Novels2Search

1. 11 Wendepunkt

Am Ofen blubberte, dampfte und zischte es. Ausnahmsweise würde heute Petra einmal etwas kochen. Offenbar hatte sie sich vorgenommen diesmal etwas Aufwendiges zuzubereiten. Der Grund dafür? Sie war in einer unglaublich guten Stimmung. Ihr Komplize im Ränkespiel mit der Prinzessin hatte ihr die bestmögliche Nachricht überbracht, als er sie auf den neuesten Stand bezüglich des Fortschritts ihres Vorhabens gesetzt hatte. Das machte sie nun überglücklich. In der Pfanne brutzelte das Fleisch, für das sie sich extra zu einem Bauern begeben hatte, um es zu erstehen. Hinter ihr am Tisch saß nur Achaz, sonst niemand. Fabio und Lucius waren einstweilen draußen und kümmerten sich um die Tiere. Der deftige Geruch des Fleisches und der Gewürze stieg dem Jüngling in die Nase und machte ihn noch hungriger.

„Weißt du eigentlich, wie wichtig du mir bist, Achaz? Ich liebe dich.“ – „Ich dich auch, Frau Mutter“, erwiderte er in immer noch höflicher Umgangsform. Sie meinte daraufhin sogleich: „Du musst mich in dieser Situation nicht so gehoben ansprechen. Das baut nur eine Distanz zwischen uns auf. Es sind nur wir zwei hier. Nenn mich, Mama.“ – „Okay….,Mama.“ Der Bursche hatte ein wenig gezögert. Er verstand, dass seine Mutter nur deshalb heute so auf ihn zuging, da er ihr nun von quintessentiellem Nutzen wurde. Sonst war sie immer kühl und distanziert zu ihm. Er wusste, dass sie ihren Sohn mochte, nur wahrhaftige Liebe, die von Herzen kam, hatte sie ihm bisher eher verwehrt.

Dennoch würde er das Spiel mitspielen. Er versuchte nun ebenso die Nettigkeit in seinem Umgang mit seiner Mutter zu erhöhen. Sie sollte sich auch sicher gewogen fühlen. Denn was ihr nicht bewusst war, war die Tatsache, dass er und Viktoria sie jetzt hinters Licht führen konnten. Petra und Lucius würden nicht ihren Willen bekommen. Der Junge hatte nun neue Zuversicht geschöpft. „Ich liebe dich auch, Mama“, süßelte er da. „Du bist die einzige Familie, die mir etwas bedeutet.“ Vielleicht trug er hier etwas zu dick auf, aber Petra schien trotzdem darauf reinzufallen. Aus dem Augenwinkel konnte man ihr Lächeln sehen, als sie gerade nach dem Kümmel griff, um damit ein wenig die Bratkartoffeln, welche es als Beilage geben würde, nachzuwürzen. Das war hervorragend. Dann erkundigte er sich: „Was wollen wir denn als nächsten Schritt gegen das Kaiserhaus setzen?“ Dem antwortete die für ihr Alter von viel zu vielen Falten gezeichnete Dame: „Wir warten den Brief des Mädchens ab, bis wir entscheiden.“ – „Wir haben aber bereits ein neues Treffen am selben Ort wie letztes Mal verabredet. Ich glaube nicht, dass überhaupt eine Nachricht kommen wird.“ – „Schauen wir mal. Wir werden es sehen.“ Diese Argumentation leuchtete ihm ein. Auch, wenn er glaubte, dass diesmal kein Brief versandt werden würde, so hatte er keine Einwände hier.

Nur zwei Tage später kam der Brief aber an. Der Cousin des Alduino kam angeritten und übergab ihn kurzerhand dem Herrn Cornel. Dieser nahm in entgegen, ohne sich zu bedanken und zog sich damit sofort wieder in die kleine Holzhütte zurück, in der sie momentan hausten. Er war gerade allein und würde nicht auf die Rückkunft seiner Mitverschwörer warten, denn er wusste, dass diese erst in einigen Stunden zurück sein würden. Der Griesgram, der dem Anschein nach erst kürzlich seinen Bart wieder rasiert hatte, ließ sich auf einem ihrer drei Stühle nieder. Sein Haar war immer noch zerzaust und ungepflegt. Er legte die erhaltene Zuschrift auf die dunkle Tischplatte, welche eine derart grobe Oberfläche aufwies, dass es schwierig war, etwas darauf zu schreiben, ohne dabei von den Rillen der Holzmaserung sein ganzes Schriftstück ruiniert zu bekommen. Mit bloßen Händen riss er den Umschlag sogleich auf und zog den Inhalt dessen heraus. Scheinbar bestand der Wisch diesmal aus zwei Zetteln.

Augenblicklich begann er den Ersten zu lesen. Er war relativ schnell damit fertig. Es war nichts Besonderes. Einfach nur ein paar kindsköpfige, unbesonnene Ideen, die dem Trivialen nahekamen, die das Mädchen sich da ausgedacht hatte. Er und Petra hatten da schon wesentlich durchdachtere, erfolgversprechendere Ideen gesammelt. Recht viel mehr hatte er sich aber auch nicht vorgestellt, dass die Zaubrerin ersinnen konnte. Dann ging er zum nächsten Blatt Pergament über. Beim Erblicken dessen war er nun allerdings etwas verwundert. „Was ist das denn?“, sagte er im Selbstgespräch. Vor ihm lag ein beinah leerer Zettel, auf dessen oberen Rand Folgendes zu lesen war: „Wir sind Feuer und Flamme.“ Hintendran war noch ein Herzchen gemalt.

