Mehrere Monate später
Die ersten Strahlen der Morgendämmerung erhellten die obersten Spitzen der Kirchtürme. Es war ein klarer Morgen und der Posaunist stieg die lange Wendeltreppe zum höchsten Turm der Verkündigungskathedrale hinauf, um die allmorgendliche Fanfare zu blasen. Oben angekommen, wehte ihm eine ordentliche Böe entgegen, die ihn kurz zögern ließ. Dann setze er die Posaune an seine Lippen und holte tief Luft. Urplötzlich riss es ihn da aber aus seiner Routine heraus und beinahe fiel ihm sein Instrument aus den Händen, so sehr hatte er sich erschrocken. Auf einem der unzähligen Pinakel stand eine Person! Umweht von starken Winden, wirbelten ihre karmesinroten Haare wild herum. Als Viktoria den Geistlichen erblickte, winkte sie ihm zu. Dieser hatte zwar schnell begriffen, dass es sich bei der Person um die Prinzessin handelte, war aber trotzdem immer noch zu geschockt, um ihren Gruß zu erwidern.
„Hmm! Dann halt nicht!“, trotzte das Mädchen mit Händen an den Hüften. Sie drehte sich in Richtung Süden und warf einen Blick weit in die Ferne. Im Stadtviertel jenseits des Duhn befand sich ein großer Gebäudekomplex inmitten der goldenen Dächer. Es war kaum auszumachen, doch auf dem Dach des großen Gebäudes, welches einmal das Hauptquartier der Inquisition gewesen war und nun als Versammlungsort des Reichsrates diente, war die Figur eines Mannes zu erkennen. Von hier aus sah er wie eine Ameise aus, doch es war der Kaiser. Auf dem Dach dieses Gebäudes stehend tat es ihr Wenzel gleich und spähte hinüber zu seiner Tochter.
Dann ließ er den Ball, den er mitgebracht hatte vor sich schweben und feuerte ihn mit starker telekinetischer Kraft dorthin, wo sich Viktoria positioniert hatte. Während die Prinzessin auf das Objekt wartete, kam ein starker Windstoß und ließ sie das Gleichgewicht verlieren. Als der Posaunist, der diese immer noch beobachtete, das sah, rief er: „Pass auf!“ Seine Sorge war vergebens, da sie sich, bevor sie hinunterfallen konnte, einfach in der Luft schweben ließ und dann wieder senkrecht aufrichtete. Auf einmal kam da der Ball angeschossen. Er verfehlte Viktoria um mehr als zehn Meter. Sie bremste seine Wucht ab und holte ihn mit Telekinese zu sich herüber. Danach versuchte sie ihn so zielgenau wie möglich zu ihrem Vater zurückzupassen.
Auf die Distanz war das eine große Herausforderung. Damit dieser nicht zu kurz flog, packte sie ordentlich Kraft in ihren Schuss. „Wusch!“ Der Ball flog mit solch gewaltiger Kraft davon, dass ein lauter Knall durch die ganze Hauptstadt schallte. Er verfehlte Wenzel deutlich, welcher nur zusehen konnte wie das Ding, einer Kanonenkugel gleich, in das Haus neben ihm einfuhr und eine Wand zum Einsturz brachte. „Oh, Gott! Vielleicht war das doch keine so gute Idee!“, stellte Wenzel mit seiner „Superkraft“ der Retrospektive fest. Er flog gleich hinunter, um zu überprüfen, ob auch niemand verletzt worden war. Zum Glück war außer dem Sachschaden nichts passiert. Der Herrscher versicherte den Dort-Anwesenden gleich, dass er selbstverständlich für den Schaden aufkommen würde. Da kam dann auch schon Viktoria angeflogen. „Tut mir leid. Ich habe wohl ein wenig danebengetroffen.“ – „Ein wenig ist gut gesagt! Naja, du kannst froh sein, dass sonst nichts passiert ist“, ermahnte sie der Zauberer.
Damit war das Magietraining für heute schon wieder beendet. Die beiden flogen wieder zurück in den Palast. Während des Fluges, sagte Wenzel zu seiner Tochter: „Du hast schon große Fortschritte gemacht. Dein Gefühl für Magie ist großartig. Nur hast du eben das Problem, dass du zu viel Kraft hast. Reduziere sie noch mehr.“ – „Ich werde es versuchen, Herr Vater.“ Die Kleine war ein Naturtalent. Das war aber etwas, das ihr Zauberlehrer ihr nicht sagen konnte. Dennoch, sie beherrschte nach ein paar Monaten nun schon das meiste von dem, was Wenzel konnte. Folglich hatte er sich entschieden, sie in weitere Geheimnisse einzuweihen.
