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Das Heilige Reich [German]
1. 01 Willkommen im Heiligen Reich

1. 01 Willkommen im Heiligen Reich

Langsam, aber stetig spuckte der Erdboden die Sonne wieder aus. Ihre Strahlen trafen auf einen Haufen verschwitzter Männer, die mit Spitzhacken, Meißeln und großen Hämmern den Berg vor ihnen bearbeiteten. Als dies geschah, drehten sich ein paar von ihnen um und schauten kurz der aufgehenden Sonne entgegen. „Nicht schlapp machen! Kommt, Jungs, macht weiter!“, rief ihnen da jemand zu. Sogleich wandten sie sich wieder ihrem Werke zu. Was war dieses Werk nun? Die Bergarbeiter von Szinesbanja waren eifrig damit beschäftigt den Marmor hier im Tagebau in möglichst großen Stücken abzubauen und zur weiteren Verarbeitung abzutransportieren. Starke Arme hoben die Werkzeuge in die Luft, und nachdem sie den höchsten Punkt erreicht hatten, wurden sie wieder nach unten geschwungen, um mit möglichst großer Wucht auf das Gestein zu prallen. Dies hier war eine der größten Marmorlagerstätten in Kaphkos. Sie war bekannt dafür, dass das Gestein hier viele verschiedene Farben und Schattierungen annahm. Da gab es weißen, schwarzen, blauen und roten Marmor. Oft gab es auch Abschnitte in den Felswänden, wo sich die Farben vermischten, und faszinierende Muster und Farbtöne annahmen. An anderen Tagebauen ließen sich auch noch andere Färbungen, die ins Gelbe und Grüne gingen, finden. Die meisten davon waren in den entsprechend benannten „Regenbogenbergen“ in Kascharovar zu verorten. Sowieso war der überwiegende Großteil dieses Bodenschatzes in dem östlichen Königreich zu finden.

Das Material wurde nun in großen Mengen benötigt. In den letzten Jahren wurde eine gigantische Anzahl an neuen Gebäuden, vor allem aber eine immense Menge an Statuen in Auftrag gegeben, die natürlich aus dem edlen Rohstoff, der als Marmor bekannt war, hergestellt werden sollten. All die entstellten und zerstörten Heiligenstatuen in allen Orten und Kirchen von Kaphkos wurden nun systematisch ersetzt oder restauriert, was eine Explosion der Nachfrage nach dieser seltenen Erde bewirkte. Kurz gesagt, die Bergknappen hatten alle Hände voll zu tun. Kontinuierlich war das Auftreffen ihrer metallenen Werkzeuge auf das harte Gestein zu hören, sodass es für die Kumpel im Grunde zu einem omnipräsenten Hintergrundgeräusch wurde.

Nach vielen Stunden des harten Schuftens wurde es aber Zeit für die Mittagspause. Die Arbeitskollegen setzen sich zusammen und aßen gemeinsam ihr bescheidenes Mahl. Die Mittagshitze knallte mittlerweile mit voller Stärker herab und die Männer spürten das auch. „Und wie sieht‘s jetzt mit deinem Haus aus, Györg? Es müsste jetzt langsam mal fertig sein, oder?“ Der Adressierte wandte sich seinem Kollegen zu und antwortete mit noch vollem Mund: „Die Mauern stehen und das Dach ist drauf, das ist mal das Wichtigste. An zusätzlichen Sachen, neuen Räumen und so weiter, werde ich sowieso immer zu tun haben. Meine Frau hat ja immer wieder neue Einfälle in die Richtung. Du kennst sie ja eh.“ Die anderen mussten darauf kurz lachen. Sein Kollege sagte dann: „Ich hab jetzt endlich auch einmal den Kopf über Wasser. Zum Glück ist es in den letzten Jahren immer mehr bergauf gegangen mit allem.“ Die Runde gab ihm einstimmig recht. „Seitdem mein Haus das letzte Mal von den Horden zerstört wurde, habe ich gar nichts mehr von diesen gehört oder gesehen“, stellte Györg unaufgefordert fest.