Der Kerl hatte sofort verstanden, welchen Versuch sie hier unternommen hatte. „Dieses Kind glaubt wohl, dass es mich austricksen kann. Dafür müsste sie aber früher aufstehen!“, verlautete er. Sogleich zündete er eine Kerze an und hielt das Schriftstück darüber. Schon begannen sich die ersten Lettern unter der Hitze zu verdunkeln und gaben einen verborgenen Text preis, der mit unsichtbarer Tinte geschrieben worden war. Es war genauso, wie Lucius angenommen hatte. Dann begann er, die eigentliche, geheime Nachricht, die die Prinzessin an ihren Geliebten gerichtet hatte, zu lesen. Nachdem er die ersten zwei Sätze erfasst hatte, musste er gleich wieder absetzen. Er überlegte. Dann las er die restliche Nachricht auf einmal durch. Als er fertig war, schob er sich vom Tisch weg, um nicht nur gedanklich, sondern auch physisch etwas Abstand zu dem zu bekommen, was er soeben erfahren hatte.

Der Sohn der ehemaligen Regentin, war schockiert. Es war ein Glück, dass niemand hier war, um dies mitzuerleben. Ihm brach kalter Schweiß aus, der anfing seine Stirn und Rücken hinunterzulaufen. Er ließ sich das Gelesene noch eine Weile durch den Kopf gehen. Ja, jetzt war er sich sicher. Er hatte die Sache enträtselt. Viktoria hatte dem Burschen in ihrer eigentlichen Botschaft mitgeteilt, wie sie sich vorstellte, dass sie ihn und Petra manipulieren konnten. Es waren nicht die schlausten Einfälle, aber dennoch war dies sehr besorgniserregend. Die Art, wie sie davon sprach, dass sie ihm Dinge sagen würde, brachte Lucius nun zum Schluss, dass die Jugendliche auf telepathischem Wege mit ihm kommunizieren konnte. Hatten die beiden ihnen also schon von Anfang an nur etwas vorgetäuscht? Bei dem Gedanken ging nun der Zorn mit ihm durch und der Mann drosch mit der Faust auf die Tischplatte. Die Kerze fiel um, ging aus und rollte vom Tisch auf den Boden hinunter.

„Verdammter Mist!“, ärgerte er sich. „Ausgetrickst von ein paar Bengeln!“ Dies konnte er nicht so auf sich beruhen lassen, oh nein! Lucius lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann etwas Neues auszutüfteln. Er fuhr sich mit den Händen durch seine Strubbelfrisur. Dann starrte er nachdenklich auf eine der Wände, während er mit dem alten Siegelring in seiner Hosentasche herumspielte, um seine Nervosität etwas in Schach zu halten. „Dieser gottverdammte Teufel! Ich werde ihn vernichten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Die Rache an Wenzel und am Teleiotismus im Allgemeinen war nun alles, wofür er noch lebte. Er hatte es als den Sinn seines Lebens erkoren, so schrecklich und bemitleidenswert dies auch klingen mag. Dennoch, Lucius war wirklich der Letzte, den man bemitleiden sollte. Sein Verstand, kam nun mit einer perfiden Intrige auf.

Der Fiesling würde einen neuen Brief verfassen, den er so genau wie irgend möglich in der Handschrift Viktorias schrieb. Er würde ihn den anderen als den tatsächlichen Brief des Mädchens präsentieren und den Echten würde er verschwinden lassen. Für Lucius stand hier alles auf dem Spiel. Das inkludierte sein Leben. Er würde nicht zulassen, dass zwei Gören ihn in Teufels Küche bringen würden. Der Einsatz war hier einfach zu hoch. Daher musste er nun auch Petra im Dunklen darüber lassen, was hier wirklich geschah und was er als Nächstes tun würde. Der Weg war bereitet. Bald würde es losgehen.

Eine Frau, nämlich die Schwester des Erkorenen, stand mit erhobenem Zeigefinger klagend dem despotischen Prätor gegenüber. Luzeicas lange Gewänder flatterten im Wind. Ringsum standen ihre Gefährten und eine Schar der lokalen Hirten. Deren Schafe waren im Hintergrund zu sehen, ebenso wie die südländische Vegetation, die Camenia so unverkennbar machte. Diese Darstellung einer bekannten Stelle im Heiligen Testament war definitiv ansprechend für den Betrachter. Sie war dynamisch, lebendig und in kräftigen Farben gezeichnet worden. Ylva brachte ihren nach oben durchgestreckten Hals nun wieder in eine normale Stellung. Sie konnte nicht ständig die wunderschönen Freskos, die überall an den Decken des Palastes zu finden waren, begutachten. Sie hatte eine Aufgabe, derer sie sich widmen musste.