Wie ein wilder Eber stieß die Prinzessin die Tür zur kaiserlichen Privatbibliothek auf und stürmte dann auch ebenso wie einer hinein. Silke sprang dadurch gleich voller Schreck auf. „Bei den Heiligen! Ich krieg hier gleich noch einen Herzinfarkt wegen dir, junge Dame!“, verlautbarte die Forschungsassistentin. Direkt nach ihr betrat Wenzel das Zimmer. „Das ist eine Bücherei, Viktoria. Hier sind wir, bitte, leise!“, ermahnte er sein Kind. „Tut mir leid, sie ist immer so ungestüm“, entschuldigte er sich gleich anschließend bei Silke. Gesagte Dame bestätigte ihn nur und meinte: „Ist schon in Ordnung. Sie kennt sich ja noch nicht mit so etwas aus.“ Verlegen kratzte sich der Kaiser hinter dem Ohr, als er das hörte.
Dann ging er zum dem über, weswegen sie hergekommen waren. „Das hier ist meine persönliche Sammlung an Wissen. Sie hat den Zweck alles, was man an Informationen über Magie, und auch wenn es nur irgendwie entfernt damit zu tun hat, zusammenzutragen. Die Bücher und anderen Schriftstücke, die du hier sehen kannst, sind aus dem ganzen Reich herbeigeschafft worden. Wir sind noch lange nicht fertig, alles, was man finden kann, durchsucht und analysiert zu haben.“ Seine Tochter blickte auf die Bücherregale, die bis hoch an die Decke reichten, schien aber nicht sonderlich berauscht von all dem zu sein. Ihr Vater erklärte unterdessen ungebremst weiter: „Geschichte, Geographie, Medizin, Theologie. Aus allen möglichen Sparten haben wir Werke zusammengetragen, in der Hoffnung Hinweise und Informationen über Magie zu finden.“
„Weißt du also nicht, wie genau Magie funktioniert?“, fragte nun das Mädchen nach. „Doch, zu einem Teil. Aber leider wurde das Wissen darüber von den Usurpatoren, die die Melgarionen ermordet hatten, fast komplett vernichtet. Jetzt muss ich erst wieder vieles finden oder neu entdecken.“ Viktoria nickte schlicht. „Es ist meine Aufgabe als der Erkorene, also als DER Magier, dieses Wissen zusammenzutragen, aufzuschreiben und der Nachwelt weiterzugeben. Das ist auch eine Aufgabe, die du von mir erben wirst, Viktoria.“ - „Hahhhh, wirklich?“, seufzte die Kleine. Der Souverän lachte da und meinte: „Ja, wirklich. Wenn du älter bist, wirst du schon noch zu schätzen lernen, was ich hier tue.“
Er deutete ihr, ihm zu folgen. Die beiden begaben sich hinüber zu einem von mehreren großen Schreibtischen. Auf diesem lagen allerhand Zettel, Tintenfässer, Federn, Bücher und Mappen herum. Das Wichtige lag aber genau in der Mitte vor dem Sitzplatz. Ein Buch mit grünem Einband, auf dem „De Arte Magica“ zu lesen war. „Das ist mein ….wird mein großes Werk werden, mein Vermächtnis“, begann der Kaiser seine Ausführungen. Er hob das Buch auf und gab es Viktoria in die Hände. „Hier drin fasse ich meine Erkenntnisse zu Magie geordnet und kurz zusammen. Je mehr ich darüber lerne, desto voller wird das Buch werden.“ Das Mädchen blätterte flüchtig durch und blieb nur kurz bei Bildern von Zauberkreisen hängen. Dann schlug sie das Ding auch schon wieder zu.
Sie sagte nichts, ein Zeichen dafür, dass sie relativ wenig Interesse an „langweiligem“ Buchwissen hatte. In Reaktion darauf vermerkte Wenzel: „Ich weiß, dass das alles fade für dich ist. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich war auch mal genauso wie du. Lernen hat mich gelangweilt und ich wollte lieber hinaus in die Welt und Abenteuer erleben. Wenn du etwas reifer bist, wirst du verstehen, warum diese „faden Sachen“ so wichtig sind.“ Nun erkundigte sich das Kind: „Muss ich das auch alles lernen?“ – „Wir werden es langsam, Stück für Stück durchgehen. Bei Magie werde ich dir keinen Zeitplan geben.“ Sie zog eine unzufriedene Miene. Ihr Vater wusste nicht, wie er ihr hier helfen konnte. Wenn er an sich selbst zurückdachte, war seine Schlussfolgerung, dass er ihr einfach die Zeit und den Raum geben sollte, um selbst ein Interesse zu entwickeln und verstehen zu lernen. Das könnte aber noch lange dauern….
