Der Sonnenschein fiel beim Fenster herein und seine warmen Strahlen trafen direkt auf Viktorias Gesicht. Sie regte sich und drehte sich anfänglich weg. Vor ihr spielten sich die Träume nochmals ab, die sie heute Nacht gesehen hatte. Sie war am Dorfteich gewesen. Im Traum war es allerdings finster gewesen, und keine Enten, die man füttern hätte können, waren da. Oft war sie an diesem Ort, als sie noch klein war, baden gegangen. Außerdem hatte sie von ein paar ihrer Nachbarhäusern, also allen aus Althain, geträumt. Und sie hatte sogar die große Mühle, welche ihr als Kind immer so imponiert hatte, wiedergesehen. Es war ein sehr bekanntes Wahrzeichen der gesamten Gegend hier, welches im Nachbarort Zieslingen stand. Es hatte im Traum fast genauso ausgesehen, wie sie es in Erinnerung hatte.
Dann öffnete sie endlich ihre Augen und raffte sich gleich danach auf. In der Nacht hatte es bereits deutlich abgekühlt, ein Zeichen, dass es mittlerweile Spätsommer war. Sie ging hinüber und öffnete beide Fensterflügel. Dann blickte sie kurz hinunter auf die Wiese hinterm Haus. In all den Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Der uralte, riesige Elsbeerbaum, dessen Blätter sie von hier aus mit ausgestrecktem Arm beinah schon berühren konnte, sah noch punktgenau so aus, wie in ihren Erinnerungen. Völlig blank starrte sie auf die Blumenwiese und entsinnte sich ihrer Kindheit, die ihr jetzt schon wieder fern vorkam. Als sie hier das Stockspiel gespielt hatten und die anderen Kinder von ihren Eltern weggezerrt worden waren, da sie Viktoria als „verflucht“ ansahen…. Es hatte ihr wehgetan. Einzig Isolde hatte sie nie verurteilt und sie trotz allem als Freundin gesehen. „Vielleicht sollte ich ihr doch einmal einen Besuch abstatten“, ging es ihr da durch den Kopf. Nachdem sie auf diese Weise in der Vergangenheit geschwelgt hatte, drehte sie sich um und ging die Treppe hinab.
Wie sie vermutet hatte, waren ihre Eltern bereits längst auf. Hans war schon dabei sich auf die heutige Arbeit vorzubereiten. Als er Viktorias Präsenz bemerkte, starrte er sie kurz aus seinen tiefen, grünen Augen heraus an. Er musterte sie von oben bis unten, nur um sich dann wortlos abzuwenden und in Richtung der Tür zu gehen. Auf dem Weg dorthin machte er aber abrupt Halt und sprach zu seiner Frau: „Die Teppiche sind auch schon recht verdreckt. Du solltest sie vielleicht mal wieder putzen.“ Dieser Wortlaut schien seiner Ehefrau gewaltig zu missfallen und sie schnauzte ihn an. „Sag mir nicht, was ich hier zu tun und lassen habe! Mach mal lieber, dass du Anschaffen gehst! Das Haus ist meine Zuständigkeit, die Felder sind deine!“ Ein kurzes Grummeln war von diesem daraufhin zu vernehmen, dann verschwand er gleich bei der Pforte hinaus.
Gertrude winkte ihr Kind sogleich zum Tisch herbei. „Komm, iss etwas!“ Das Mädchen kam dem nach und setzte sich an den kleinen, alten Tisch, auf den ihr ihre Mutter folglich einen Teller mit einem Stück Brot und Butter servierte. „Danke!“, äußerte die Kleine immer noch recht verhalten. „Du bist immer so aufmerksam, und das obwohl ich nur ein paar wenige Tage bei euch sein werde.“ – „Ach, komm schon! Du bist meine Tochter und wirst es auch immer bleiben, egal was passiert“, gab die Dame da zurück. Sie war sich nicht im Klaren, wie sehr sie Viktoria damit mitten ins Herz treffen würde. Als sie kurz darauf die Reaktion ihrer Kleinen bemerkte, verstummte sie kurz. Dann wechselte sie das Thema.
„Der viele Regen hat endlich aufgehört. Zum Glück. Ich dachte schon, dass wir hier bald Land unter haben würden.“ Nach kurzer Überlegung erwiderte Viktoria darauf: „Das war allein meine Schuld. Meine Gefühle können solche Phänomene erzeugen.“ Das schien ihre Mutter ein wenig zu überraschen. „Wenn ich meine Gefühle besser unter Kontrolle hätte, wäre das nicht passiert. Tut mir leid.“ – „Bei mir musst du dich dafür nicht entschuldigen. Ich bin nur froh, dass es dir jetzt besser geht.“ Die Frau pausierte dann kurz und überlegte, ob sie die Jugendliche befragen sollte, was denn passiert war. Sie entschied sich dann aber dagegen. Sie dachte sich, dass sich die Kleine ihr gegenüber schon noch öffnen würde, wenn sie selbst dazu bereit war.
