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1. 02 Viktoria

Entlang der zyklopischen Kolonnaden schritt seine Hoheit, immer wieder den Blick auf die beeindruckenden Ausmaße dieser architektonischen Meisterleistung schweifen lassend. In ihnen fand das Gewicht des Reiches, das Gewicht des Erbes, das er angetreten hatte, seinen Ausdruck. So oft war Wenzel schon hier entlang gegangen und dennoch war er immer wieder vom Anblick der Werke seiner Vorgänger in Ehrfurcht versetzt. Das Bauwerk fing ein Stück Ewigkeit ein, verlangte, ja forderte sogar, seinen Respekt. Auch wenn er sich bereits an den Anblick der Säulen, Bögen und Kuppeln gewöhnt hatte, so war dies nur, weil er sie Tag um Tag sah und sie sich in sein Unterbewusstsein eingefressen hatten. Die monumentalen Säulen, die sich endlos die Gänge entlangzogen, und die das riesige Gewölbe über sich trugen, konnten genauso gut auch als Allegorie für das Gewicht, das nun auf Wenzel’s Schultern lastete, interpretiert werden. Über die Jahre war ihm das bewusst geworden.

Raschen Schrittes bewegte er sich über die bunten Marmorfliesen in Richtung seiner Gemächer. Wenzel hatte sich klar verändert. Sein roter Haarschopf war immer noch kurz, doch trug er nun einen Bart. Seine kaiserlichen Gewänder waren edel, strahlten aber gleichzeitig eine Art von Formalität aus und hatten in ihrem Design ein paar Anspielungen an die Militäruniformen der Soldaten. Rot-weiß war die Farbgebung, wobei der Umhang ganz im imperialen purpurrot gehalten war und obendrein noch das Kaiserwappen abbildete. An der Brust trug er ein paar wenige Abzeichen, dieselben, die er auch schon zu seiner Krönung getragen hatte. Seine Schuhe waren aus Leder und er hatte sehr großen Wert darauf gelegt, dass der Schuhmacher sie auch so bemaß, dass sie bequem zu tragen waren. All dies mochte nun auf den unwissenden Beobachter durchaus opulent wirken.

Es war bereits Abend geworden. Seine Majestät war den ganzen Tag mit politischen Alltagsgeschäften und dem Studium beschäftigt gewesen. Vor allem das Letztere nahm bei Wenzel aktuell, wie in den letzten Jahren, sehr viel seiner Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Es gab viele Dinge, die der Kaiser aus seiner Schulzeit versäumt, beziehungsweise nie richtig verstanden hatte. Die Sache war nach all den Jahren des Studiums mit Privatlehrern nun definitiv Geschichte. Seine Hoheit hatte sich nun einen Grundstock an Wissen in allen möglichen Disziplinen angeeignet. Entgegen seinem massiven Desinteresse zu Jugendzeiten, war nun der Sturm und Drang vergangen und ein Interesse für das Verstehen der Welt hatte sich bei ihm entwickelt. Besonders hatte sich Wenzel für Geschichte zu faszinieren begonnen. Intensiv wälzte er sich durch riesige Chroniken oder andere Zeugnisse der Vergangenheit, welche die meisten anderen Leute wohl als unheimlich langweilig empfunden hätten.

Ebenso hatte der Herr nun die Gesamtheit des Testaments gelesen und sich auch dabei von einem Theologen Beihilfe geben lassen, wie denn dessen Inhalt zu verstehen ist. Er fand das Werk wenig berauschend, aber las es dennoch. Es war eine Notwendigkeit, wenn er der Herrscher über Völker sein wollte, denen diese Glaubensschrift doch von solch unglaublicher Bedeutung war, wie er es selbst miterlebt hatte. Dennoch hatte sein Lesen des Textes sicher auch einen Einfluss auf ihn gehabt. Wenzel hatte sich im Laufe der Jahre deutlich verändert. Wenn er auf sein altes, naives Selbst zurückblickte, war ihm doch manchmal zu Lachen zumute. Auch, wenn die Umstände sicher nicht lustig waren….