„Ach, so! Das hätte ich jetzt fast vergessen!“, kam da ein Ausruf Wenzels, der die beiden anderen Anwesenden verwirrte. „Die nette Dame hier ist Silke und sie ist meine Assistentin. Stell dich, bitte, bei ihr vor!“ – „Guten Tag, ich heiße Viktoria Althun!“, kam sie seiner Bitte nach. Auch seine Assistentin stellte sich der Kleinen mit freundlichem Lächeln vor. Dann erläuterte der Herr: „Sie ist eine sehr kluge Frau und ist diejenige, die sich hier am besten auskennt. Wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit zu ihr gehen. Sie wird immer hier sein. Zumindest wenn es nach mir geht, wird sie auch dir einmal zu Diensten sein.“ Infolge verneigte sich Silke höflich vor ihm. Das war eine Geste, die der Kaiser ganz und gar nicht mochte und sofort unterband. „Bitte, lassen Sie das sein, meine Liebe. Ich will hier mit Ihnen zusammenarbeiten, nicht mich verehren lassen!“
„Wie Ihr wünscht…“, wollte die Dame gerade antworten, als ihr da auf einmal das Kind ins Wort fiel. „Verneige dich, Untertan!“, posaunte sie heraus und plusterte sich dabei auf. „Viktoria!“, fuhr sie Wenzel scharf an. Es war das erste Mal, dass er so einen Ton mit ihr angeschlagen hatte. Seine Tochter blickte ihn nur erstaunt an, schien sich aber nicht zu fürchten. „Tut mir leid, es war eigentlich nur ein Scherz“, gab sie dann heraus. Sie hatte verstanden, welch emotionales Thema dies für ihren Adoptivvater war. Der Grund dafür war ihr aber nicht bewusst.
Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, bat der Mann das Mädchen kurz hier zu warten. Er huschte schnell hinüber in ein angrenzendes Zimmer. Drei Minuten später kam er mit 4 Gegenständen zurück, die er auf dem Tisch platzierte. „Dies sind die vier Heiligen Artefakte. Sie stammen noch von Melgar selbst. Sogar die gewöhnlicherweise desinteressierte Viktoria horchte da auf, denn den Erkorenen Gottes, den Messias, kannte ja wohl absolut jeder. Danach delegierte seine Majestät die Erklärung an Silke weiter, damit sein Kind einen Eindruck davon bekommen konnte, wie gebildet sie war.
Die Frau begann auszuführen: „Das hier ist die Kaiserkrone und mit ihr kann man die Sprache von Tieren verstehen. Dann haben wir hier noch das Szepter, mit dem man, wie wir kürzlich herausgefunden haben, Dinge und Leute aufspüren kann. Das Amulett hier ist leider kaputt, darum kann es leider nichts mehr.“ Und so weiter und so fort. Ausnahmsweise war Viktoria mal aufmerksam.
„Ihre junge Hoheit ist ….eine Herausforderung“, erstattete ein älterer Herr mit Halbglatze dem Erkorenen Bericht. „Sie passt oft nicht auf, erledigt die Aufgaben, die sie in Eigenarbeit erledigen soll, nur schlampig und manchmal widersetzt sie sich sogar meinen Aufträgen! Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht genau, wie ich mit ihr zurechtkommen soll.“ Folglich erwiderte Wenzel ihrem Lehrer: „Mir ist bewusst, wie sie ist. Es ist schwierig. Ich werde mal mit ihr darüber ein ernstes Gespräch führen.“ – „Einmal abgesehen davon ist sie gar nicht unbegabt. Sie versteht die Dinge recht schnell, wenn sie einmal aufpasst und arbeitet. Ihre Hoheit ist kein dummes Kind. Sie hat lediglich einen Rückstand, da sie nicht von frühen Jahren an schon Bildung bekommen hat.“ Der Kaiser erfreute sich zumindest das zu Ohren zu bekommen. Er bedankte sich bei dem Mann und verabschiedete ihn.
Ihre anderen Privatlehrer hatten ihm Ähnliches mitgeteilt. Am Nachmittag versuchte er dem Mädel dann klarzumachen, warum diese Angelegenheit so wichtig war. „Das ist aber alles so anstrengend und ich will nicht lernen! Können wir nicht lieber mehr mit Magie machen?“, gab sie zur Antwort. Der Vater versuchte ihr Verständnis entgegenzubringen. Er erinnerte sich an seinen eigenen Vater, Bertold, zurück und wie sinnlos dessen Druck und Bestrafungen für schlechte Leistungen gewesen waren. Das wollte er so bei seiner Tochter nicht machen. Auch wenn andere sie vielleicht als „verzogene Göre“ beschreiben würden, so wollte er nicht, dass sie sich vor ihm fürchtete. Daher erklärte er ihr: „Bei mir hat es auch länger gedauert, bis mir ein Licht aufging. Du musst das Lernen nicht lieben, versuch einfach zu machen, was dir deine Lehrer sagen, okay?“ Die Prinzessin nickte ihm nur wenig überzeugend zu und entgegnete: „Mhm.“
Auch Amalie hatte dazu etwas zu sagen. Es war nur etwas völlig anderes als es ihr Ehemann vermutet hätte. Am späteren Nachmittag setzten sich die zwei zusammen und besprachen Viktorias Verhalten. „Sie ist aufsässig und hört nicht auf das, was man ihr sagt“, stellte Amalie fest. „Ich bin mir dessen bewusst“, konterte Wenzel. „Ich habe von einigen Leuten, unter anderem auch den Dienern, gehört, dass sie manchmal einen ihrer „Momente“ hat, also ausrastet und einfach Dinge auf den Boden wirft und kaputt schlägt! Das ist völlig inakzeptabel!“, erzählte die Frau nun ihrem Liebsten, der ein überraschtes Gesicht machte.