Sein Freund vermerkte dazu aber gleich: „Die sind immer noch da, glaub’s mir! Aber soviel ich mitbekommen habe, werden sie immer und immer schwächer. Früher hatten sie Grund für etwas zu kämpfen. Aber jetzt da wir einen eigenen Landtag haben und die alten Gebräuche immer mehr aussterben, haben sich mehr und mehr von ihnen entschieden die Waffen ruhen zu lassen und einfach ein friedliches Leben zu führen.“ Seine Aussagen stießen auf etwas Ungemach bei den anderen. Sie wollten dieses Thema lieber sein lassen. Nach einer Weile des Schweigens meinte aber Györg selbst: „Die, die übrig sind, haben sowieso keine Chance mehr und werden irgendwann einfach wegsterben. Das Rad der Zeit ist nicht aufzuhalten.“ Die Männerrunde gab ihm stillschweigend recht. Die Pause war dann letztlich vorüber und es ging wieder zurück ans Werk. Der Marmor baute sich ja nicht von selbst ab und ihre Löhne bekamen sie auch nicht fürs Nichtstun.

Viele Jahre waren nun seit dem Ende der Revolution ins Land gezogen. Frieden war überall eingekehrt, auch wenn ein paar Wenige immer noch aussichtslosen Widerstand an den Rändern des Reiches gegen dessen Herrschaft leisteten. Recht und Ordnung war in fast alle Städte und Dörfer zurückgekehrt und die Heilung von all den tiefen Wunden, die der Krieg und die ihm vorausgegangene Unterdrückung verursacht hatten, war in vollem Gange. Doch auch wenn nun alles wieder besser wurde, zum Alten würde nichts mehr zurückkehren, weder zur Zeit der Melgarionen, noch dem kurzen Zwischenspiel der alethischen Herrschaft. Es gab nun einen Reichstag und mehrere Landtage, welche Angelegenheiten von unterschiedlicher Relevanz behandelten. Vorbei waren die Tage, in denen der Herrscher allein die Politik, die Minister und, naja, eigentlich alles im Staat bestimmte. Eine neue Ära war angebrochen, eine, die die Revolution geboren hatte. Über dem Reich war ein neuer Morgen gegraut. Eine Unmenge an Leuten, unterschiedlichster Art erlebte diesen mit.

In den ersten zwei Jahren direkt nach der Revolution hatte es wenig zu essen gegeben. Viele Bauern waren im Krieg gestorben und viele waren auch in den Wirren woanders hingezogen. Zudem zog in dieser Zeit eine Seuche durchs Land, die auch eine Anzahl an Leuten dahinraffte. Weniger Felder wurden damals bebaut und daher gab es weniger Getreide zu essen. In der Not griffen viele Leute in die Trickkiste. Bäcker Fritz mischte zum Beispiel seinem Brot oft Sägespäne bei. Allen fiel das sehr bald auf und es wurde überall über ihn geredet. Er verdiente sich den Spitznamen „Herr Trockenbrot“, den er bis heute nicht ablegen konnte. Und das, obwohl er sicher nicht der einzige Bäcker war, der sein Brot „streckte“. Er war halt leider derjenige, bei dem es am meisten aufgefallen war. Die Probleme nahmen in den Folgejahren kontinuierlich ab, bis schließlich alles wieder beim Alten war. Sofern man von einer Rückkehr zum Alten sprechen konnte, zumindest. Das normale Leben blieb dasselbe, aber der Hexenwahn war nun Geschichte.

Dietrich, der selbst ein Bäckergeselle war, war nun frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit. Kurz lief ihm eine Gänsehaut auf, weil er die noch eiskalte Morgenluft spürte, während er über die Straßen spazierte. Neureut, ein kleines Städtchen östlich der Karantischen Wälder, war im Wesentlichen derselbe verschlafene Ort geblieben. Auch um diese Uhrzeit war schon einiges los. Die Handwerker machten sich in ihre Arbeit auf und die Händler begannen ihre Stände aufzubauen, während ein paar wenige Soldaten umherzogen oder einfach herumstanden, um auf die Dinge ein Auge zu werfen. Auch Dietrich warfen diese einen flüchtigen Blick zu, als dieser an ihnen vorbeischlenderte. Über die Hofgasse schritt er und überquerte den sogenannten Märtyrerplatz. Dieser relativ im Stadtzentrum gelegene Platz war erst letztes Jahr umbenannt worden. In dessen Mitte war immer noch der Brunnen, nach dem der Platz ursprünglich benannt war. Nun war neben diesem eine kleine Kriegerstatue auf einem Sockel aufgestellt worden. Wie man es sich wohl denken kann, war diese ein Denkmal zum Andenken für die, die in der Revolution gefallen waren.