Dann schwangen die Türen, die sie bewachte, weit auf und ein elegant gekleidetes Pärchen verließ die kaiserlichen Gemächer. Es handelte sich um die Eltern der Kaisergattin, welche heute zu Besuch gewesen waren und sich nun wieder auf die Abreise ins nicht allzu ferne Olemar machten. Den beiden folgten dann Amalie und Viktoria, welche sich nochmals freundlich von den Großeltern verabschiedeten. Die Prinzessin war wieder einmal außerordentlich schön angezogen und protzte mit einem langen, vanillefarbenen Kleid, welches ihr garantiert ihre Mutter aufgebrummt hatte. Sobald die Besucher verschwunden waren, zog sich die junge Dame sofort wieder in ihr Zimmer zurück. Die Kaisergattin, aber blieb noch am Gang stehen, da sie Ylva etwas mitzuteilen hatte:

„Die Kleine hat sich heute richtig Verhalten und es gab keine Probleme. Sie hat Gediegenheit und Höflichkeit gegenüber ihren Großeltern an den Tag gelegt. Ich werde zusehen, dass ich sie für ihr gutes Benehmen belobige. Diesbezüglich muss ich aber vorher noch von dir etwas wissen. Ist dir in den letzten Tagen etwas Negatives an ihrem Verhalten aufgefallen? Hat sie sich verbessert oder hat sie sich vielleicht sogar nochmal weggeschlichen?“

Die Leibwächterin erteilte ihr sogleich Auskunft: „Ich habe kein allzu aufmüpfiges Verhalten in dem Zeitraum beobachten können, Herrin. Ein weiterer Versuch des Wegschleichens hat nicht stattgefunden. Und ich werfe des Nachts regelmäßige Kontrollblicke in ihr Zimmer, also kann sie unmöglich einmal entflohen sein. Ebenso hat sich keine ihrer sonst grundlosen 'Episoden' ereignet.“ – „Sehr gut! Dann reden wir nochmal kurz mit ihr.“ Die Kaiserin zeigte sich ausnahmsweise erfreut. Seine Hoheit der Erkorene huschte da schon wieder an den beiden Damen vorbei, ohne jedwedes Interesse an deren Unterhaltung zu zeigen. Schnurstraks machte er sich wieder in sein Arbeitszimmer auf, um seinen dort üblichen Tätigkeiten mit seiner Assistentin nachzugehen. Ylva folgte seiner Gattin ins Zimmer der Teenagerin.

Mit, „Viktoria?“, versuchte ihre Mutter die deren Aufmerksamkeit zu erregen. Die momentan auf dem Bett Liegende war davon scheinbar kalt erwischt worden und rappelte sich unverzüglich auf. Sie war im Begriff sich umzuziehen. „Na geh! Frau Mutter, ich bin gerade erst hierher zurückgekommen. Könnte ich wenigstens ein bisschen Zeit bekommen, um meine Kleidung zu wechseln?“ Gleich darauf bewegte sie sich hinter eine dünne Sichtschutzwand in der Ecke des Raums, um mit ihrem Umkleiden fortzufahren. Ihre Majestät ignorierte ihre Äußerungen und erwiderte: „Ich war mit deinem heutigen Benehmen zufrieden. Das wollte ich dir nur sagen.“ Zuerst kam nichts von der jungen Dame zurück. Schnell fiel ihr aber etwas ein, das sie loswerden wollte: „Ich mag all diese Verhaltensregeln immer noch nicht. Ich werde sie nie mögen.“ – „Und dennoch sind sie notwendig“, gab ihre Adoptivmutter da gleich zurück.

„Wir machen dies nicht, um dich zu quälen, sondern, weil es bestimmte Dinge gibt, die die Gesellschaft und die Welt von einem verlangen. Ich liebe dich und dein Vater liebt dich auch. Das hat er dir aber auch schon sehr oft gesagt und noch viel öfter durch seine Handlungen gezeigt.“ Es war ein leichtes Grummeln des Mädchens zu vernehmen. Sie wusste, dass dies die Wahrheit war, und dennoch fühlte sie sich wie eine Sklavin, der man ständig nur jede kleinste Bewegung und jedes Wort, das sie sprach, diktierte. „Wenn ich einmal von euch übernehme und hier das Sagen habe, dann werde ich das alles ändern“, kündigte sie ihr vollmundig an. „Du wirst dasselbe in Erfahrung bringen, was auch Wenzel so schmerzlich erfahren musste. Eine einzelne Person kann nicht den Himmel und die Erde auf den Kopf stellen. Was wir tun können, wird von einer Fülle an Faktoren eingeschränkt: Tradition, Überzeugung, Eigeninteresse, dem Machtgefüge. All dies sind Limitationen, denen wir alle unterworfen sind“, war der Kaiserin Antwort.