„Hast du sie schon dafür schon getadelt?“ – „Ja, natürlich. Aber ich kann sie ja noch nicht mal richtig bestraften. Ihr Hausarrest zu geben ist auch nicht sinnvoll, da sie ohnehin noch immer keine Freunde hat. Könntest du sie nicht einmal….“ - „Nein, kann ich nicht“, entgegnete Wenzel sogleich. „Ich werde unsere Tochter nicht züchtigen!“ - „Das hab ich auch nicht sagen wollen“, rechtfertigte sich seine Gattin. Er wusste aber genau, dass sie dies sagen wollte. Somit meinte er: „Sie wird auf Basis der Reaktionen anderer auf ihre Handlungen verstehen lernen, wie man sich zu verhalten hat.“ Amalie schüttelte da nur den Kopf.
Plötzlich wurden sie von der aufschwingenden Zimmertür aus ihrer Diskussion gerissen. „Feuer! In Viktorias Zimmer brennt es! Helft mir, bitte!“ Augenblicklich sprangen beide Eltern auf und eilten hinüber ins nahe gelegene Zimmer. Beim Eintreten sah man schon, wie der Fensterstock in Flammen stand. Sie züngelten nach oben zur Decke und drohten hier alles in Flammen aufgehen zu lassen! Wenzel reagierte sofort. Er zerstörte die Fensterscheibe mit einer Druckwelle. Danach flog er hinaus ins Freie, hinunter zu einem Brunnen, der sich ein Stück entfernt auf der anderen Straßenseite befand.
Die Kleine, die bisher nur wie angewurzelt danebengestanden war, schaute jetzt hinaus, was ihr Vater da machte. Der Magier beförderte via Telekinese eine große Menge an Wasser aus dem Brunnen herauf, das er in einer Blase über sich schweben ließ. Dann flog er mit dieser herüber, um den Brand mit einem großen Schwall an Flüssigkeit zu löschen. Als Viktoria das sah, flog sie auch beim Fenster hinaus zum Brunnen, um es ihm gleich zu tun. Wenzels erster Guss hatte ohnehin nicht ganz ausgereicht. Gleich darauf kam dann das Mädchen mit einer weiteren Wasserblase daher. Mit dieser machten sie der restlichen Glut den Gar aus.
Es war vollbracht. Die zwei schwebten wieder herein und setzen ihre Füße am Boden auf. Was nun folgte war eine lange Tirade an wohlverdienter Schelte, die sich Viktoria einhandelte. Ihre Leibwächterin, Ylva, stand nur daneben und verblieb still. Dass Viktoria, „Brenne, brenne lichterloh!“ gerufen hatte, als die Frau das Feuer beim Betreten des Zimmers entdeckt hatte, behielt sie lieber für sich. Die Kleine war ein furchteinflößendes Wesen.
Es war ein warmer Frühlingstag und die Bienen sammelten fleißig ihren Nektar an Sträuchern, die über und über mit Blüten besetzt waren. Entlang relativ schmaler Gänge, die aber blitzsauber gefegt waren, schritt eine für diese viel zu große Delegation. Der Kaiser, gefolgt von einer Reihe an Wachen, Priestern und anderem Schulpersonal wanderte den Gang nach vorne, um schließlich bei einer der Türen in einen Raum hineingeführt zu werden. Alle fein herausgeputzten Schüler erhoben sich gleichzeitig von ihren Sitzplätzen, als seine Majestät das Klassenzimmer betrat. „Ave Melgar!“, riefen sie alle brav, so wie man es ihnen beigebracht hatte. Auch die Lehrkraft stimmte mit ein. Es war Vater Dimitrios, der momentan mit diesen den Schreibunterricht abhielt. Wenzel begrüßte diesen und blickte sich im Raum um. Die intrikate Decke sah immer noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Erst danach stellte er sich der Klasse vor.
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„Ich bin Wenzel, wie ihr alle sicher wisst.“ Es war eine unnötige Vorstellung, sein Porträt hing an der Wand hinter ihm. Dann ging er zu einem Schüler in der zweiten Reihe und fragte: „Und wie ist dein Name?“ – „Hadmar, Eure Hoheit.“ – „Gut. Und was habt ihr in den letzten Monaten hier so gelernt?“ Der Bursche war sehr nervös und gab nur abgehackte Antworten. „Ist schon okay. Ich werde dich schon nicht auffressen“, versuchte der Zauberer ihn zu versichern. Es half kaum etwas. Dann ging er noch zu einigen anderen Kindern und redete mit diesen über die Dinge, die sie hier im Unterricht vermittelt bekamen. Während dies vor sich ging, standen die restlichen Leute, die er mit im Schlepptau hatte, nur im Türbereich herum und schauten blöd.