Somit sprach sie ein anderes Vorkommnis an. „Weißt du, es ist wirklich überraschend.“ – „Was?“ – „Erst letzte Nacht hat der Regen aufgehört, aber genau in dieser Nacht ist in Zieslingen ein Feuer ausgebrochen.“ Dies weckte nun Viktorias Aufmerksamkeit und sie wollte nun mehr darüber wissen. „Wirklich? Was ist denn abgebrannt?“ – „Die alte Mühle. Von allen Dingen, die in Flammen aufgehen hätten können, war es gerade das Wahrzeichen der Gegend. Naja, was soll man machen.“ Diese Enthüllung verschreckte und verwirrte die Zaubrerin nun. Sie hörte kurz auf zu essen und zog sich in ihre Gedanken zurück. „Von der Mühle hab ich letzte Nacht geträumt. Könnte ich tatsächlich dort gewesen sein? Früher kam es immer wieder vor, dass ich im Schlaf irgendwo herumgewandert bin, so als ob ich besessen gewesen wäre. Könnte ich das gewesen sein?“ Die Wahrheit verleugnend, schüttelte das Kind den Kopf, was ihr karmesinrotes Haar hin- und herfliegen ließ, während ihre Mutter sie etwas besorgt anblickte.
„Ist alles okay, Viktoria?“, fragte sie nach. „Ja, alles in Ordnung“, gab die Kleine zurück. Dann ergänzte sie noch: „Ich werde dann wieder in mein Zimmer raufgehen. Danke, für deine liebevolle Fürsorge um mich. Aber ich brauche einfach Zeit für mich allein. Das ist alles.“ Dem entgegnete die Dame: „Ist schon okay. Du weißt, dass wir dich lieben.“ Das kleine Lächeln, dass dann auf ihren Lippen folgte, ließ dem Mädchen ein wenig das Herz erweichen. Sie verzehrte noch den Rest ihres Frühstücks und verkrümelte sich dann wieder in ihrem Raum im Obergeschoß.
Ein Botenvogel aus der Kaiserstadt traf ein. Balduin hatte gerade eben sein morgendliches Gebet beendet, da klopfte es an der Tür. Der im Gebet der Sonne Zugewandte machte das Signum, sprich er klopfte sich dreimal aufs Herz, und stand dann aus seiner knienden Stellung auf. Einer seiner Untergebenen trug ein an seine Heiligkeit adressiertes Schriftstück an ihn heran. Der Kommandant der Garde verlor keine Zeit. So schnell, wie es ihm möglich war, schlüpfte er in seine Stiefel und packte sich zusammen. Dann eilte er schleunigst zu seiner Majestät hinüber. Es war noch relativ früh, doch war er sich sicher, dass sein Herr schon auf den Beinen war.
Er glitt die lange Treppe zum Salon hinunter, in dem er annahm, dass Ihre Majestäten noch ihr Frühstück zu sich nahmen. Ihre Hoheit, die Kaiserin, ließ sich bekanntlich ja oft viel Zeit beim Speisen. Als er auf seinen Zielort zusteuerte, konnte Balduin durch die Glasscheibe der breiten Salontüre sehen, wie sich zwei feinst gekleidete Damen darin, auf einem kleinen Tisch sitzend, unterhielten. Noch etwas näherkommend, konnte er schließlich ausmachen, dass es sich um die Kaisergattin und eine ihrer Freundinnen handelte.
„Tut mir leid, ich kenne Irnfrid wirklich nicht so gut. Jedenfalls sicher nicht annähernd so gut wie du sie kennst“, verlautete eine hübsche Frau mit langen blonden Haaren, die in einem ähnlichen Alter wie Amalie zu sein schien. „Das weiß ich schon, Emma. Ich brauche halt trotzdem jemandem, mit dem ich darüber reden kann“, erwiderte ihr Amalie darauf. „Und meinen Gatten kann ich diesbezüglich definitiv nicht fragen. Ein Mannsbild hat einfach keine Ahnung wie wir Frauen ticken. Er würde mir vermutlich nur vorschlagen, dass ich sie sanft trösten soll und ihr vielleicht ein paar Blumen zur Mitleidsbekundung schenke. Das funktioniert mal sicher nicht!“ – „Ja, das mal garantiert nicht“, bestätigte sie Emma. Dann schlug sie vor: „Aber ihr auf irgendeine Weise zu zeigen, dass ihr auch Reue wegen dem, was mit ihrem Mann passiert ist, verspürt, ist sicher wichtig.“ – „Ja, genau deshalb.“ Dann sprach sie aber nicht weiter. Vom Wohntrakt sah sie einen großen, kahlköpfigen Mann in den Speisesalon hereintreten. Es war Balduin, der Kommandant der Reichsgarde.
Schnurstraks trat er an die beiden feinen Damen heran. Als er vor ihnen zum Stillstand kam, fühlten sich die die beiden schon beinah ein wenig von dessen Größe und Imposanz eingeschüchtert. Emma schien sogar ein wenig vor ihm zurückzuweichen. „Verzeihen sie die Störung, Eure Majestät. Ich würde nach meinem Herrn suchen.“ Während Emma vom muskulösen Körperbau des Kriegers eingenommen zu sein schien, schenkte Amalie dem keine Beachtung. Sie sah ihm direkt in die Augen und antwortete: „Mein Mann ist hinten auf der Terrasse. Sie müssen nur um die Ecke da hinten links.“ Sie sprach in abweisendem Ton, offensichtlich missmutig aufgrund der Störung ihres Gesprächs mit ihrer Freundin. Balduin bedankte sich bei ihr und trat unmittelbar ab. Ihrer simplen Wegbeschreibung folgend, erreichte er sogleich den Kaiser.