Schließlich kam Wenzel bei der Tür seiner Räumlichkeiten an. Schon beim Herannahen hatte er den Geruch von exotischem Parfum vernommen, was bedeutete, dass Amalie sich im Moment auch in ihrem Zimmer aufhielt. Er klopfte nicht an, sondern trat einfach ein. Als sie ihn hörte, drehte sich seine Frau gleich zu ihm um. Sie war eine Dame von außergewöhnlicher Schönheit. Ihr Gesicht wirkte makellos und ihre brünetten Haare waren so lang, dass sie ihr fast bis zum Gesäß reichten. Vor dem Spiegel stehend, hatte sie soeben neue Kleider anprobiert. „Hallo, Schatz! Der Schneider hat mir vorhin die neuen Kleider gebracht, die ich anfertigen habe lassen.“ Ihr Mann ließ einen schnellen Blick über das Gewand wandern, das sie gerade trug. Es war ein pastelgrünes, langes Kleid, mit intrikaten aufgestickten Blumenmustern. „Sehr schön!“, vermerkte Wenzel mit einem obligatorischen, aber dennoch ernst gemeinten Lächeln. Sie kam zu ihm heran und drückte ihm einen Kuss auf. Sofort konnte man dadurch sehen, wie sich seine Stimmung etwas hob. „Du siehst heute mal wieder ausgelaugt aus“, vermerkte seine Gemahlin. „Leg dich mal für eine Stunde hin und ruh dich aus.“ – „Nein“, gab Wenzel darauf sofort Widerrede. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“

Auf seine etwas morbide Aussage hin, stutzte Amalie kurz, worauf ihr Ehemann sie aber gleich wieder versuchte zu versichern, dass er das nicht so ernst gemeint hatte. Sogleich nahm er seine Liebste zu sich und die beiden liebkosten sich einen kurzen Augenblick. Überall im Zimmer waren sündteure Möbel. An den Wänden waren edle Tapeten in heller oranger Farbe und auf einer Seite des Bettes lag ein Turm an Kleidern, jene, die die Dame vorher bekommen hatte und nun eines nach dem anderen anprobieren würde. Amalie genoss all den Luxus in ihrer Position als Gattin des Kaisers. Es war ihr an ihrem strahlenden Lächeln anzusehen, wann immer sie eine neue Sache bekam, die sie sich eingebildet hatte. All dem brauchte Wenzel gar nicht „nachgeben“, denn er machte ihr hierbei ohnehin keine Vorschriften. Generell war er glücklich, wenn seine Liebste glücklich war. Somit trug er auch einen solchen Lebensstil nun mit, auch wenn er ihn selbst nicht wirklich aktiv lebte. In dieser Hinsicht hatte sich Wenzels Verhalten in all den Jahren nicht geändert. Er brauchte nur das Notwendigste, alles andere betrachtete er als überflüssig. Allerdings würde er nicht versuchen seine Art auch auf Amalie zu übertragen. Jeder Mensch war anders. Außerdem waren sie ja die Elite. Wie konnte man anderen Leuten, die an der Spitze des Staates standen, einen ausschweifenden Lebensstil verwehren? Würde dies überhaupt Sinn oder einen Unterschied machen? Die Kirche hätte bei Nachfrage wohl gesagt, dass es nicht moralisch war, aber, naja, wo kein Kläger, da kein Richter.

„Morgen treffe ich mich mit Flora und Emma. Es gibt einiges, was ich mit ihnen zu besprechen habe, also könnte es wohl länger dauern. Wundere dich also nicht, wenn ich vielleicht noch nicht da bin, wenn du zurückkommst“, informierte sie ihn. Wenzel nickte nur und entgegnete: „Sicher. Kein Problem.“ Amalie fiel auf, dass er geistesabwesend auf ihre Perlenhalskette starrte. „Wenzel?“, sprach sie ihn an. Er zwang sich wieder zurück zur Geistespräsenz und schaute ihr in die Augen. „Ja?“ Sie überlegte kurz einen Moment, wie sie an das Thema herangehen sollte, das sie nun zu beginnen beabsichtigte. Dann begann sie:

„Du, Schatz, wie sieht die Sache mit den Gesandten nun aus?“ – „Gesandte?“ Ihr Ehemann war heute schon recht müde, aber Amalie hatte dafür in diesem Moment nur bedingt Verständnis. Etwas genervt entgegnete sie: „Du weißt schon, die Heilige Gesandtschaft, diejenigen, die wir ausgeschickt haben, um einen oder eine zu finden.“ – „Oh, ja. Entschuldigung, ich bin schon recht geschafft heute.“ – „Merkt man.“ Wenzel dachte kurz nach und antwortete ihr dann: „Immer noch nichts, so viel ich weiß. Wir brauchen uns hier keine großen Hoffnungen zu machen. Das Sentiment in der Bevölkerung hat sich diesbezüglich nur teilweise verändert. Darum sind die Chancen einen oder eine zu finden wohl eins zu hundert Millionen, zumindest wenn wir dem Glauben schenken, was Marwin uns mitgeteilt hat. Und ich glaube wohl kaum, dass er uns hier anlügt.“

Mit einem Hauch von Resignation ließ seine Ehefrau da ihren Blick sinken. Auch ihr Körper sackte etwas auf dem Bett herab, auf dem sie Seite an Seite mit Wenzel saß. Dies bemerkte ihr Mann sofort und nahm sie zu sich. „Es wird nichts zwischen uns ändern. Egal was passiert, du bist mein und ich bin dein! Hörst du mich!“ – „Ja, tu ich“, gab die Dame zurück. Er hatte es ihr ohnehin schon mehrmals gesagt, dass er sie nie beiseiteschieben würde. Auch diesmal versuchte er wieder seiner Geliebten mit Nachdruck zu versichern: „Ich würde mir nie eine andere Frau nehmen.“ Daraufhin antwortete Amalie nun aber: „Wir beide wissen, dass auch das nichts ändern würde, mein Schatz.“ Es gab nicht viel, was er darauf entgegnen hätte können. Wenzel tat das Richtige und erwiderte gar nichts.

Folglich saßen die beiden nun still nebeneinander auf der Bettkante. Fast schon wollte der Mann ein neues Thema anfangen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Als die zwei ihm den Eintritt erlaubten, erkannten sie gleich an seiner Uniform, dass es ein ganz besonderer Bote war. „Die Heilige Gesandtschaft lässt Ihren Hoheiten hiermit ausrichten, dass das Gesuchte gefunden wurde!“, verkündete Ihnen der Mann in straffer Uniform in viel zu lautem Ton. „Das nächste Mal, bitte, etwas leiser, wenn’s geht. Wir sind nicht taub, okay?“, teilte ihm Wenzel seine Einwände mit. „Jawohl, mein Herr!“, kam es von diesem mit immer noch zu hoher Lautstärke zurück. Er übergab ihnen den Brief. Dann salutierte der Mann wie ein braver Zinnsoldat und trat ab. Die Nachricht, auf die sie so lange gewartet hatten, jene, von der sie dachten, dass sie möglicherweise überhaupt niemals kommen würde, war nun eingetroffen.

Mehrere Gestalten in braunen Kutten gingen die Dorfstraße entlang. Es war ein relativ warmer Tag und es dürfte diesen in ihren Gewändern wohl relativ heiß gewesen sein. Nichtsdestotrotz gingen sie so weiter. Vorne an der Brust war diesen ein ganz eigenes, den Einheimischen unbekanntes Zeichen auf die Kleidungsstücke aufgenäht. Es bildete ein aufgeschlagenes Buch mit einem Olivenzweig ab. Ein paar Leute ließen ihnen misstrauische Blicke zufallen, das war es aber auch schon. Es handelte sich um die sogenannte Heilige Gesandtschaft. Angeführt wurde die Delegation vom Obersten Gesandten Marwin. Eben dieser blickte gerade aufmerksam umher. Offensichtlich waren sie auf der Suche nach etwas. Einer der anderen Männer holte eine Rolle Pergament hervor und hielt sie ihm hin. Gemeinsam lasen sie dann, vermutlich erneut, das Dokument durch. Danach hoben sie ihre Blicke und einer von ihnen deutete mit seinem Zeigefinger nach hinten zum Bauernhof der Mosers. Es folgte ein kurzer verbaler Austausch der Gruppe, dann machten sie sich genau dorthin auf. Die Dorfbewohner hatten diesbezüglich eine sehr üble Vorahnung, denn jeder kannte diese Familie. Der Grund dafür war ein sehr schlechter.