Die Kleine antwortete nichts darauf. Sie war immer noch feucht hinter den Ohren und hatte über solcherlei Themen noch nie allzu intensiv nachgedacht. Amalie stolzierte in winzigen Schritten durch das Zimmer und schaute sich wie schon so oft um. Sie war zufrieden mit der edlen Möblierung. Dies war etwas, worauf sie überaus großen Wert legte, im Gegensatz zu ihrem Ehemann, der ihrer Ansicht nach hier alles nur furchtbar minimalistisch halten würde, was wenig präsentabel wäre. Die Magierin war schließlich fertig und kam mit wesentlich legereren Klamotten hervor. Aus ihrem Gesicht strahlte ein gewisser Grad an Freude. Diese entsprang ihrem Bewusstsein, dass sie in Bezug auf die Ereignisse mit Achaz alles im Griff hatte. Ihre Mutter bemerkte ihre gute Stimmung und machte folglich einen weiteren Einwurf: „Wenn du dich auch brav in deinen Studien verhältst, kann ich dir noch mehr als nur mein Lob als Belohnung geben. Das setzt aber voraus, dass du dich auch jetzt wirklich zusammenreißt. Richte deinem Freund also keine schönen Grüße von mir aus, wenn du ihn nicht wiedersiehst.“

Die Dame dachte, sich dass sie eine clevere, sarkastische Aussage getätigt hatte, mit der sie bei ihrer Tochter ein wenig sticheln konnte. Sie hatte leider einen ganz anderen Effekt, da Viktoria jetzt annahm, dass man ihr bezüglich ihres Hinausschleichens auf den Fersen war. Sie blickte ihren Vormund mit großen Augen an und verstummte. Amalie schlussfolgerte, dass das Mädel ihren Humor wohl einfach etwas zu ernst aufgefasst hatte und verließ den Raum einfach ohne Weiteres. Es war ein bizarres Ende der Unterhaltung.

Die sommerliche Hitze knallte ihnen auf die Schädel. Dennoch stellten sich die Blätter der Bäume in saftigem Grün zur Schau. In der Ferne konnte man den Schrei eines Falken hören, während zwei Reiter nebeneinander über eine Weide ritten. Achaz strahlte Optimismus aus, während sein Überwacher in vergleichsweise gedämpfter Stimmung war, jedoch wesentlich besser gelaunt als sonst wirkte. Ihr Ziel war natürlich der Treffpunkt mit Viktoria, welcher derselbe wie letztes Mal sein würde. So, hatten sie es ausgemacht und auch hatte sie dies in dem Brief, den sie ihm letztlich doch zukommen hatte lassen, nochmals hervorgehoben. Begleitet vom Zirpkonzert der Grillen, ließ er sich ihre Nachricht nochmals durch den Kopf gehen. So gut wie alle Vorschläge, die sie darin gemacht hatte, waren seiner Mutter und Lucius zu unbedarft und halbbacken gewesen. Leider hatte er den beiden bei dieser Einschätzung zustimmen müssen. Keine von Viktorias Ideen war wirklich realistisch verwertbar. Sie würden ihr mit anderen Vorschlägen aufwarten. Er war wirklich gespannt, wie sie Petra und ihren Spießgesellen hier reinlegen würden.

„Es ist gut, dass du die Notwendigkeit, das Böse zu bekämpfen, verstanden hast, Bürschlein“, äußerte Lucius nach einer viel zu langen Zeit der Stille, wohl wissend, dass der Knabe ihm nur etwas vorgaukelte. Dem entgegnete Petras Abkömmling: „Es gibt nun mal Dinge, die größer als ich selbst sind. Das habe ich endlich verstanden. Niemand sollte ohne seinen Vater aufwachsen müssen, so wie es mir widerfahren ist.“ Die Lügen, die der Jugendliche hier auftischte, waren auf jeden Fall kühn, vor allem, da er bisher kaum den Anschein erweckt hatte irgendetwas von ihren hintertriebenen Machenschaften zu halten. Daraufhin musste sein Begleiter kurz husten. Beinah wäre er wegen so einer dummen Aussage des Jungen in Zorn geraten. „Ich hatte auch nie einen Vater! Was weiß der Zwerg schon, was wahres Leid ist? Zehn Jahre werf ich ihn in ein dunkles Verlies, dann hat er vielleicht mal eine Vorstellung davon!“, schwirrte es ihm durch die Gedanken. Er schwieg eine Minute lang, dann schnitt er ein anderes Thema an:

Support the author by searching for the original publication of this novel.

„Weißt du, die Melgaristen haben sich der Verehrung von Magiern, sprich von Dämonen, verschrieben. Das kann man nur als böse betrachten. Wer den Menschen vergöttlicht, der wird eine schwere Strafe dafür bezahlen! Gott allein sollte man anbeten.“ Er pausierte kurz, setzte seine Ausführung aber gleich wieder fort: „Die andere Seite, sind aber nicht automatisch die Guten, nur weil sie gegen die Bösen sind. Meine Mutter, Gott hab sie selig, war auch der Blasphemie schuldig. Sie hatte diesen seltsamen Dämonengötzen, zu dem sie regelmäßig betete! Was für ein Schwachsinn!“ Diese Enthüllung schockierte Achaz. Verdutzt schaute er auf Herrn Cornel herüber und fragte: „Warum erzählst du mir so etwas?“

Mürrisch gab der Mann zurück: „Glaub ja nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird. Es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass ich dir so etwas anvertraue, wenn du das irgendwem weitererzählst. Ist das klar?“ – „Glasklar!“, kam ohne Zögern die Antwort. Trotzdem, es war ein sehr uncharakteristisches Verhalten, das Lucius heute zeigte. Vielleicht fühlte er sich ein wenig sentimentaler als sonst, wer wusste das schon so genau.