Es dauerte nicht allzu lange, dann machte er sich wieder auf den Weg. „Vielen Dank, alle miteinander! Gutes Gelingen wünsche ich euch noch!“ Wenzel spazierte wieder hinaus und begab sich dann mit den Leuten hinauf in die Direktion. Dort nahmen dann alle auf bereits vorbereiteten Bänken und Stühlen Platz. Die Sonne lehnte sich derart stark herein, dass unmittelbar die Vorhänge zugezogen wurden oder zumindest jene, welche den Lichteinfall, der seine Majestät direkt traf, blockierte. Das Zimmer war überaus geräumig und hatte wie die meisten Räume hier eine Decke mit schönen Stukkaturarbeiten und Malereien.
Der neue Direktor trug die langen schwarzen Roben eines Geistlichen. Der Erkorene ließ seinen Blick kurz über die versammelten Personen wandern, bis er schließlich sichtlich überrascht von einer der Anwesenden die Augen aufriss. Es war eine Frau, die einzige Frau, die, seit er an diesem Ort zur Schule gegangen war, geblieben war. Seine alte Lehrerin, Frau Adele war immer noch hier. Sie trug jetzt zwar lange, schwarze, betont keuschere Gewänder, aber sie hatte immer noch einen Posten hier. Die nun schon ältere Dame erwiderte natürlich seinen intensiven Blick, woraufhin er sie ansprach: „Sie habe ich lange nicht mehr gesehen, Frau Adele. Wie geht es Ihnen?“ - „Es geht mir gut. Euch geht es anscheinend auch gut, wie ich sehen kann. Das ist erfreulich.“ Auf ihre Antwort musste der Kaiser nun lachen. „Haha! Besser als Sie es zumindest damals vermutet hätten, nach all den Dingen, die geschehen sind.“
Schließlich gingen sie aber zum Geschäftlichen über. Seine Hoheit räusperte sich noch einmal, dann erhob er das Wort: „Was ich von den Schülern so mitbekommen habe, wird ein sehr starker Fokus auf religiöse Erziehung und das Studium der Heiligen Schrift gelegt. Nichts Geringeres habe ich mir von unserem Bildungssystem erwartet, seitdem es wieder die Kommune übernommen hat.“ – „Vielen Dank, mein Herr!“, reagierte der Direktor darauf. Wenzel zog infolge eine Augenbraue nach oben und erläuterte: „Das war kein Kompliment! Anstatt echter Kompetenzen stehen nur Dogmen und Indoktrination im Zentrum. Was soll aus dieser Generation werden? Ich sag es ihnen: Brave Schäfchen, die alles tun was man ihnen sagt, die aber nicht verstehen, was sie tun und wie die Welt funktioniert!“
Das Lehrpersonal war völlig baff. Einen Moment blieben sie nun entgeistert stehen. Adele versuchte keine Gefühlsregung zu zeigen, doch ihr ehemaliger Schüler kannte sie noch gut genug, um ihr anzusehen, dass sie seine Konfrontation der Pfaffen amüsierte. Nachdem er seine Gedanken vom vorangegangenen Schlag wieder zusammengesammelt hatte, gab der Schuldirektor endlich zur Antwort: „Aber legitimieren die Lehren des Teleiotismus nicht die Autorität des Erkorenen? Ist Euch dies nicht dienlich, mein Herr?“ – „Oh, das ist es“, entgegnete Wenzel und fügte hinzu, „wenn ich das Volk zu braven Zinnsoldaten erziehen wollte und alle, die mir im Weg stehen ausradieren wollte. Aber sagen Sie mir: Wäre das eine gute Welt? Ist das die Welt, in der wir einmal leben möchten?“
Das Schuloberhaupt errötete und überlegte einen Augenblick. Dann erwiderte er: „Ja, in der Tat, Eure Heiligkeit!“ Diese Antwort hatte der Kaiser natürlich erwartet. Es war dieselbe, die ihm die Direktoren jener anderer Schulen, die er bereits besucht hatte, auch gegeben hatten. „Wenn ich so etwas Antiklerikales äußere, vermuten sie einen Test ihrer Treue dahinter. Immer ist es dasselbe. Die Antwort wird für sie immer nur das Testament sein. Ihre Logik lässt gar nichts anderes zu“, ging es dem Herrscher durch den Kopf. Alles starrte nun einzig auf Wenzel, der in seinem großen Lehnstuhl thronte. Niemand traute sich mehr etwas zu sagen. „Keiner dieser Feiglinge ist Manns genug, mich zu fragen, ob ich auch tatsächlich an die Heilige Schrift glaube!“, dachte er sich. Schließlich begann er wieder zu sprechen: „Ich möchte, dass ihr größeres Augenmerk auf andere Disziplinen außerhalb des Glaubens legt. Ich habe im Prinzip nichts gegen eure Praktiken“, betonte er aus Notwendigkeit, „nur gibt es noch andere Dinge als Beten, die ein Schüler dieser Akademie können sollte, wenn er sie wieder verlässt.“
„Es wird so geschehen, Eure Hoheit!“, kam erwartungsgemäß von diesen zurück. Danach erledigten Wenzels Diener noch einige verwaltungstechnische, bürokratische Notwendigkeiten mit der Schulverwaltung, Dinge mit denen er sich nicht persönlich herumschlug. Er schrieb seinen Namen ins Gästebuch ein, verabschiedete sich und machte sich rasch wieder auf den Rückweg. Auf dem Weg hinaus durchschritt er dann allerdings den schön angelegten Park, der sich in all den Jahren auch kaum verändert hatte. Der Herrscher hielt kurz inne und schaute sich die roten Blumen an, deren Namen er immer noch nicht kannte. Anschließend schweifte sein Blick zur alten Mauer hin, auf deren anderer Seite die großen Felder waren und ein Stück weiter entfernt Olemar lag.