Bei seiner Annäherung konnte er bereits das Geräusch von aufeinanderprallenden Schwertern vernehmen. Draußen auf der Terrasse waren Wenzel und sein Leibwächter Brahm in ein Duell verstrickt. Wie immer war es ein freundschaftliches Gefecht zwischen den beiden. Hinter ihnen erstreckte sich der feine Rasen der weitläufigen Parkanlage dieser ehemaligen Pfalz, in der sie nun vorübergehend verweilten. Balduin wusste dies nicht, doch diese Szene trug für den Erkorenen einen Hauch an Nostalgie mit sich. Nach dem Sieg in der Schlacht von Greifenburg hatten er und Brahm an genau diesem Ort den Zweikampf gegeneinander praktiziert. Diese Situation versetzte Wenzel in eine andere Zeit zurück, in einen Moment, an den er sich vergangenheitsverliebt zurückerinnerte. Blitzschnell holte Brahm zum Schlag aus, während er seinen Kontrahenten ansprang. Das Eisen schwang von links oben herab. Doch Wenzel parierte seinen Hieb gekonnt und stellte dann mit einem rückfälligen Seitensprung wieder etwas Distanz zu dem Angreifer her.
Nun schritt Balduin heraus in die frische Morgenluft, blieb ein paar Ellen von den Duellanten entfernt stehen und verbeugte sich tief. „Mein Herr, wir haben dringliche Kunde aus Meglarsbruck erhalten. Der Reichskanzler hat Ihnen persönlich einen Eilbrief geschrieben.“ Er erhob sich wieder aus seiner gesenkten Pose und hielt ihm den Brief mit ausgestrecktem Arm hin. Erst jetzt bemerkte er, wie ungepflegt der Bart seiner Hoheit war, welcher diesen dem Anschein nach schon mindestens eine Woche lang nicht mehr rasiert und zurechtgestutzt hatte. Obendrein hatte er dunkle Ringe unter den Augen. Wenzel pausierte sofort seine Tätigkeit, legte sein Schwert beiseite und nahm die Nachricht entgegen. „Vielen Dank, Kommandant!“, bedankte er sich kurz. „Stets zu Euren Diensten!“, gab der Angesprochene zurück.
Fast schon dilettantisch fummelte er mit dem Umschlag, der das Siegel der Regierung trug, herum, bis er ihn endlich aufbrachte. Dann überflog seine Majestät schnell was darin geschrieben stand. Er hielt inne und, wie für ihn typisch, überlegte eine Weile, ohne etwas zu äußern. Somit kam Brahm zu ihm heran und fragte: „Was ist es denn? Gibt es Probleme in der Hauptstadt?“ Wenzel schaute ihm ins Gesicht und entgegnete: „Könnte man so sagen. Es scheint so, dass Vizemarschall Ulrich versucht sich als der neuer Heereschef zu positionieren. Peter bittet mich schleunigst zurückzukehren und einen anderen Mann zum neuen Obersten Marschall zu benennen.“
Brahm hatte die Ernsthaftigkeit der Lage sofort begriffen. Er sah die Müdigkeit im Antlitz des Kaisers und entschied sich, ihn gleich die wichtigste Frage zu stellen: „Und wer sollte das dann sein? Balduin ist ja jetzt der neue Reichsgardenkommandant. Er kommt also nicht infrage.“ – „Wie sieht’s mit dir aus? Würdest du die Rolle übernehmen wollen?“, schlug Wenzel unverblümt einfach vor. Auf fast schon übertriebene Weise schüttelte sein treuer Freund da den Kopf. „Mit allem Respekt, aber ich fühle mich nicht einer solchen Aufgabe gewachsen. Viel lieber würde ich hierbleiben, um dich und deine Frau zu schützen. Das passt mir, und außerdem gibt es sowieso niemanden, dem du hierbei so sehr vertrauen könntest wie mir.“ Die Argumente Brahms leuchteten seiner Hoheit ein. Er musst ihm dabei leider recht geben.
„Hmm“, dachte Wenzel nun intensiv nach. „Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit Balduin als Obersten Marschall einzusetzen. Ich könnte ihn ja als beides, also sowohl als Kommandanten der Reichsgarde und als Obersten Marschall festlegen“, spekulierte er nun laut vor den Zweien. Daraufhin warf Balduin allerdings ein: „Ich fühle mich geehrt von Eurem Vertrauen mir gegenüber, mein Herr, aber ich glaube nicht, dass es mir möglich wäre die Fülle an Pflichten in beiden Rollen gleichzeitig zu erfüllen.“ Der Erkorene warf einen enttäuschten Blick auf seinen Untergebenen hinüber. Er wusste, dass dieser recht hatte.
„Es wird sich schon eine Lösung finden lassen. Es gibt ja noch mehr Leute als nur euch im Militär“, sagte er dann. Dennoch, es musste jemand sein, dem er hundertprozentig vertrauen konnte. So viele gab da nun auch wirklich nicht. „Gehen wir erst mal zum Reichskanzler. Der wird schon wen wissen“, ergänzte Wenzel dann noch. Darauffolgend wandte er sich an Balduin und sagte: „Du und ich, wir werden unverzüglich nach Meglarsbruck zurückkehren.“ Dann schaute er zu Brahm und äußerte: „Du bleibst derweil hier bei Amalie.“ – „Wie es meine Pflicht verlangt“, gab ihr Leibwächter da von sich. Nach einer kurzen Absprache mit Amalie und dem In-Kenntnis-Setzen der Dienerschaft ging die Reise schon los.