„Die Alethische Kommune hat ihre Berechtigung, sie steht für den richtigen Weg. Ich habe nur die Befürchtung, dass sie unter dem dauerhaften Druck der ketzerischen Mehrheit entweder irgendwann komplett zerquetscht werden wird oder aber sich anpasst und Eingeständnisse gegenüber den Melgaristen macht. Wenn das passiert, ist Hopfen und Malz verloren! Wir kämpfen jetzt schon auf beinah verlorenem Posten. Dennoch gibt es einen Weg für uns zu siegen, selbst wenn er höchst unwahrscheinlich ist. Du kannst uns hier von größter Hilfe sein, Bursche“, erörterte ihm der Rachsüchtige.

Achaz erwiderte ihm immer nur mit einem schlichten „Aha“ oder „Mhm“. Letztlich erkundigte er sich aber: „So viel und so offen hast du noch nie mit mir geredet. Gibt es einen Grund dafür?“ Ohne den Jungen eines Blickes zu würdigen entgegnete Lucius ihm einfach: „Du wirst es sehen.“

Jetzt war die Nacht der Verabredung gekommen. Die Zaubrerin überflog die ordanischen Lande, während sie gleichzeitig angestrengt in ihren Gedanken durchging, was sie heute gemeinsam mit ihrem Freund für ein Schauspiel aufbieten würde, um die Mutter von Achaz und deren Mitverschwörer reinzulegen, und um die Situation langsam in ihre eigene Richtung zu manipulieren. Es war vorprogrammiert, dass dies ein schweres Unterfangen werden würde. Dennoch, wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wie man so schön sagt. Sie war aber auch schon in Vorfreude, vor allem weil sie ihren Schwarm wiedersehen würde.

Unter ihr erstreckte sich der riesige, finstere Wald. Aus einer gewissen Distanz erreichte schließlich aber das Licht des vorbereiteten Lagerfeuers den Bereich ihrer visuellen Wahrnehmung. Voll Nervosität beschleunigte sie nun ihren Flug. Das Feuer kam immer näher und näher, bis sie dann endlich dicht genug herangekommen war, um sich abzubremsen und vor den Flammen, die dieses so einsame und beinah schon gruselige Fleckchen Erde hier erhellten, zu landen. Im Feuer lag noch ein größeres Holzscheit. Es war niemand hier. Im vom Lichtschein ausgeleuchteten Bereich befand sich keine Menschenseele. Inquisitiv warf das Mädchen einen Blick nach links und rechts. Dann sogar hinter sich. Keiner da. Was war hier los?

„Achaz? Bist du hier?“, verlautete sie. Aber keiner rührte sich. „Komm schon, sag doch was! Ich weiß, dass du hier bist“, rief sie nun in etwas lauterem Ton. Es kam immer noch keine Antwort, kein gar nichts. Das verunsicherte sie nun wirklich. Ein klein wenig Angst, fing an in ihr emporzusteigen. Eines war nämlich absolut sicher: Irgendjemand musste das Feuer hier entzündet haben und es gab kaum eine andere Möglichkeit als, dass es entweder Achaz oder aber sein Aufpasser, der ihn immer bei ihren Treffen beobachtete, gewesen war. Versuchte man ihr einfach Angst einzujagen? Dafür dauerte das hier aber schon zu lange. Oder war es ein Hinterhalt? Beim Realisieren dieser Eventualität sprangen ihre Sinne sofort in höchste Alarmbereitschaft. Die Muskeln der Prinzessin spannten sich fieberhaft an. Sie machte nochmal einen Rundumblick. Nichts war auszumachen. Nicht einmal aus dem Wald waren im Moment Geräusche zu vernehmen. Da war nur das Rauschen des Flusses hinter ihr.

Sie ging einige Schritte vorwärts, bis sie an den Rand des Lichtkegels gekommen war. Vor ihr waren nur die Stämme der Bäume. Weiter hinten, wo es schon erheblich dunkler war, blitzte ihr ganz kurz ein Funkeln, eine Reflexion der Flammen entgegen. Etwas oder jemand war da! Diese Situation war wirklich furchteinflößend, doch sie war eine Magierin. Sie war Viktoria und niemand konnte ihr etwas anhaben! Somit fasste sie all ihren Mut zusammen und ging weiter in Richtung dessen, was sie gesehen hatte. Erneut rief sie nach ihm: „Achaz! Achaaaz!“ Es wurde nun wirklich düster hier, doch noch war die visuelle Orientierung möglich. Ein kleines Stück entfernt lag irgendetwas Größeres am Boden, das etwas anders als der Waldboden und die Moose hier aussah. Schrittweise gewöhnten sich ihre Augen an die geringere Helligkeit hier und sie fing an besser sehen zu können.