Unseren Handwerksgesellen interessierte dies nur recht wenig, als er an dem Monument, das er ohnehin nun jeden Tag sah, vorbeiging. Gedanklich war er sowieso bereits bei seiner Arbeit. Den Teig für das Brot zu kneten war eine schwere, anstrengende Arbeit. Jeder der diese Tätigkeit verrichtete, wusste das. Gleich in der Gasse um die Ecke war die kleine Bäckerei Utz, benannt nach ihrem Inhaber. Der ältere Bäckermeister war auch schon auf, als sein Geselle den Laden betrat. Sogleich zog sich Dietrich um, um sich ans Werk zu machen. Zur Mittagszeit war dann schon wieder das Groß der Arbeit erledigt. Als der Mann dann vor die Bäckerei hinaustrat, um ein wenig frische Luft als Abwechslung zu der mit Mehlstaub verhangenen, zu schnappen, bekam er mit, dass irgendetwas am Märtyrerplatz vor sich ging. Geschwind machte er sich dorthin auf, wie es offenbar auch ein paar andere getan hatten. Als er dort ankam, begriff Dietrich aber, dass er die Ereignisse hier schon längst verpasst hatte. Ein paar Interessierte schlugen sich, genauso wie er, herum, aber ansonsten war nichts mehr vom Vorgefallenen zu sehen. Ein paar Meter neben der Statue war ein großer, roter Fleck am Boden, das war alles. Es war ganz offensichtlich Blut, aber der Mann hatte keine Ahnung, was passiert war. Darum fragte er eine Dame, die auch hier herumstand.

„Ob ich gesehen habe, was hier vorgefallen ist? Ja, hab ich. Ein Herr hat versucht das Denkmal zu beschmieren, woraufhin, die Stadtwachen eingegriffen haben. Er hat auf die Kerle hingeschlagen und was dann passiert ist, können Sie sich ja denken.“ Dietrich war überrascht, aber nicht sonderlich schockiert. Dann blickte er hinüber auf die Statue und sah, dass direkt davor auf dem Boden ein schwarzer Fleck war. Das war die Farbe, mit der der Vandale versucht hatte, das Denkmal zu verunstalten. „Was für ein dummer Grund, sich selbst zu opfern!“, dachte sich Dietrich da nur. „Man sollte wissen, dass die Soldaten da keinen Spaß verstehen.“ Dem Bäckergesellen war es natürlich glasklar, dass viele derer, die in der Stadtwache dienten, auch in der Revolution gekämpft hatten. Ihr Kommandant war damals sogar in den Märtyrerbrigaden gewesen. Diese Männer verstanden keinen Spaß, wenn es um so etwas ging. Nach diesem Vorfall begab sich Dietrich wieder zurück zur Bäckerei. Die anderen würden ihn sicher auch fragen, was auf dem Platz geschehen war, und er würde es ihnen erzählen. Immer wieder hörte man von Leuten, die einen Kopf kürzer gemacht wurden, weil sie das Falsche sagten oder taten. Das war nichts Neues. Jeder wusste es.

Ludo war ein recht stiller Junge. Es gab so einiges, das immer durch seinen Kopf ging, doch er behielt es lieber für sich. Dies hatte weniger damit zu tun, dass er sich nicht traute sich vor anderen zu äußern, sondern vielmehr damit, dass er einfach nicht das Verlangen verspürte seine Gedanken mit denen, um sich zu teilen. Für ihn gab es einfach keinen Grund sonderlich viel zu sagen. Die Pfaffen interpretierten seine Verschwiegenheit immer als Zeichen dessen, dass der Verlust seiner Eltern in so jungen Jahren den kleinen Ludo traumatisiert hatte. Dem Jungen war dies nicht bewusst und er dachte einfach, dass die Priester möglichst nett zu ihm sein wollten. Wären ihm deren Annahmen bezüglich seiner Person bekannt gewesen…., naja, eigentlich hätte dies nichts geändert. Er hätte es ihnen wahrscheinlich trotzdem nicht gesagt, dass er sich gar nicht mehr an den Tod seiner Eltern erinnern konnte. Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, war wie er hungrig und ziellos durch einen kleinen Ort lief, als ihn die Geistlichen fanden und mit sich nahmen.