Letztlich fiel sein Augenschein dann aber hinüber auf das Gebäude, in dem die Schlafsäle waren. Wie hypnotisiert wandelte er hinüber und blieb vor dem kleinen Vorplatz stehen. Er blickte auf die Pflastersteine und dann hinauf zu dem Balkon im 3. Stock. Eine Zeit lang blieb er nun einfach nur so stehen. Einstweilen begannen schon die Anwesenden, die ein Stück Abstand zu ihm hielten, leise untereinander zu nuscheln. Eine der Wachen trat nun zu ihm heran und fragte: „Ist alles in Ordnung, mein Herr?“ Wenzel gab ihm ein Kopfschütteln zur Antwort. Mit schwerer Stimme sprach er dann: „Einst hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich jemals hierher zurückkehren würde. Dies ist der Ort, an dem die Revolution ihren Anfang nahm. Ein Ort, ein Moment, der mir nur zwei Optionen ließ: Tod oder Revolution.“ Die Wache verstummte ehrfürchtig, ebenso wie die anderen, die dahintergestanden und seine Worte vernommen hatten.
Der Zauberer war sich im Klaren, dass es hier im Internat allerhand Gerüchte über jene Ereignisse damals gab. Sie interessierten ihn nicht das geringste bisschen. „Ferenc!“, rief er nun seinen Leibwächter herbei. „Ja, Eure Majestät?“, kam es zurück. „Wir machen uns wieder auf den Rückweg in die Hauptstadt. Meine Visiten sind hiermit beendet.“ Während sie schon zu den Wägen für die Rückfahrt gingen, holte er aus seiner Tasche einen Briefumschlag und händigte ihn seinem alten Waffenbruder aus. „Lass diesen Brief, bitte, meinen Schwiegereltern überbringen. Nachdem wir schon hier sind, ist das kein großer Aufwand.“ – „Wollt Ihr denn die Herrschaften nicht persönlich besuchen?“ – „Ich hätte kein Problem damit, aber da meine Ehefrau nicht mitgekommen ist, sehe ich wenig Sinn darin, diesen alleine einen Besuch abzustatten.“ – „Wie Ihr meint.“
„Kling! Klang!“, trafen die Klingen aufeinander. Inmitten einer der kleineren Innenhöfe des Palastes waren zwei Schwertkämpfer in ein heißes Duell verstrickt. Auf dem grünen Rasen standen sich zwei Männer, die die Revolution hervorgebracht hatte gegenüber: Brahm, der Kommandant der Kaisergarde und Wenzel, der Kaiser des Heiligen Ordanischen Reiches. Wenzel wich einen Schritt zurück, um Luft für seinen nächsten Angriff zu bekommen. Brahm versuchte dies zu nutzen, um selbst einen Angriff von oben aus der Ochs Stellung zu machen. Wie sein Spiegelbild holte der Erkorene zu einem Schwung von unten nach oben aus. Die beiden Schwerthiebe trafen sich genau in der Mitte. Dann machten die beiden Seitensprünge, wodurch sie sich, wie in einem Tanz im Uhrzeigersinn zueinander drehten.
„Ich weiß wirklich nicht mehr weiter. Theodor will nicht mit mir kooperieren und die Kirchenvertreter mit ihrem Tunnelblick helfen mir auch nicht weiter, selbst wenn sie ihrer eigenen Überzeugung nach auf meiner Seite stehen“, verschaffte Wenzel seiner Frustration Gehör. Der Befehlshaber seiner Garde drehte weiterhin seine Kreise mit ihm und entgegnete: „Das ist schon eine wirklich gefuchste Angelegenheit!“ Er parierte einen horizontalen Hieb seines Widersachers. „Ja, ich weiß keine Lösung dafür. Hast du irgendwelche Ideen?“, erfragte der Kaiser nun von seinem Kontrahenten. Dieser machte einen blitzschnellen Stich nach vorne, dem sein Gegenüber allerdings geschickt nach links auswich. Dann erwiderte er: „Hmmm. Schwierig.“
Während er ganz kurz abgelenkt war, holte Wenzel zu einem weiten Schwung von oben aus, sein Gegner hielt ihm aber sogleich die Breitseite des Schwerts entgegen. Der Schlag traf diese, jedoch machte der Kaiser dann einen Salto über Brahms Kopf hinweg und fügte ihm einen Schlag in den Rücken zu. „Wirklich?“, rief da der verärgerte Brahm. „Ich dachte, wir hätten gesagt, dass Magie hier als Schummeln gilt. Du fällst mir hier wortwörtlich in den Rücken, Wenzel!“ Fast schon etwas kindlich kicherte sein Herausforderer da und meinte: „Tut mir leid. Ich konnte es mir nicht ganz verkneifen. So oft kommen wir ja nicht mehr dazu, so wie in alten Zeiten gegeneinander anzutreten.“ Sein alter Freund musste da ein wenig grinsen. Dann legten sie beide ihre Schwerter in die Wiese und setzten sich hin.