Dann offenbarte es sich. Da lag ein Mensch am Boden! Ohne Zaudern eilte sie augenblicklich zu diesem hin. An der Kleidung erkannte sie schnell, dass es sich um Achaz handelte. War er etwa hingefallen und ohnmächtig geworden? Sie nahm ihn an den Schultern und versuchte ihn wachzurütteln. Dadurch sah sie es dann. Als es dem Mädchen auffiel, durchfuhr sie ein Schock, der sich schnell zu reinem Horror wandelte. Ihre Hände und gleich darauf ihr ganzer Körper begannen unkontrollierbar zu zittern. Erst danach gab sie einen panischen Schrei von sich. Ein tiefer Schnitt war an der Kehle des Jungen zu sehen. Seine Augen waren offen und starrten leblos uns Leere.

„Was? Wieso? Wie ist das passiert? Wer hat das getan?“, alles gute Fragen, die panisch durch ihren Kopf fluteten. Als die Realisation dessen, was sich hier vor ihr befand, langsam zu ihr durchsickerte, fiel Viktoria auf die Knie und begann bitterlich zu weinen. Diese Schreckenstat erschütterte sie so sehr, dass sie erst einmal von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Nach einer Weile des Schluchzens schaute sie aber auf und erspähte einen einzelnen Gegenstand, der auf der Brust der Leiche gezielt platziert worden war. Es war das Ding, welches vorher das Licht reflektiert hatte. Mit zittriger Hand griff sie nach diesem und holte es her. Im Licht ihrer gleißenden Augen drehte sie es hin und her und betrachtete es von allen Seiten. In dem Moment war es um sie geschehen. Jetzt hatte sie verstanden. Oh ja, sie hatte alles verstanden! Sie wusste, wer das getan hatte, und auch warum er das getan hatte. Dafür würde er bezahlen!

Ein mordslautes Klirren riss die ganze Familie aus dem Schlaf. Theodor rappelte sich schlagartig auf und sprang, wie von der Tarantel gestochen, aus dem Bett auf. Die Mädels brauchten alle ein wenig länger. Man konnte sehen wie es nun heftig beim Fenster hereinregnete und der Mann ging gleich hin, um zu inspizieren, was geschehen war. Es war eigentlich offensichtlich. Draußen stürmte es und die Scheibe hatte dem Wetter nicht standgehalten. „Oh, Gott, was ist denn das?“, konnte er dann Irnfrid hinter sich jammern hören. Es schüttete wie aus Kübeln und orkanartige Böen ließen alles, was nicht niet- und nagelfest war, in den Straßen draußen davonfliegen. „Eleonore, Marzia! Kommt, geht weg vom Fenster“, schaffte die Mutter hier gleich an. Sie sah, dass es so stark hereinregnete, dass sich innerhalb so kurzer Zeit bereits eine Lacke am Boden gebildet hatte.

Währenddessen starrte Theodor weiterhin ins Freie hinaus und horchte dem ohrenbetäubenden Knallen und Grummeln des Donners, welcher nun in sehr kurzen Abständen immer und immer wieder zu hören war. Das war ein absolut höllisches Gewitter! Der ältere Militär wunderte sich nur, wo es denn so rasch hergekommen war. Bevor sie schlafen gingen, war der Himmel noch sternenklar gewesen. Kurios. Als es, „Liebling, was machen wir jetzt?“, hinter ihm ertönte, lenkte er seine Aufmerksamkeit aber wieder auf seine Damen. Alexander schlief mittlerweile in seinem eigenen Zimmer und war deshalb nicht hier mit ihnen. „Schnappt euch die Decken und Polster. Wir übernachten heute bei Alexander“, trat er sogleich in Aktion. Eleonore fragte da natürlich gleich: „Heißt das, dass wir am Boden schlafen müssen?“ – „Hach!“, seufzte ihr Vater entnervt. „Ich werde euch auch die Matratzen mit rüber schleppen, zumindest die, die noch nicht nass sind.“ Daraufhin schien die Kleine erstmal zufrieden.

Der Umzug ging recht schnell vonstatten. Dann rannte der Kerl auch noch hinunter ins Erdgeschoss, um die Wachen zu informieren, dass ihr Fenster so zügig wie möglich wieder repariert oder fürs Erste mal verbarrikadiert werden sollte. Die Treppe hoch war er dann etwas langsamer. Ihr temporäres Nachtquartier lag nun ganz am Ende des Ganges und Theodor hetzte sich nun nicht mehr, um dorthin zu gelangen. Scheinbar waren noch mehr als nur sein Fenster zu Bruch gegangen und aus manchen Gemächern konnte man auch so einige Tätigkeit vernehmen. Dann allerdings kam ihm etwas ganz anderes zu Ohren. Ein Geräusch, das einer Explosion gleichkam, hallte förmlich durch das weiträumige Gebäude! Das ließ ihn unmittelbar auf den Plan treten, um dem nachzugehen.

Gordomanni moltum ab hac consoetodine differunt. Nam neque sacerdutii habent, qui rebos divinis praesint, neque sacrificiis student.