Der Bursche lebte nun in einem Waisenhaus gemeinsam mit einer ganzen Reihe an anderen Waisenkindern. Er war sicher nicht allein hier, aber es gab hier nur Jungen, keine Mädchen. „Wir sind eine Einrichtung für Männer, nicht für Frauen!“, war was ihm Vater Gregor dazu gesagt hatte, als er einmal gefragt hatte, warum nur Männer hier waren. Das leuchtete ihm ein. Alles musste schön getrennt bleiben, wie Gottes wollte! Jeden Tag würden die Burschen verschiedene Arbeiten erledigen, die mit dem Erhalt des Hauses zu tun hatten: Gemüse-, Obst- und Getreideanbau, Reparaturarbeiten am Gebäude, Viehzucht, Putzen, und vieles mehr. Es wurde aber immer auch Zeit für das Studium des Testaments und für das Beten eingeräumt. Den Priestern und Betreuern war dies EXTREM wichtig. Ludo hatte in den wenigen Monaten, die er hier war, auch schon gelernt, von welch großer Relevanz die Verehrung Gottes und die Einhaltung seiner Gesetze war. Dennoch bläuten die Geistlichen die Botschaft unnachlässig in die Jungen, das hatte für sie sogar noch größere Wichtigkeit, als die Arbeiten, die in dieser Selbstversorgungseinrichtung zu erledigen waren. Auch Ludo kannte alle Gebete schon in-, und auswendig. Jeden Tag ratschte er sie herunter.

Sei gegrüßt, Melgar, heiliger Erkorner Gottes!

Sei gegrüßt, du der Schöpfung kostbarer Schatz!

Sei gegrüßt, du nie verlöschendes Licht!

Gepriesen sei deine Sippschaft!

Gepriesen sei deine Herrlichkeit!

Lob sei Gott, dem Herrn!

Melgar war der Erkorene Gottes. Der Herr hatte ihm die Macht gegeben Wunder zu wirken. Er war es, der den Weg für das Reich Gottes auf Erden bereitet hatte. Für sie würde es nur eine Zukunft geben, nämlich eine, die den Willen Melgars und die himmlischen Gesetze in der irdischen Welt durchsetzten. Eben diese Gedanken gingen tatsächlich durch den Kopf des jungen Ludo, als er im leeren Speisesaal stand. Besen in der Hand, kehrte er energetisch zwischen den alten, abgenützten Holzbeinen der Tische und Sessel. Er holte die ganzen Brösel und anderen Mist hervor, der sich hier jeden Tag vom Essen ansammelte und kehrte ihn auf einen größeren Haufen zusammen. Dabei war er zu faul, um die Tische und Sessel beiseitezurücken, sondern holte nur hervor, was er erwischen konnte, sodass der Boden für das Auge sauber erschien. „Ohnehin wird hier jeden Tag saubergemacht. Ich brauche mir hier kein Bein ausreißen“, waren die Gedanken des Burschen. Wild und mit der Intention so schnell wie möglich wieder mit der Arbeit fertig zu sein schwang er den Stiel mit Stroh am Ende herum.

Über all das wachte die Abbildung Wenzels, die oben an der Wand hing. Es war eine sehr schmeichelhafte Darstellung des Kaisers, die in allen öffentlichen und religiösen Einrichtungen des Reiches hing. Stets fand man diese Seite an Seite mit den Ikonen Melgars vor, obgleich zwischen beiden Personen ein riesiger Unterschied war. Kaiser Wenzel wollte nicht Objekt der Verehrung, ganz im Gegenteil, dieser hatte persönlich eine starke Abneigung gegenüber so etwas. Dennoch hingen sein Porträt und die Ikone Melgars gleich dem Janus nebeneinander. Zwei Gesichter derselben Gestalt: Des Erkorenen. Das Kind, das den kommunalen Speisesaal fegte, hatte davon natürlich keine Ahnung. Er schob nochmal den ganzen Dreck auf einem größeren Haufen zusammen. Dann holte Ludo ein Schäufelchen, um ihn in den Mistkübel zu verabschieden.

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„En garde, du Schuft!“, kreischte es plötzlich, als die Flügeltür abrupt aufschwang und mit viel zu viel Kraft gegen die Wand krachte, um einen Mordslärm zu machen. Nico kam hereingedonnert. Offenbar war er schon mit seiner Aufgabe, den Gang draußen sauber zu machen, fertig. Als sich Ludo zu ihm umdrehte, hielt dieser seinen Besen am unteren Ende oberhalb der Borsten. Schräg nach oben stand der lange Stiel weg, den der Junge nun in Richtung seines „Kontrahenten“ richtete. „Warte, ich bin noch nich….!“ Bevor der Herausgeforderte den Satz beenden konnte, schwang sein Freund, der in diesem Fall sein Feind war, sein „Schwert“ schon auf ihn. „Ach, Gott!“ Ludo blieb keine andere Wahl als sich zu verteidigen. Auch er griff um, damit sein Besen zum imaginären Schwert wurde. Dann begann das Duell. Es war ein feuriger Austausch an Hieben und Stichen. Links, rechts…oben? „Aua!“ Schrie Ludo auf, als seines Opponenten Schwert ihn direkt auf dem Kopf schmetterte. Dieser hielt daraufhin einen kurzen Moment inne. Dann aber spürte Nico etwas auf seiner Schulter. Es war die starke Hand von Vater Gregor, wie es der Bursche sogleich realisierte, als er sich zu dessen grimmigen Gesicht umdrehte.

