie konnte einen beleidigten Unterton in seiner Stimme hören.
Etienne seufzte und stellte das Essen wieder weg. Sie würde später mehr essen. Sie hatte zwar keinen Hunger, aber sie wusste, sie brauchte die Nährstoffe.
„Catjill, ich wollte diese Regel nur noch mal hervorheben. Nimm das nicht persönlich. Und genieße deine Zeit hier oben. Wir müssen bald zurück.“
Er blickte noch einige Momente zu ihr, sein Schwanz zuckte hin und her. Dann entschloss er sich, ihrem Ratschlag folge zu leisten und sich weiter umzuschauen. Etienne atmete leise durch, als er sich abzulenken schien. Sie wusste, dass er ihren Befehlen Folge leisten würde. Sie wollte nur noch mal sichergehen, dass er das im Hinterkopf behielt. Immerhin war er manchmal viel zu eifrig und viel zu unachtsam in dem, was er sagte.
Etiennes Gedanken wurden unterbrochen, als sie ein lautes Geräusch und anschließend das ferne Schreien von Menschen hörte.
Mit vor Erschöpfung zittrigen Beinen stand sie auf und trat zu Catjill an die steinernen Balken. Der Wind wehte durch die Bögen und sie hörte um sich herum pfeifende Geräusche, in welche sich die weit entfernten Schreie mischten. Ihr Haar, das viel zu lang geworden war, flog um sie herum und sie versuchte die Strähnen aus dem Gesicht zu halten.
Dicke Rauchschwaben stiegen weit entfernt empor. Es war in Gilgians Provinz. Unter ihnen versammelten sich die Menschen am Platz und schienen besorgt in Richtung des dunklen Rauchs zu schauen.
„Wir gehen zurück“, sagte sie zu Catjill. Er kletterte auf ihre Schultern, als sie den ganzen Müll einsammelte und in eine Tüte stopfte. Sie sollten sich beeilen herauszukommen, bevor der Platz unter ihnen von Leuten nur so wimmeln würde.