Hellbrauner Staub mischte sich mit den Gerüchen scharfer Kräuter, die hier wuchsen Diese eigenartige Kombination and Düften stieg nun dem fahrenden Duo in die Nasen, während sich dessen Gäule lahm den schmalen Pfad entlangschleppten. Ihre Gemüter hoben sich, als sie endlich die Geräusche des geheimen Lagers vernahmen. Ein Stimmengewirr von gleichermaßen Männern und Frauen, Klopfen, Hämmern, Schleifen, Sägen, Wiehern, all das konnte man bei der Ankunft hier hören. Petra und Lucius verloren keine Zeit und begaben sich im spärlichen Schatten der Pinien geradewegs zum Zelt des Kommandanten. Amoroso hatten sie ausgesandt, um Petras Partner, Fabio, über deren Abreise nach Camenia zu informieren. Keiner der beiden würde ihnen in die südlichen Gefilde nachfolgen. Während Fabio ohnehin nicht für solcherart gefährliche Abenteuer zu gebrauchen war und lieber auf die Rückkunft seiner Lebensabschnittsgefährtin wartete, würde der Cousin Fulcos sich wieder seinen Geschäften in der Hauptstadt widmen.
Sie banden ihre Reittiere bei der Tränke an und schritten hinüber zum großen Firstzelt Etzels. Beim Eintritt sahen sie diesen mit einer Gruppe aus zwei Männern und einer Frau diskutieren. Als er die beiden dann aber mitten in seinem Kriegsführerzelt erspähte, beendete er seine Unterhaltung schnell und schenkte den Neuankömmlingen seine Aufmerksamkeit. „Ihr seid schon wieder da? Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich davon nicht überrascht bin.“ – „Spar dir deine seltsamen Sprüche!“, machte Lucius da den ungehobelten Einwurf und fuhr fort, „In Ordanien haben sich mittlerweile ganz andere Dinge ergeben.“ Nun griff Petra aber gleich ein und übernahm die weiteren Ausführungen von ihrem Begleiter, da sie fürchtete, dass dessen unangebrachte Art Zwietracht in ihrer Gruppe säen könnte.
Im Stehen brachte sie den grauhaarigen Mann nun auf den neuesten Stand bezüglich der Dinge, die sich ereignet hatten. Er hörte ihr angestrengt zu, wobei bei einigen ihrer Erklärungen seine Gesichtsmuskeln zu zucken begannen. Als sie mit ihren Erörterungen zum Ende gekommen war, wandte sich der Mann augenblicklich um und setzte sich hinüber auf seinen Sessel. Jetzt vermerkte Petra: „Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, unsere Widerstandskämpfer nach Ordanien zu führen, um dort den Kampf gegen das Regime zu beginnen.“ Etzels abweisender Blick, den er ihr in Reaktion darauf gab, war alles, was sie brauchte, um zu wissen, was er von ihrem Vorschlag hielt.
„Aber warum nicht?“, nörgelte sie. „Der richtige Zeitpunkt ist JETZT. Willst du dieses Zeitfenster einfach verstreichen lassen?“ – „Nein“, erwiderte er kühlen Gemütes, „Die Sachlage legt sich etwas anders dar, als es dir bekannt ist.“ Dies brachte nun sowohl Petra als auch Lucius zum Stutzen. „Wir haben auch Kontakt mit den Kascharenhorden, oder dem was noch von diesen übrig ist, aufgenommen. Sie wollen auch den Aufstand gegen das Heilige Reich üben, solange es ihnen noch irgendwie möglich ist. In ihren Nachrichten an mich, haben sie die Bereitschaft geäußert, sich mit uns zu koordinieren. Beim letzten Mal hatten die Horden ja keine Absprache mit uns, wodurch die Melgaristen unsere und deren Kräfte separat behandeln konnten. Das war sicher zu unseren Ungunsten. Wenn wir uns diesmal zusammentun, würde es unsere Erfolgschancen erheblich steigern.“
„Aber können wir diesen Barbaren denn überhaupt trauen?“, kommentierte Herr Cornel da. Dem entgegnete der ehemalige Feldmarschall wie folgt: „Deren Vertrauenswürdigkeit ist von keinem Belang für uns. Sie mögen vielleicht Heiden sein, aber sie werden die Schlacht um ihr ‚altes Kascharovar‘ nicht gewinnen. Ihre Heidnischen Gebräuche sind am Aussterben, jeder, der Augen im Kopf hat, kann das klar sehen. Sie weigern sich nur die Realität anzuerkennen. Das kann uns allerdings egal sein. Was wichtig ist, ist der Nutzen, den wir aus ihnen ziehen können.“ – „Mir gefällt deine Denkweise, alter Herr“, musste ihm Lucius schließlich eingestehen. Dieser Mann war von ähnlicher Durchtriebenheit wie er selbst. Auch Petra gefiel dieser Plan. Somit erfragte sie dann:
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„Also warten wir, bis wir uns mit ihnen abgesprochen haben, um gleichzeitig nach Ordanien einzudringen?“ – „Nein!“, verneinte sie der einstige Bundesritter schroff. „Die Barbaren wollen, dass wir und all unsere Kämpfer uns mit ihnen in ihrer Heimat treffen, um die Angelegenheit Auge in Auge zu besprechen, um dann gemeinsam angreifen zu können.“ Dies löste Empörung bei der dunkelhaarigen Dame aus. „Was? Eine so weite Strecke unter größten Gefahren durch Ordanien zu ziehen, nur um uns mit den Kascharen zu treffen ist verrückt! Wenn du solch ein selbstmörderisches Unterfangen wagen willst, kannst du auch gleich direkt im Reich einmarschieren und sie zur Schlacht zu Felde herausfordern. Das hat wohl eine ähnliche Wahrscheinlichkeit des Erfolgs.“
„Aber wir benötigen deren Hilfe. Leider. Wir haben nicht die Stärke, die wir bräuchten, und wir werden diese in absehbarer Zeit auch nicht erreichen.“ Lucius stand während all dem nur nebenbei und wog deren Argumente ab. Da stupste ihn Petra an und sprach: „Du bist auf meiner Seite, oder? Komm, sag ihm, dass eine solche Vorgehensweise kontraproduktiv ist.“ Ausnahmsweise schwieg Herr Cornel für einen kurzen Moment, bis er wenig später aber die Stimme erhob: „Die Sache ist schwierig. Auch dir sollte bekannt sein, wie mächtig die Streitkräfte der Melgaristen sind. Nur wir allein werden sie unmöglich bezwingen können, selbst wenn wir die hinterhältigsten Taktiken wählten.“ – „Siehst du!“, sagte nun Etzel in Petras Richtung. Die Frau schnaubte wütend. „Aber die Frau Vogt hat auch nicht ganz Unrecht hier“, versuchte Lucius die Wogen ein wenig zu glätten.