Anschließend äußerte Brahm: „Ich habe da eine Idee.“ – „Die wäre?“ – „Warum vergrößerst du nicht einfach die Kaisergarde, baust sie zu etwas Bedeutsamerem aus.“ Überrascht sah ihn Wenzel an und überlegte dann einen Moment. Schließlich antwortete er: „Das ist eine wirklich gute Idee, eigentlich. Ich glaube aber nicht, dass ich dem Heer Kompetenzen entziehen könnte, um sie stattdessen meiner Garde zu übertragen.“ – „Nein. Ich glaube auch nicht, dass das so eine gute Idee wäre. Aber du kannst ja einmal Peter fragen, was die rechtlich festgelegten Aufgabenbereiche des Militärs sind. Alles, was nicht explizit illegal ist, könntest du auch in dem Aufgabenbereich der Kaisergarde inkludieren.“ Wie ein Schaukelpferd wippte Wenzels Körper und damit auch sein Kopf in Übereinstimmung vor und zurück. Dann sagte er: „Danke, Kumpel! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
Wenige Wochen später
Es herrschte trübes Wetter und nur am Vormittag hatten es ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen geschafft die dichte Wolkendecke zu durchbrechen. Auf dem Platz direkt vor dem Melgarionenpalast war ein ganzes Regiment von über tausend Soldaten in Formation aufgestellt. Ein lebhafter Wind wehte und ließ die Fahnen, welche sowohl die Reichsfahne als auch die Kaiserstandarte umfassten, heftig herumflattern. Alle waren sie vortrefflich in der Karouniform der einstigen Kaisergarde gekleidet. Nur Wappen war nun ein anderes auf ihren Tuniken abgebildet, nämlich eines, das eine Sichel, die Ähren abzuernten schien, abbildete, über der eine Triquetra prangte. Es war ein ungewöhnliches Symbol, das man bis hierhin noch nie gesehen hatte und dessen Bedeutung ein Rätsel war.
Seine Majestät, Wenzel Althun, trat vor die Truppen. „Saaaalutiert!“, dröhnte es da aus Kommandant Duenitz Kehle, woraufhin alle Mann dem simultan folge leisteten. Danach wurde ein sehr kurzer Abschnitt aus dem Heiligen Testament vorgelesen. Unter lautem, rhythmischem Trommeln folgte anschließend das Erheben der Hand zu Schwur. Alle Männer sagten die Eidesformel, die sie zuvor auswendig gelernt hatten auf:
„Wir schwören zu Gott dem Allmächtigen einen feierlichen Eid, Seiner Teleiotischen Majestät, unserem Allerdurchlauchtigsten Herrn, Wenzel Althun dem von Gottes Gnaden Erkorenen, Kaiser von Ordanien, König der Zeemark und Corakiens, Schutzherrn von Camenia und dem Kascharenland treu und gehorsam zu sein, auch Allerhöchst allen unseren Vorgesetzten und Höheren zu gehorchen, dieselben zu beschützen und zu ehren, ihren Geboten und Befehlen in allen Diensten Folge zu leisten, gegen jeden Feind und wo immer es Seiner Majestät Wille erfordern mag, bei Tag und bei Nacht, in Schlachten, in Stürmen, Gefechten und Unternehmungen jeder Art, mit einem Wort, an jedem Orte, zu jeder Zeit und in allen Gelegenheiten tapfer und mannhaft zu streiten, unsere Truppen, Fahnen und Standarten in keinem Falle zu verlassen, uns mit dem Feinde nie in das mindeste Einverständnis einzulassen, und mit Ehre zu leben und zu sterben. So wahr uns Gott helfe.“
Ihrem Kaiser die Treue geschworen, würden diese nun als Mitglieder der neuen Reichsgarde dienen, welche fortan die Kaisergarde ablöste. Während sie den Treueeid aufsagten, konnten alle sehen, wie ein kleiner Stern in den Augen des Erkorenen aufleuchtete. Die Gardisten werteten dies als ein Zeichen Gottes. Immerhin waren sie ja auch die Frommsten, die die Rekrutierer finden hatten können. Diese Zeremonie war ein dem Eindruck nach großer Moment, der allerdings nichts am Machtgefüge im Reich ändern würde. Seine Hoheit hatte jedoch ein starkes Zeichen seiner Entschlossenheit damit gesetzt. Der Oberste Marschall zollte dem Ereignis bewusst keine Aufmerksamkeit und hatte am selben Tag demonstrativ eine Inspektion der Stadtgarnison, die allerdings in einem anderen Stadtteil angesiedelt war, durchgeführt. Im Endeffekt war es nicht mehr als Symbolpolitik von beiden Seiten. Einstweilen.