Im schwachen Kerzenschein las Wenzel den antiken Text vor sich. Ab und an warf er einen kurzen Blick hinüber zum Fenster, das vom Sturm immer wieder gewaltsam gerüttelt wurde. Sich unter diesen Umständen zu konzentrieren war schwierig, vor allem, wenn man versuchte uralte Aufzeichnungen zu übersetzen, für die er ohnehin oft die Beihilfe seiner Assistentin benötigte. Er brachte seine Übersetzung des Satzes zu Pergament. Danach legte er die Feder behutsam beiseite, direkt neben das Tintenfass. Womöglich war es ratsamer die heutige „Nachtschicht“ frühzeitig zu beenden und zu Bett zu gehen. Das Wetter war überaus beunruhigend.

„Bumm! Klirr! Wusch!“ Urplötzlich brach beim Fenster eine Druckwelle herein, die nicht nur die Scheibe in tausend Scherben zerbersten ließ, sondern auch gleich Teile des Mauerwerks rundherum wegbrach. Den Kaiser fegte diese Detonation ebenso gleich weg und mehrere Fuß nach hinten, bis er sich wieder auf seine Füße aufrichtete. Das wilde Gewitter von draußen drang nun auch mit all seiner zerstörerischen Kraft hier ein. Dem Magier kamen als allererstes gleich seine Bücher in den Sinn, und dass er diese von den Naturgewalten schützen musste. Als er aber sein Haupt hob und zum Loch in der Wand blickte, schob er all diese Überlegungen vorerst einmal auf. In der Lücke vor ihm schwebe seine vom Regen überströmte Tochter und schaute auf ihn herab.

Noch bevor er ihren geplagten Gesichtsausdruck bemerken konnte, warf sie etwas Kleines zu ihm herüber. Es sprang einige Male am Boden auf und blieb dann direkt vor ihm liegen. „Ich habe ihn gefunden. Das ist deiner, oder?“, erklang ihre Stimme in seltsam hartem und gleichzeitig gedämpftem Ton. Ihm fiel augenblicklich auf, dass irgendetwas an ihr ganz gewaltig nicht stimmte. Wenzel hob das Objekt auf und betrachtete es genau. Es war ein Siegelring, auf dem „M.R.“ eingraviert war. Es war das kaiserliche Siegel der Melgarionen. Er hatte diesen Gegenstand noch nie zuvor gesehen, aber als Nachfolger ihrer Dynastie und Erbe ihrer Autorität musste dieser der Logik nach ihm gehören. Somit antwortete der Kaiser: „Schätze schon.“

Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was er damit ausgedrückt hatte. In Reaktion darauf ballte das Mädel seine Fäuste und spannte alle Muskeln seines Körpers an, so sehr, dass es ein Stöhnen von sich ließ. Aus ihrer Sicht ergab nun alles Sinn. Ihr Vater hatte herausgefunden, dass sie sich seinen Anordnungen widersetzt hatte und sich erneut heimlich mit Achaz traf. Infolge hatte er einen Schritt gesetzt, um dem ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Sie war nun überzeugt, dass Wenzel ihren Freund getötet hatte! Und seine Worte hatten es ihr soeben bestätigt.

„Du Monster! Wie konntest du nur!“, brüllte sie ihn aus voller Kehle an. Absolute Verwirrung zeichnete sich daraufhin auf dem Gesicht des Herrschers ab, der nicht wusste, welch schweren Fehler er hier begangen hatte. „Was in aller Welt ist in dich gefahren? Ich verstehe nicht, was du sa….“ Weiter kam Wenzel nicht. Bevor er seinen Satz beenden konnte, ließ die Magierin eine weitere telekinetische Druckwelle auf ihn los! Er versuchte sie abzublocken, doch die Stärke des Angriffs war zu groß und katapultierte ihn zurück, sodass er mit dem Rücken gegen die Wand krachte. Eine rasende, manische Viktoria erzeugte nun eine riesige Flamme in ihren Händen.

„Ich werde dir zeigen, wie es sich anfühlt, Dinge zu verlieren, die einem unersetzlich sind!“, waren die wahrhaftig niederträchtigen Worte, die ihren Mund verließen. Gerade erst hatte sich ihr Adoptivvater von der vorangegangenen Attacke erholt. Stücke des Wandverputzes bröselten noch von seinen Schultern und der restlichen Kleidung herab, als sie schon zum nächsten Schritt überging. Vor den Augen des Mannes, der doch so mit der Erforschung von Magie besessen war, ließ sie eine Flut an Flammen in alle Richtungen ausströmen, die seine Bibliothek augenblicklich in ein Feuerinferno verwandelte! Beim Anblick dessen sank dem Souverän das Herz in die Hose. Er streckte seinen Arm nach vorne, um die Flammen sogleich wieder mit seiner Zauberei zu löschen, doch das Mädchen griff ihn sofort wieder an, um ihn davon abzuhalten.

Wieder schleuderte sie ihn weg wie ein Spielzeug. Ihre magischen Kräfte waren viel stärker als seine, eine Tatsache derer sich Wenzel nun sehr schmerzlich wieder bewusstwurde, obgleich sie ihm ohnehin bekannt war. Was sollte er jetzt machen? Er wollte seine Tochter nicht verletzen, aber die bessere Frage war wohl, ob er das überhaupt konnte! Die Kleine setzte auf dem Boden ein paar Schritte vor ihm ab. Der Erkorene stand unmittelbar wieder auf. Mental bereitete er sich vor ihrem nächsten Angriff auszuweichen. Doch dieser kam nicht. Mit hasserfülltem Gesicht starrte sie ihren „Vater“ an. Wenzel wunderte sich, was in diesem Moment durch ihren Kopf ging, doch noch bevor er seinen Mund öffnen konnte, um dies zu erfragen, um ihr möglicherweise vernünftig zureden zu können, fing er an, es zu spüren. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft, die kontinuierlich zuzunehmen schien, sodass die Haare an seinen Unterarmen und darauf auch gleich die auf seinem Kopf hochzustehen begannen.

Mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger brachte die Magierin ihre Handglieder in eine Stellung, die an die unzähligen Abbildungen seiner Heiligkeit, Melgars des Großen, erinnerten. Es schien sich nun eine elektrische Spannung hier im Umkreis aufzubauen, die sich um Viktoria herum konzentrierte. Von der Situation überwältig, stand der Kaiser nur reglos da, und tat nichts, um dem irgendwie Einhalt zu gebieten. Die ganze Zeit sah er nur das lebensnahe Antlitz Melgars mit seiner, anders als die Ikonen es oft abbildeten, großen Nase und seinem entschlossenen Ausdruck, welcher sich tief in sein Unterbewusstsein einbrannte. Dann richtete die junge Dame ihre Finger auf ihn. Sein Schicksalsmoment war gekommen! Die Energie wurde freigesetzt und ein gleißendes Licht flutete den ganzen Raum, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall. Ganz kurz bevor sie ihren Blitz losgelassen hatte, war aber zu hören gewesen, wie jemand, „Wenzel!“, gerufen hatte.

Beide Zauberer waren jetzt gründlich geblendet worden. Ihre Sehorgane mussten sich erst von der Überbelichtung erholen. Als dann langsam die Welt wieder wahrnehmbar wurde, präsentierte sich ihnen etwas vollkommen Unerwartetes. Wenzel war unversehrt. Vor ihm auf dem Fliesenboden lag nun der Körper eines Mannes, den er gut kannte. Er war hier in diese Szene hereingetreten und hatte in letzter Sekunde versucht, das Leben des Erkorenen zu beschützen. Dies war ihm gelungen. Doch hatte Theodor leider sein eigenes Leben dafür lassen müssen! Als Vater und Tochter begriffen, was soeben passiert war, standen sie gleichsam erst einmal im Schock da. Dies hatte Viktoria nicht gewollt! Der Oberste Marschall hatte nichts mit all dem hier zu tun. Eigentlich hatte sie ja noch nicht einmal ihren Adoptivvater verletzen wollen. Es waren nur die Pferde mit ihr durchgegangen.

Bestürzt und verwirrt wandte sie sich ab. Sie wollte dies nicht noch länger mitansehen und machte sich einfach aus dem Staub. Seine Hoheit nahm aber sofort die Verfolgung auf. Hinaus in den schüttenden Regen flog er ihr nach. „Viktoria! Bleib stehen, Viktoria!“, brüllte er ihr nach, als ihm buchstäbliche Schwalle an Wasser entgegenschlugen. Sie hörte nicht auf ihn und schüttelte ihn sehr rasch ab. Wenzel begriff innerhalb kürzester Zeit, dass er viel langsamer als seine Tochter flog, so sehr er sich auch bemühte. Verzweifelt hielt er inne und blickte auf den Palast zurück, der nun im Begriff war immer mehr Feuer zu fangen. Nach einer Sekunde des Überlegens kehrte er um und kam zurück in seine Privatbibliothek.

Menschenleben hatten immer die oberste Priorität. Er begab sich sogleich zu Theodor, beförderte ihn schleunigst mit Telekinese auf den Gang hinaus und versuchte ihn dort mit einem Heilungsritual zu retten. Es war sinnlos. Der Mann war bereits tot und keine Magie der Welt konnte die Toten zurückbringen. Dennoch machte sich der Magier die vergebene Mühe, den Zauberkreis zu zeichnen. Unterdessen begannen immer mehr Diener, Wachen und andere Bewohner des Palastes hier zusammenzulaufen. Linie um Linie zeichnete der Herrscher mit größter Eile, während er durch die offene Türe zusehen musste, wie das Wissen, dass er all die Jahre zusammengesammelt hatte vor seinen Augen von den Flammen verschlungen wurde. Auch das Buch mit dem grünen Einband konnte man am Schreibtisch liegend in Rauch aufgehen sehen. All die Arbeit umsonst!

Bald schon kamen die ersten Leute mit Wassereimern daher, um den Brand zu bekämpfen, aber dieser war schon viel zu mächtig geworden. Gleichzeitig hörte dann auch noch abrupt der Regen auf. Diejenige, deren Emotionen ihn erzeugt hatten, war nun außer Reichweite. Mehr und mehr breiteten sich die Flammen aus und der Befehl wurde gegeben, das Gebäude zu evakuieren. Die Garde, gemeinsam mit der Feuerwehr würde aber weiterhin versuchen das Feuer, so gut es nur ging, einzudämmen. Dies war wahrhaftig ein schwarzer Tag im Leben Wenzels aber auch in der Geschichte des Landes!