An diesem Punkt machte der alte Haudegen vor ihnen allerding die wichtigste Bemerkung: „Wir können sowieso noch keine abschließende Entscheidung fällen. Der Freiherr ist noch nicht hier und er hat auf jeden Fall auch ein Wort in der Sache. Ich schlage vor, wir warten auf dessen Ankunft und bereden die Angelegenheit dann nochmals mit ihm. Dann wird eine Entscheidung gefällt.“ Hier konnten die Zwei ihm nicht widersprechen. Der Beschluss musste aufgeschoben werden, bis Von Alduino sich zu ihnen gesellte.
Vormittags überquerten sie die Stadtgrenze. Es war ein durchwachsener Tag, mit abwechselnd Wolken und Sonnenschein. Gleich einem kleinen Vogelschwarm überflogen Wenzel, Balduin und eine Handvoll Gardisten die Stadtmauer der alten Kaiserstadt. Anfangs steuerte er noch aus Gewohnheit auf den Melgarionenpalast zu, bis dessen Anblick von der Weite ihn daran erinnerte, dass er wahrscheinlich beim Reichstagsgebäude auf der anderen Seite des Duhn besser aufgehoben war, wenn er Peter finden wollte. Seine Gedankten setzte der Zauberer gleich in Taten um, überflog den die Stadt durchschneidenden Strom und ließ sich und seine Begleiter sanft auf dem Platz vor dem ehemaligen Inquisitionshauptquartier hernieder. Dessen Baustil war erheblich schlichter als es der des Kaiserpalastes gewesen war. Weniger Firlefanz an den Mauern und Fenstern, weniger Säulen und keine Kuppeln. Dies ließ das Bauwerk im Lafoglia Baustil weniger herrschaftlich und wohl eher noch funktional aussehen.
Seine Wachen stellten sich hinter und um seine Majestät auf. Dann schritten sie gemeinsam nach vorne zum Hauptportal der Einrichtung. Als die Soldaten am Eingang den Erkorenen und dessen Entourage in ihren rot-weißen Karouniformen herannahen sahen, gaben sie ihnen einen militärischen Salut und ließen diese ungehindert passieren. Das Innere des Gebäudes, welches Wenzel bisher nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, war insgesamt schlichter und vor allem profaner als die Architektur aus Zeiten Melgars, jedoch konnte sie mit vielen Malereien an den Wänden aufwarten. Den gut belichteten Gang entlangschreitend, liefen sie schließlich einer Person über den Weg.
Ein edler, langer Mantel in Gelb mit Stehkragen und aberdutzenden von goldenen Knöpfen, sowie dem Wappen seines Adelshauses darauf, darunter ein feines Leinenhemd, rot gefärbt und auf dem Kopf ein dazu passender, großer, gleichfalls gelber Chaperon. So stellte sich der Mann zur Schau, welchen sie hier zufällig trafen. Es war jene Kleidung, in der man als Mitglied des Reichsrates erkannt wurde. Der Herr erstarrte momentan, verneigte sich dann aber sogleich, um seiner Hoheit gebührend zu begegnen. „Seid gegrüßt, Eure Durchlauchteste Hoheit! Eugen von Rauttenstein ist mein Name, in meiner Funktion der Sprecher des Reichsrates.“ – „Gott zum Gruße!“, erwiderte Wenzel. Er war erfreut gleich auf Anhieb einem hohen Tier begegnet zu sein. Das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. So sehr er es auch versuchte, es war dem Herrn Sprecher eindeutig seine Abneigung dem Kaiser gegenüber anzusehen. Der Grund dafür war nicht ersichtlich. Die beiden sahen sich hier zum ersten Mal.
„Sein Durchlauchtest ….“ – „Herzog, mein Herr!“- „Ah, verstehe. Sein Durchlauchtest Herzog, wüssten Sie vielleicht, wo denn seine Exzellenz, der Kanzler zu finden wäre?“, erkundigte sich Wenzel nun. „Ich fürchte, dass mir dies nicht im Genauen bekannt ist. Allerdings kann ich Euch bestätigen, dass seine Exzellenz zurzeit durchaus in diesem Komplex verkehrt und temporär Unterkunft hat. Sie wären wohl besser beraten diesbezüglich einen Diener zu fragen.“ Offenbar konnte ihm der Hochadelige nicht helfen. Aber das war schon in Ordnung. Woher sollte jeder über alles Bescheid wissen? Als von hinten noch vier weitere Männer in denselben Roben wie der Sprecher gewissermaßen heranstolzierten, bedankte sich seine Majestät bei dem Befragten und verabschiedete sich auch gleich wieder. Die Herren, die vorgehabt hatten, sich auch gebührend bei dem Kaiser vorzustellen blickten ihm in Verwirrung nach, als der Souverän sich raschen Schrittes mit seinen Leibwächtern gleich wieder aus dem Staub machte. Man konnte sie aus der Entfernung dann noch ein wenig untereinander nuscheln hören. Das Echo des weiträumigen Gebäudes trug deren verzerrtes Geflüster an die Ohren der sich-entfernenden Besucher.