„Wirklich? Wirklich, ihr Zwei?“, fuhr er sie in verurteilendem Ton an. „Seht euch doch mal an, was ihr hier macht!“, verlautete der alte Mann, als sein faltiger Finger neben die beiden auf den Boden zeigte. Die zwei Buben blickten hin und sahen, dass sie alles, was Ludo zusammengekehrt hatte, wieder vertreten und herumgewirbelt hatten. Nico und sein Freund zucken sogleich zusammen und entschuldigten sich kleinlaut. Das war dem Geistlichen aber nicht genug. Er trug ihnen auf, die Arbeit hier drin endlich zu erledigen, und als Strafe für ihr dummes Herumgeblödel würden sie danach noch etwas anderes tun müssen. Niedergeschlagen fügten sie sich und begannen gemeinsam unter der Aufsicht von Vater Gregor die Sauerei, die sie angerichtet hatten, wieder zu richten. Insgeheim war der Pfaffe dennoch nicht wirklich wütend auf die beiden. Er wusste, dass Jungen halt so waren, und dass es sogar recht wünschenswert war, dass sie sich für den Kampf interessierten. Alle Waisen im Reich wurden traditionell von einer Ablegerorganisation der Kirche aufgenommen und großgezogen. Sie würden und sollten sogar dem Herrn und dem Reich dienen, wenn sie groß waren. Daher lag die religiöse Erziehung sehr stark im Fokus hier. Eines Tages würden die Besenstiele zu echten Schwertern werden und dann würde es gut sein, wenn sie wüssten, WEM diese dienten.

Auf der Wiese hinter dem Stall war ein Mordsgegröle zu hören. Kinderlachen mischte sich mit deren lautem Geschrei. Wenn man näher herantrat, konnte man sehen, wie ein Bursche gerade einen Stock, den er in der Hand hielt, in die Luft hochzuschmeißen andeutete. Er machte drei Probeschwünge, alle davon sahen überaus komisch aus. Jedes Mal, wenn er der Bursche namens Faramund sein dünnes Ärmchen nach oben schwang, woraufhin es dann wieder schlapp zurückpendelte, ging sein ganzer Körper mit und wankte derartig, dass man meinen könnte er würde jeden Augenblick umfallen. Beim vierten Mal ließ er dann schließlich den Stock los und warf ihn, so hoch er nur konnte in die Luft. Dann versuchte er schnell eine ganze Menge an Stöckchen, die auf der kurzgemähten Wiese vor ihm wirr aufgelegt waren, einzusammeln. Das Spiel endete, wenn der hochgeworfene Stock wieder am Boden aufprallte. Das war das „Stockspiel“. Und da war er schon. Faramund hatte leider nur fünf Stöcke einsammeln können. Die anderen meinten, dass der sechste nicht mehr zählte, da der Stecken zuvor schon heruntergekommen war.

„Woher wollt ihr das so genau wissen? Ihr habt ihn noch nicht einmal am Boden aufkommen gehört!“, ärgerte sich der Junge. Er hatte recht, denn man konnte kaum hören, wenn der kleine Stock das Gras berührte. Seine Spielkameraden wollten davon aber nichts hören. „Nein, der letzte gilt nicht! Du hattest nur fünf. Schummeln geht hier nicht, Faramund!“, sagte ihm Viktoria gebieterisch. Etwas böse blickte er auf das Mädchen hinüber und schnaubte: „Du bist doof! Kein Wunder, dass dich keiner mag!“ – „Hör auf damit! Du brauchst dich nicht so darüber ärgern. Es ist nur ein Spiel!“, versuchte ihre Freundin, Isolde, die Situation zu entschärfen. Der kleine Hitzkopf beruhigte sich gleich wieder. Dann war Viktoria an der Reihe. Sie holte sehr weit aus, schwang den Stock aber auch auf seltsam anmutende Weise von unten, genauso wie es die anderen davor getan hatten. Nur ihr Wurf war gewaltig und der Zweig flog beeindruckend hoch hinauf. In einer irren Hast warf sich das Mädel förmlich auf den Boden und raffte so viele Stöcke zusammen, wie sie nur konnte. Das geworfene Objekt schien ungewöhnlich lange zu brauchen, bis es wieder herabkam. Als es dann endlich in die Wiese fiel, hatte Viktoria alle, ja alle Stecken aufgesammelt.