Es gab einen Haufen Dinge, die Marwin nun gedanklich beschäftigten. Die Organisation, deren Leiter er nun war, hatte der Kaiser höchstpersönlich ins Leben gerufen. Sie war eine aus jenen wenigen Männern, die die Verfolgung der ehemaligen Inquisitoren überlebt hatten, zusammengewürfelte Organisation. Warum? Diese Frage hatte sich Marwin auch gestellt, als er damals zu seiner Hoheit zitiert wurde. Dieser hatte ihnen den Auftrag gegeben, wieder Magier ausfindig zu machen. Der Moment, in dem der einstige Inquisitor dies hörte, konnte er seinen Ohren kaum glauben. Doch bald schon würde es für ihn Sinn ergeben. Der Erkorene hatte nämlich ein Problem. Es schien so, als ob seine Gemahlin ihm keinen Erben bereiten konnte. Selbst Marwin hatte, als er dies von seiner Majestät, Wenzel, persönlich erfuhr, schlicht den Vorschlag, eine Beischläferin zu arrangieren, gemacht. Dies schien den Kaiser ungemein zu erzürnen, woraufhin sein Gegenüber sofort den Mund hielt und das Thema nicht weiter ansprach. So etwas war dem Herren ganz sicher auch schon von anderer Seite gesagt worden, da war er sich sicher.

Wie dem auch sei, das Kaiserhaus brauchte einen Nachfolger in der Sukzessionsordnung und dieser Nachfolger konnte nicht einfach irgendwer sein. Irgendein Kind zu adoptieren war hier nicht möglich, denn der Herrscher des Heiligen Ordanischen Reiches musste „heilig“ sein. Dies bedeutete, dass der künftige Souverän, so wie der jetzige, magische Kräfte besitzen musste. Und hier kamen er und seine Untergebenen ins Spiel. Die Heilige Gesandtschaft unter der Führung Marwins sollte Zauberer ausfindig machen. Die Absicht dahinter war nicht diese zu vernichten, sondern einen Erben für das Kaiserhaus zu finden! Dies brachte die Gruppe nun hierher. Sie gingen Gerüchten, über „Dämonen“ und „verhexte Kinder“ nach, in der Hoffnung, einen Magier zu finden. Es war eine wahre Tortur. Seit über zwei Jahren streiften die Männer nun schon durch alle Lande, hatten aber bisher nichts gefunden. Bestenfalls waren die Kinder, die sie vorfanden, „besonders“, aber nicht magisch.

Langsam wurden sie der Sache schon müde und sie weiteten die Suche von Kleinkindern auf etwas ältere aus. Diese Ereignisse und Umstände hatten sie nun heute hierhergeführt. Allzu große Hoffnungen machten sie sich nicht. Die meisten Eltern, die ein offensichtlich „verfluchtes“ Kind zur Welt brachten, sahen sich bald mit einem Lynchmob oder ähnlichen Entwicklungen konfrontiert, die sehr schnell zum Tod des Babys führten. Die Bevölkerung war so abergläubisch wie eh und je. Dazu hatte auch der jahrzehntelange Hexenwahn das seine getan. So oder so würden die Männer nun überprüfen, ob es mit dem Gerede, das über die Mosers umging, etwas auf sich hatte. Es war die Aufgabe, die ihnen seine Majestät aufgetragen hatte und man wagte es nicht sich hierbei zu widersetzen.

Über den kleinen Weg näherten sich die Gesandten dem Bauernhaus an. Im Fenster des ersten Stocks konnte man sehen, wie sich ein Vorhang bewegte und das Gesicht eines Kindes auf diese herunterblickte. Marwin trat an die Eingangstür heran und klopfte an deren altes Holz. Es dauerte ein Weilchen, aber schließlich hörte man Schritte von drinnen und eine Person öffnete ihnen die Türe. Es war eine Dame noch nicht ganz mittleren Alters mit goldblonden Haaren, welche unter einem traditionellen, bäuerlichen Kopftuch fast zur Gänze verschwanden. Überrascht blickte sie den Ankömmlingen entgegen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie in unsicherem Ton. „In der Tat können sie das“, gab der Mann kurz zurück. „Ich bin der Oberste Gesandte der Heiligen Gesandtschaft und wir hätten ein paar Fragen an Sie.“ Die Frau schien eingeschüchtert und ließ die Gäste zu sich ins Haus hinein.