Weiter ging’s. Er würde schon jemanden finden, der ihm den Weg zu seinem ersten Freund sagen konnte. Um eine Ecke weiter hinten begegnete er aber jemand ganz anderem. Ganz in schwarzen Trauerfarben war sie gewandet und mit einer Gugel bis über die Augen gezogen, sodass sie die Männer schon beinah übersehen hätte. Jäh blieb sie dann aber stehen und hob den Kopf, sodass der Erkorene ihr Gesicht erkennen konnte. „Irnfrid! Bin ich froh dich hier zu sehen. Wie geh..“ Er unterbrach sich selbst, als er sich vergegenwärtigte, was denn mit ihrem Man passiert war, und dass er wohl etwas pietätlos herüberkam. Die Blässe in deren Antlitz war ein klares Zeichen ihrer Zermürbung.
„Nochmal mein aufrichtigstes Beileid, Werteste!“ Mehr sagte er nicht. Die Witwe blickte ihn nur an, scheinbar in Erwartung weiterer Äußerungen Wenzels. Doch es kam nichts, und sie brachte ihm ein kaum merkliches Nicken entgegen. Nun trat der Kommandant der Reichsgarde von der Seite herbei und fragte: „Wissen Sie, wo wir den Reichskanzler Peter finden können?“ Irnfrid starrte nur wie versteinert, aber eine Magd, die sie begleitete, gab ihm Antwort. „Seine Exzellenz ist im Südflügel einquartiert. Zimmer 452.“ – „Danke! Das ist uns von großer Hilfe!“, erwiderte der Militär. Daraufhin sagte ihnen seine Heiligkeit auch schon sein Lebewohl: „Nun denn, dann wünsche ich noch….“ – „Hast du mir sonst gar nichts zu sagen, Wenzel?“, unterbrach ihn seine alte Freundin da in respektlosem Ton.
Auf der Stelle blieb er da stehen. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Deshalb erhob die Dame schließlich ihre Stimme: „Du bist wohl nur in der Stadt, um notwendige Geschäfte zu erledigen. Dann fährst du vermutlich wieder fort, fort von hier, weil der Hof kein Ausweichquartier in Meglarsbruck hat. So schnell wie’s geht, willst du wohl wieder weg von hier, so wie an jenem Tag, an dem mein Gatte verstorben ist! Wie könnte sein Tod dich überhaupt berührt haben, wenn du sofort darauf abgezogen bist, ohne auch nur bei seiner Beerdigung dabei zu sein.“ Sie holte kurz Luft für das, was sie nun sagen würde: „Sei doch ehrlich zu mir. Sein Ableben ist dir gelegen gekommen! Er war dir schon lange ein Dorn im Auge, weil er der Held der Revolution war und du nur der kleine Junge, der immer in seinem Schatten stand!“
Diese Aussage ließ nun die Adern auf Balduins Stirne hervortreten. Voll Wut trat er hervor und fuhr Irnfrid scharf an: „Wie kannst du es wagen, so mit seiner Majestät zu reden, Weib! Wenn es…“ Er war gerade im Begriff ihr mit erhobenem Finger eine Standpauke zu halten, da intervenierte sein Herr. Er schob seine Hand vor den Kommandanten und drängte ihn mit seiner Handfläche nach hinten. „Es reicht, Balduin!“, sprach er in gelassenem Ton. „Von den Karos ist nichts anderes zu erwarten. Das ganze Leben hat man euch nur das Gehirn vernebelt!“, legte die Frau dann noch nach.
Der Kaiser reagierte nicht darauf. Er sah ihre von Trauer und Schmerz geplagten Blicke. Und er verstand diese. Er selbst war auch noch betroffen von den Dingen, die passiert waren. Höchstpersönlich hatte er versucht Theodor noch zu retten. Er hatte dessen leben sogar dem Löschen des Brandes vorgezogen. Womöglich hätte er die Ausbreitung des Feuers noch eindämmen können, wenn er das nicht getan hätte, aber stattdessen hatte er lieber den Mann, der so viel für das Land geopfert hatte, noch irgendwie zu retten versucht. Doch Irnfrid wusste das. Warum also sprach sie nun solch bösartige, unwahre Worte?
Somit entgegnete er ihr nur Folgendes: „Wenn du das, was du über mich gesagt hast, wirklich glauben willst, dann haben wir uns nichts zu sagen!“ Und mit diesen Worten gingen sie auseinander.
Volmar von Kosen, Konrad zu Niederstett, Hartmann von Herchtenau. Sie alle waren angesehene Krieger, jung und, was von größter Bedeutung war, aus den Kreisen derer stammend, die die Heilige Revolution mitgetragen hatten. Kein einziger von ihnen war dem Souverän bekannt. Dieser saß dem Reichkanzler Peter gegenüber an einem riesigen, aufwändig gearbeiteten Arbeitstisch und sah sich die Unterlagen, welche Peter ihm zu diesen zusammengetragen hatte, durch. Sein alter Schulfreund klopfte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum, in gespannter Erwartung von Wenzels Antwort.