Alles war dunkel. In dieser Finsternis formten sich aber langsam Umrisse und bildeten sich Formen, bis sich schließlich der Ort, an dem sie sich befand in vollem Umfang präsentierte. Überall lagen nur Schutt und Trümmer. Viktoria drehte sich nach links. Hier konnte sie ein gewaltig großes, rundes Kirchenfenster ausmachen. Seine Darstellungen von Blüten und Engeln waren zur Hälfte heruntergebrochen und die unzähligen bunten Scherben dessen lagen am Boden darunter. Viktoria drehte sich nach rechts. Hier war sah sie das Kirchenschiff hinunter. Viele der Säulen waren umgefallen und die Decke, die sie getragen hatten, war heruntergefallen und lag in riesigen Trümmern verteilt auf dem einst schönen Fliesenboden der Kathedrale. Die Front der Kirche war auch teilweise eingefallen. Was in aller Welt war hier passiert?
Das Mädchen flog nach oben in die Luft, um einen besseren Überblick zu bekommen. Als sie hoch genug war, bekam sie einen Ausblick über die Stadt. Es war eine Stadt, die in Flammen stand und von Zerstörung gezeichnet war. Schockiert realisierte sie nun, dass sie diese Aussicht hier kannte. Dies war Meglarsbruck und die Kirche hier war die Verkündigungskathedrale! Was konnte sie tun? Sie wusste es nicht. Irgendwie hatte sie aber das Gefühl, dass sie hier warten sollte. Jemand würde kommen. Sie ließ sich wieder auf den Boden hinunterschweben. Nachdem sie auf festem Untergrund aufgesetzt hatte, endete der Traum.
Viktoria riss die Augen auf. Sie konnte nichts sehen und setzte sich auf. Sie lag in ihrem Bett, das sich in ihrem Zimmer befand. Alles ganz normal. Sollte sie vielleicht einmal mit ihrem Vater über diese Träume reden? …..“Meh! Was soll’s“, war ihre Schlussfolgerung. Wer wusste schon, ob das tatsächlich eintreten würde? Das Kind stand aus dem Bett auf und ging ein wenig im Raum hin und her. Es war unmöglich sich hier in dieser Dunkelheit zu orientieren, daher erzeugte sie nun eine kleine Flamme in ihrer Handfläche. Irgendwie wollte sie sich nicht wieder schlafen legen. Deswegen wanderte sie nun in ihrem Zimmer umher. Immer wieder starrte sie in die Flamme. Feuer faszinierte das Mädchen. Auch ihre Eltern, ihre echten Eltern, hatten ihr immer gesagt, dass ein Feuer in ihren Augen brannte, nicht im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich.
Ihr neuer Vater war der Einzige, in dessen Augen auch etwas leuchtete. Das gab ihr das Gefühl, dass er die alleinige Person war, die sie zumindest irgendwie verstehen konnte. Das stimmte so aber nicht ganz. Er konnte ihre Umstände nachvollziehen, hatte aber keine Ahnung, wie sie sich fühlte. Trotzdem war er, ihrer Meinung nach, ein guter Mann. Er versuchte immer nett zu ihr zu sein. Leider war auch er, wie alle anderen hier, erpicht darauf, dass sie viel lernte. Dennoch, andere Kinder in ihrem Alter hatten oft Angst vor ihr. Für sie war das deshalb der Fall, weil diese einfach zu schwach und zu feige waren, um sich gegen sie durchzusetzen! Ihre Adoptivmutter hatte mittlerweile schon einige Male versucht ihr herüberzubringen, dass sie zu den anderen Mädchen „nett“ sein sollte. In Viktorias Augen war das nur Schwachfug! Sie waren diejenigen, die sie oft überhaupt erst wütend machten.
Während ihr all diese Dinge durch den Kopf gingen, trippelte sie auf ihrem weichen Teppich auf und ab. Der Lichtschein ihrer „magischen Lampe“ erhellte die edlen Möbel des Kinderzimmers. Es war immer noch wie ein Traum für sie hier. Solch einen Reichtum hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nie vorstellen können. Doch jetzt lebte sie hier. Sie bekam alles, was sie wollte. Das Essen hier war gut und sie durfte so viel essen, wie sie schaffte. Trotz all dem wirklich anstrengenden Lernen, dem sie sich ständig widmen musste, war es schön hier. Sie würde hier nicht mehr weg wollen. Auch ihre echten Eltern vermisste sie nicht allzu sehr. Papa hatte sie immer nur bestraft, wenn sie etwas anstellte, das ihm nicht gefiel.