Gunna und Isolde waren total beeindruckt, aber natürlich musste sich Faramund wieder beschweren. „Das gibt’s nicht! Du musst geschummelt haben!“ – „Wie soll ich hier bitte geschummelt haben, ha? Das ist nur ein einfacher Stock, den wir alle hochgeworfen haben.“ Der Bub, unsicher wie er seine Vorwürfe rationalisieren sollte, antwortete einfach: „Du weißt, ja was sie über dich sagen!“ – „Faramund! Nein!“, kam es sogleich hinter ihm von Isolde. „Aber ist’s nicht wahr?“ Auf diese Aussage hin schaute ihn das Mädchen noch viel grimmiger als zuvor an. Als er dann aber seinen Blick wieder zurück zu Viktoria wandte, begann ihm bange zu werden. In dominanter Pose stand sie breitbeinig da. Ihr durchdringender Blick fiel ihn scharf an. In ihren Augen brannte ein Feuer, ein Feuer so heiß und rot, wie das Karmesin ihrer Haare. „He…“, bevor der Junge überhaupt das Wort beenden konnte, gab ihm das Mädchen einen ordentlichen Schubser, sodass dieser auf seinen Hintern fiel. Eigentlich wollte sie ihm eine hauen, alle konnten ihr das ansehen. Wenn man sie wütend machte, wurde sie zu einer Furie, die niemand zähmen konnte. Doch das Kind hielt sich diesmal zurück und drehte sich einfach um.

Da kamen plötzlich ein paar Erwachsene um die Ecke des Stalls. Es waren nicht bloß zwei, sondern gleich einige. „Gunna! Was machst du hier!“ Verdattert antwortete der Junge: „Wir spielen das Stockspiel. Ich…“, seine Mutter ließ das Kind nicht seinen Satz beenden, sondern schnappte ihn einfach am Arm. „Nie hörst du auf mich!“, schimpfte sie und warf einen verachtenden hinüber auf das die rothaarige Viktoria. Die Eltern der anderen Kinder waren auch hier. Einer nach dem anderen, zerrten sie ihre Kinder wieder mit sich nach Hause. Eine, nämlich Isolde, blickte noch zurück zu ihrer Freundin, während sie am Arm weggezogen wurde. Allein blieb Viktoria hier stehen. Niemand sonst war mehr da. Sie wusste genau warum. Und sie hasste es. Wütend nahm sie einen der Stöcke, mit denen sie gespielt hatten und warf ihn gegen die Wand des Schuppens, der in dieselbe Richtung lag, in der ihre Freunde verschwunden waren. Diese blöden Erwachsenen wollten nicht, dass ihre Kinder mit ihr spielten. Immer dasselbe! Wieder war Viktoria alleine, so wie fast immer.

Johann setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als er den holprigen Pfad talwärts hinabstieg. Sehr lange war er schon nicht mehr in der „Zivilisation“ gewesen. Er lebte als Einsiedler weit weg von allem und jedem der ihn stören konnte. Dort oben gab es nur ihn, die Natur und die Tiere. Eigentlich war er ja Selbstversorger. Es gab nichts, was er von der Außenwelt brauchte. Der Eremit baute sein eigenes Essen an, hielt seine eigenen Ziegen, deren Produkte er zu entsprechenden Speisen verarbeitete. Er kümmerte sich selbst um die Instandhaltung an seiner kleinen Hütte und seinem Stall. Den Gartenbau hatte er ohnehin immer geliebt und jetzt lebte er ihn jeden Tag. Äpfel, Birnen, Karotten, Gurken, Zwiebeln, Getreide, Kräuter unterschiedlichster Art, all das wuchs in seinem Garten. Und es bereitete ihm größte Freude sich jeden Tag, dem in Ruhe widmen zu können.