„Ich weiß nicht, ob ich einem dieser Vorschläge zustimmen kann“, gab er schließlich kund. „Von keinem dieser Männer habe ich bisher auch nur gehört. Nur bei einem kenne ich den Vater, aber das auch nur flüchtig. Ich bin mir wirklich nicht sicher bei diesen Leuten, und ich muss mir aber VOLLKOMMEN sicher sein, bei der Besetzung eines solch quintessentiellen Postens.“ Daraufhin machte der Regierungschef eine ernste Miene. „Ich habe dir die vertrauenswürdigsten, fähigsten Männer, die in Frage kommen, herausgesucht. Derart kurzfristig habe ich es zwar nicht vermocht sie hier persönlich erscheinen zu lassen, doch kannst du mir glauben, wenn ich sage, dass sie keine von der Sorte sind, die uns hintergehen würden“, rechtfertigte er seine enge Auswahl. Der Kaiser entgegnete darauf: „Wie viel Zeit hast du wirklich mit diesen Menschen verbracht, dass du dich vor mir mit solchen Garantien für diese verbürgst? Weißt du, wie sie sich im Privaten verhalten, wenn keiner hinsieht?“
Der Kanzler entschied sich hier besser nicht zu antworten. Das war alles, was Wenzel brauchte, um seine Zweifel bestätigt zu sehen. Infolge bat ihn sein Gegenüber dann aber eindringlich, seine Meinung zu ändern. „Was sollten wir denn sonst tun? Wir brauchen einen neuen Obersten Marschall und Ulrich kann es mal garantiert nicht sein! Du kannst nicht ausschließlich Leute, mit denen du innig vertraut bist, in wichtige Positionen hieven. Manchmal muss man auch dem Wort anderer glauben und sich auf die Ehre und Aufrichtigkeit anderer verlassen.“ Sein Gesprächspartner schnaubte entnervt und sagte dann: „Nein.“ Peter ließ daraufhin sein Gesicht in seine Hände sinken und verschloss entmutigt die Augen. „Was soll ich nur mit dir machen?“, sprach er.
Etwas dahinter saß Balduin und horchte den beiden stillschweigend zu. Er hatte nichts zu all dem beizutragen, hatte aber auch das Gefühl, dass es nicht seinem Stand entsprach, hier etwas einzuwerfen. Dann geschah es aber. Es klopfte an der Türe. Es war kein normales Klopfen, sondern ein gewaltiges Donnern. Der Erkorene schreckte sofort auf, denn er kannte dieses. Er wandte sich um und bat die Person herein. Wie er es bereits richtig erraten hatte, betrat nun der Ex-Kommandant der Reichsgarde den Raum. „Ferenc! Was machst du denn hier, bitte? Bist du nicht in deine Heimat zurückgekehrt?“
Ohne zu zögern, erwiderte der Kerl mit dem langen Zottelbart: „Als ich gehört habe, was mit dem Palast passiert ist, habe ich mir gedacht, ‚Kascharovar kann warten.‘ In einem solchen Zustand kann ich das Reich nicht verlassen. Das würde mir mein Gewissen niemals erlauben.“ Es steht wohl außer Frage, dass Wenzels und Peters Stimmung sich schlagartig aufhellte. Sie sahen nun eine Lösung für ihr Dilemma vor sich. „Du bist ein Lebensretter, weißt du das, du alter Hund!“, spaßte der Kaiser in nun sichtlich wohlgelaunterer Manier. „Warum denn das?“, musste er da natürlich nachfragen. Der Reichkanzler antwortete für seinen Freund: „Wir suchen nach jemandem, der der nächste Oberste Marschall werden kann. Leider ist Theodor Kuhn in jener Unglücksnacht von uns geschieden.“
Ferenc klopfte sich dreimal aufs Herz. Er sah Peter und dann Wenzel in die Augen. Er wusste genau, was sie dachten. „Wenn ihr wollt, dass ich die Rolle übernehme, wäre ich dazu bereit. Einstweilen.“ – „Ich danke dir! Das Reich braucht noch immer jemanden, der ihm Stabilität verleiht. Du bist sicher ein solcher. Ich werde zusehen, dass du diese Pflicht nicht zu lange ausüben musst. Ich weiß ja, was du eigentlich wolltest“, äußerte sich Wenzel erleichtert. „Ein langjähriger Wegbegleiter und enger Freund Theodors und jemand, der bei den Truppen hoch angesehen ist. Du bist als neuer Oberster Marschall sicher über jede Kritik erhaben. Niemand wird ein Problem mit dir haben“, stellte Peter schnörkellos fest. „Vielen Dank! Ich werde mein Bestes geben“, gab der Kascharenkrieger zur Antwort. Somit war es beschlossen. Wie es das Schicksal wollte, hatte sich eine perfekte Lösung für das Problem seiner Majestät ergeben.
Umringt von Soldaten räumten Arbeiter den Schutt und andere Überreste des Melgarionenpalastes beiseite. Anbei stand Silke und kontrollierte genau, was sie hier zu Tage förderten. Jedes auch nur irgendwie erhalten gebliebene Schriftstück zählte. Ihre Entgeisterung bezüglich des Geschehenen hatte sie bereits überwunden. Bedauerlich war es natürlich trotzdem. „Seid mir ja vorsichtig! Ich will nicht, dass ihr mir Sachen, die vielleicht noch zu retten wären, durch eure Grobheit ruiniert!“, ermahnte sie die Männer, die man ihr hier zugeteilt hatte.