Hier in Corakien war die kalte Jahreszeit gerade erst zu Ende gegangen, daher konnte er nun herunter ins Tal wandern. Er hatte dort einen Freund, der ihn immer wieder besucht hatte, doch mittlerweile war dieser fünf volle Jahre schon nicht mehr erschienen. Johann machte sich Sorgen, um ihn, denn sein Freund war noch nicht alt. Konnte ihm etwas zugestoßen sein? Möglich, aber das konnte man nicht wissen. Da er wusste, wo sein Freund wohnte, würde er ihm nun einen Besuch abstatten. Es war das erste Mal in über zwanzig Jahren, dass der Einsiedler sich wieder in eine bewohnte Gegend begab. Als er an den ersten Häusern vorbei in das Dorf spazierte, sah er sehr viele bekannte Dinge aus seiner Vergangenheit. Was er allerdings auch sah, war ein massiver Wandel. Auf den kleinen Dorfstraßen war viel los, mehr als er sich jemals erinnern konnte. Allein schon an der Kleidung der Leute und den vielen renovierten Gebäuden konnte er erkennen, dass ein neuer Wohlstand entstanden war. Über dem Amtshaus wehte eine Fahne, die er noch nie gesehen hatte. Eine goldene Sonne auf rotem Grund.

Über die schlammigen Wege schritt er zum dem kleinen Häuschen Oskars. Eine recht alte, aber feste, Holztüre aus dunklerem Kirschenholz verhinderte seinen widerstandslosen Eintritt. Sie war anscheinend erst neu lasiert worden. Der mittlerweile schon in die Jahre gekommene Mann klopfte dreimal laut an der Tür. Nach einer Weile konnte man von drinnen eine Stimme vernehmen: „Was wollen Sie?“ Als Oskar dann aber hörte, dass es sein alter Freund war, bat er ihn sogleich einzutreten. Eine Dame, die auch schon etwas älter schien, ließ ihn hinein. Zuerst sah er ihn nicht, doch als der Eremit dann um die Ecke ins Wohnzimmer trat, verstand er was los war. Jetzt wusste er, warum sein Freund ihn nicht mehr besucht hatte. Auf einem Sessel sitzend starrte ihn ein Mann mit kühlem Blick an. Dessen rechtes Bein fehlte, wobei eine einfache Holzprothese als spärlicher Ersatz diente. Als er sich vom anfänglichen Schock erholt hatte, kam er zum ihm und gab ihm eine freundliche Umarmung. Ohne gefragt zu werden, wie es dazu gekommen war, begann Oskar von selbst darüber zu sprechen. Und was der vom Rest der Welt isoliert Lebende nun erfuhr ließ ihn doch aufhorchen.

Anscheinend hatte es einen großen Umsturz in ganz Kaphkos gegeben, eine Revolution wie Oskar es nannte. Auch er wurde gezwungen daran teilzunehmen und wurde im Kampf verwundet. Nicht nur eine neue Dynastie war nun auf dem Thron Ordaniens, sondern die ganze alte Alethische Kommune war hinweggefegt worden und operierte nur noch im Untergrund. Die Hexenverbrennungen hatten nun aufgehört, doch eine erstickende Unterdrückung war geblieben. Nur wurden nun andere unterdrückt als zuvor. Voller Frustration erzählte ihm der Veteran all diese Dinge, als er darauf wartete, dass seine Partnerin ihnen einen heißen Tee brachte. Es war ihm eine riesige Verbitterung anzusehen. Das konnte sein Freund aus den Bergen überhaupt nicht verstehen, denn er interessierte sich nur für seine eigene Existenz. All das fühlte sich sehr unangenehm für ihn an. Er bemitleidete all die Narren, die ihre Existenzen so beschritten. Politik und Intrigen, Religion und Fanatismus, Beziehungen und persönliche Tragödien, all das war der Grund, weshalb er sich von der Gesellschaft losgesagt hatte. Er fühlte sich auf seltsame Weise bestätigt, so unfair dies auch Oskar gegenüber klingen mochte.

Abbondio rückte sich, in einem Versuch sein Gesicht etwas besser gegen die einfallende Sonne zu schützen, seine Kappe zurecht. Es half leider nichts. Wieder einmal war es ein sengend heißer Tag. Dies war zwar völlig normal zu dieser Jahreszeit in Camenia, dennoch machte die Erkenntnis dessen die Umstände nicht leichter. Aber der Mann war dies ohnehin gewohnt. Er musste sich eben damit abfinden. Die Zügel in der Hand fuhr Abbondio langsam auf die Brücke über den Seranzo. Er konnte sich dabei nicht davon abhalten, seinen Kopf nach oben und hin und her zu strecken, um das Ding zu bewundern. Bis hoch in den Himmel reichten die dicken Pylone der neuen Brücke. Diese war erst kürzlich fertiggestellt worden und verkürzte den Weg, den er vom Handelshafen in Richtung der Stadt zurücklegen musste erheblich. Es war ein beeindruckend großes Bauwerk, das eine tiefe Schlucht überwand. Tief darunter konnte man die Fluten des Seranzoflusses rauschen hören. Deren Frische wurde von den Luftströmungen dennoch bis hier heraufgetragen. Welch einen angenehmen Geruch und welche eine Erquickung dies doch erzeugte, wenn es auch nur kurz währte.

Der Händler fuhr weiter. Er musste eine neue Fuhr an Waren in das Geschäft von einem seiner Kunden bringen. Edle Seide, die er von jenseits des Südmeeres importiert hatte. Sehr teuer. Der Handel war in den letzten Jahren aufgeblüht und auch Abbondio erfreute sich des guten Geschäftes. Für ihn war eine goldene Zeit angebrochen. Was seine Eltern ihm vermacht hatten, konnte er nun erheblich vergrößern. Alle seine Freunde und Kollegen empfanden ebenso wie er. Während er über all dies nachdachte, rumpelte sein Wagen in der Tageshitze über die kleine Lücke die zwischen der Brücke und der Straße war. „Badum!“, ging es. Dann konnte der Fahrer seine Reise mit einer höheren Geschwindigkeit wieder fortsetzen. Diese Brücke war nur eines der Beispiele für den Aufschwung in Camenia. Überall, wo er bisher hingekommen war, konnte Abbondio einen Haufen Bauprojekte sehen. Es wurde nun viel in Infrastuktur investiert, was natürlich Händlern wie ihm half. Straßen, Brücken, Tunnel, Häfen, aber auch Bäder und sogar neue Kirchen. Den Bauarbeitern würde nicht so schnell langweilig werden.

Kurzerhand holte er seinen Geldbeutel aus der Tasche. Er leerte sich die darin enthaltenen Münzen auf die andere Handfläche und begann zu zählen. Fünfunddreißig, nein, Sechsunddreißig Sesterze konnte er zählen. Alle mit dem Gesicht Vincenzo I. auf einer Seite eingeprägt. So viel waren sie leider nicht mehr wert, seitdem sein Nachfolger den Goldgehalt in den Münzen reduziert hatte. Allzu schlimm war die Sache aber auch nicht. Zumindest dachte sich das der Händler so. Dann überlegte er nochmal kurz wie viel er für die Waren, die er jetzt dabei hatte beim Importeur bezahlt hatte. Er ließ einen genervten Seufzer aus, als er feststellen musste, dass er sich nicht mehr ganz erinnern konnte, wie viel das gewesen war. Eine Rechnung für derartiges zu bekommen war ungewöhnlich. Das würde nur bei sehr großen Geschäften der Fall sein. Bei Gott konnte er sich nicht mehr erinnern, was er genau bezahlt hatte…. „Verdammt!“, kam es ihm aus. Nun ja, es ließ sich nicht ändern. So schlimm war sein Patzer nicht. Es waren nun gute Zeiten und er konnte aus dem Vollen schöpfen. Jeden Semi musste nicht umdrehen, um über die Runden zu kommen. Dennoch wäre ihm das sicher nicht passiert, wenn er seinen Lehrling dabeigehabt hätte, den er heute aber mit etwas anderem beauftragt hatte.

Knarzend rollte sein Einspänner weiter. Links und rechts vom Weg war nur von der Sommerhitze ausgedorrtes Gestrüpp. Ab und an stand mal ein alter wild gewachsener Olivenbaum oder eine Aloe, aber ansonsten war es hier eher karg momentan. Immer wenn er diese Flora betrachtete, fühlte er sich an seine Jugend zurückerinnert, vor allem an die Ausflüge, die er und seine Eltern ans Meer unternommen hatten. Während der Fahrt kam eine kleine Brise auf, die sogleich Staub in die Augen des Mannes wirbelte und ihn sogleich wieder aus seiner Tagträumerei riss.

Es war noch ein ganzes Stück bis zu einer der Vorstädte Galadeas. Es musste sich heute noch ausgehen. Leider. Die Kunden hatten den Termin so ausgemacht. „Hach….“, atmete er aus. Abbondio würde heute wieder spät nach Hause kommen.