Völlig überraschend erschien dann aber ihr Chef hier. „Hallo! Was macht Ihr denn hier, Eure Hoheit?“ Erst als er nah genug an sie herangekommen war, bemerkte sie, wie müde und fahl er wirkte. Seine Assistentin wusste, dass dies mit den Ereignissen in Bezug auf Viktoria in Verbindung stand. Man hatte sie als eine der Wenigen darüber informiert, was tatsächlich vorgefallen war. Wenzel antwortete ihr: „Tut mir leid, dass ich dir eine solch mühselige Aufgabe anvertraut habe. Ich bin hier wegen meiner Artefakte. Hast du sie schon alle geborgen?“ – „In der Tat habe ich das, mein Herr!“
Er ließ den Blick über die Trümmer schweifen und erinnerte sich zurück, welch ein grandioser Prachtbau hier einmal gestanden hatte. Es erfüllte ihn mit Wehmut. All die schönen Freskos, die himmelwärts strebenden Türme, die die Kuppeln krönten, die atemberaubenden Säulenhallen und die kunstvollen Mosaikböden, das alles war nun zerstört oder schwer beschädigt. All die Anstrengungen, die vorangegangene Generationen gemacht hatten, um dieses Meisterwerk zu erschaffen umsonst. Wenigsten war sonst nichts in der Stadt ein Raub der Flammen geworden. Gemeinsam begaben sich die beiden dann sogleich hinüber zu einer kleinen Arbeitshütte, in der sie die verzauberten Gegenstände verwahrt hielt. „Ihr wollt sie also wieder mit euch nach Greifenburg nehmen, damit sie in greifbarer Nähe sind.“ – „Nein, nicht ganz“, widersprach ihr der Magier. „Ich werde sie alle mitnehmen, ja, aber eigentlich bin ich hier, weil ich das Szepter brauche.“ – „Um Eure Tochter zu aufzuspüren?“ – „Ganz genau.“
Augenblicklich schnappte er sich das eben genannte Objekt. Er konzentrierte sich und stellte sich Viktorias Gesicht vor. Als er dann aber auf den blauen Stein in dem Heiligen Artefakt blickte, war kein Leuchten zu sehen. „Wie bitte? Was ist hier los?“, bekundete er laut seine Verwunderung. Er versuchte es nochmal. Wieder schien das Reichszepter nicht den geringsten Umstand zu machen. Es zeigte ihm keine Richtung an, selbst nach dem dritten und vierten Versuch nicht. Der Kaiser grübelte über dieses Kuriosum eine Weile. Letzten Endes konnte er sich aber keinen Reim darauf machen, warum das Szepter das Mädchen nicht ausfindig machen konnte.
Mit dem Objekt in der Hand trat er nun vor die Türe. Der Zauberer war hierhergekommen, um seine Adoptivtochter zu finden. Wie konnte er dies trotz dieses unerwarteten Hindernisses bewerkstelligen? Der Suchende hatte da schon eine Vorstellung. Erneut konzentrierte er sich, und siehe da, das Juwel des Artefakts begann zu erstrahlen. „Gut“, kommentierte Wenzel da mit ein wenig Nervosität in der Stimme.
Dann plötzlich wurde er aus seiner gedanklichen Isolation herausgerissen. Eine Traupe an Menschen bewegte sich nun heran und begann einen Mords Bohei zu machen. Rufe von, „Lang lebe der Kaiser!“, und, „Ave Melgar!“, erschallten aus der Menge. Sie klangen freudig, ja gar hoffnungsvoll. Die Gardisten, die ihn an diesen Ort begleitet hatten, bildeten sofort einen Kreis um den Erkorenen, damit sie diesen beschützen könnten. Es schien so, als ob sich hier bald eine große Meute versammeln würde. „Mein Herr, es wäre besser, wenn wir uns von hier entfernen!“, empfahl ihm eine seiner Leibwachen. Diese hatte natürlich recht, jedoch blieb der Kaiser noch ein wenig, wie gebannt, stehen und ließ sich von der fröhlichen, sehnsüchtigen Begrüßung seines Volkes umspülen. Es stimmte ihn glücklich zu beobachten, dass die Menschen seine Bemühungen um deren Wohl erkannten und wertschätzten. Es waren all die großen Bauprojekte, die er in seinem Namen in den letzten Jahren beordert hatte, aber auch die Besuche bei jenen, die Unrecht und Unterdrückung erfahren hatten, die das Volk gesehen hatte, und die es ihm hoch anrechnete.
Schließlich wollte er dann aber wieder mit seinen Männern davonfliegen, da die Menschenmassen hier tatsächlich immer weiter anzuschwellen schienen. Als er gerade zum Abflug ansetzen wollte, galoppierte dann ein Soldat auf pechschwarzem Hengst heran. Es war ein Generalmajor mit einer einfachen Topffrisur. „Preiset die Märtyrer!“, deklarierte dieser, nachdem er vor seiner Majestät zum Stillstand gekommen war. Wenzel überlegte kurz, wie der Spross Theodors noch geheißen hatte, dann fiel es ihm aber gleich wieder ein. „Alexander, oder?“ – „So ist es, eure Hoheit“, gab der Bursche zurück.
„Ich bin schon im Begriff wieder abzureisen. Was brauchst du denn von mir, Junge?“ – „Euch helfen, das möchte ich.“ Dies ließ den Herrscher aufhorchen. Theodors Sohn erklärte sich: „Wenn es eine Möglichkeit gibt, wie ich Euch beim Kampf gegen die Feinde Ordaniens behilflich sein kann, lasst es mich, bitte, wissen. Ich will meinen Vater rächen!“ Der Magier ging zu ihm hin und klopfte ihm auf die Schulter. Dann erwiderte er dem jungen Mann: „Weißt du, ich hätte da etwas, wo du mir Beistand leisten könntest.“ Daraufhin konnte man sehen, wie sich Eifer im Gesicht Alexanders abzeichnete.