Nachdem sich alle an den Tisch in der Stube gesetzt hatten, begann Marwin der Bäuerin zu erklären, dass sie auf der Suche nach „besonderen“ Kindern waren. Als sie dies vernahm, reagierte die Frau, wie erwartet, reflexiv mit Bestreitungen: „Sie müssen sich bei uns im Haus geirrt haben. Meine Tochter ist vollkommen normal.“ Viel zu oft hatten die Männer nun schon dieses Spiel gespielt. Sie machten zwar die üblichen Garantien, dass sie nichts Böses mit dem Kind vorhatten, doch aufgrund der Geschichte der Hexenjagden im Land glaubte ihnen meist keiner. Das war natürlich verständlich. Auf die Frage, wo denn das Mädchen gerade war, antwortete die Mutter: „Sie ist nicht hier. Sie hilft bei der Arbeit am Feld. Dort draußen werden sie sie suchen müssen.“ Es war eine Lüge, eine, die augenblicklich vor ihr zerbrechen würde. Einen Moment später konnte man nämlich aus dem Obergeschoß ein Rumpeln hören. Einer der Besucher erfragte da sogleich: „Und wer ist das dann?“ – „Äh, meine Katze! Wir haben viele Katzen, müssen Sie wissen. Da wird auch öfters mal was auf den Boden hinuntergestoßen. Sie wissen ja, wie Tiere sind“, versuchte sich die Bäuerin schnell in einer Ausrede. Auch dies half nichts, da unmittelbar darauf ein Mensch ans obere Ende der Treppe trat und ein paar Stufen herunterstieg, um aus Neugierde zu lauschen, wer denn zu Besuch gekommen war.

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Als ihre Mutter dies mitbekam erstarrte sie förmlich. „Hallo, junge Dame!“, rief ihr da Marwin zu. „Wir sind deinetwegen hier. Komm ruhig runter.“ Ein paar wilde Stampfer donnerten daraufhin sogleich die Stiege herab. Wer sich den Männern nun präsentierte, war doch eine Überraschung für diese. Ein Mädchen, das sie so um die zehn Jahre alt schätzten, stellte sich selbstbewusst, breitbeinig vor ihnen hin. Aus ihrem runden Gesicht sprang ihnen buchstäblich der Enthusiasmus entgegen, den sie hatte, weil sie ein paar neue Leute kennenlernen würde. Sie trug ein beiges, besticktes Kleid, das ein paar Schmutzflecken aufwies. „Hallo, ich bin die Viktoria!“, stellte sie sich ihnen unaufgefordert vor. Beim Anblick des Kindes wurde den Männern sofort klar, dass sie gefunden hatten, wonach sie gesucht hatten. Das Kind hatte lange, karmesinrote Haare, ein so gänzlich unnatürliches Rot, dass man in ganz Ordanien niemanden finden würde, der so etwas jemals gesehen hatte. Rote Haare waren immer ein Merkmal außergewöhnlicher Kräfte gewesen. Melgar und seine Abkömmlinge hatten sie und auch der jetzige Kaiser hatte sie, wenn auch in einem wesentlich weniger intensiven Farbton.

Aus ihren Augen leuchtete ihnen ein Feuer entgegen und alleine schon ihre Präsenz im Raum verströmte eine spürbare Aura. Für die Männer gab es hier keinen Zweifel. Sie würden zwar die Tests machen, die sie sonst auch immer machten, aber die Ergebnisse dieser wussten sie jetzt schon. Viktoria war offensichtlich eine Magierin. Nervös blickte die Frau, die sie eingelassen hatte, nun zu der Gesandtschaft, dann zurück zu ihrer Tochter und fuhr diese folglich an: „Viktoria! Was habe ich dir gesagt? Nie hörst du auf das, was man dir sagt!“ Die Mutter wandte sich nun zögerlich dem Obersten Gesandten zu: „Werden Sie sie jetzt mitnehmen? Ich muss sie aber warnen. Die Kleine wird sich ordentlich wehren!“ Sie schien noch nicht so ganz zu begreifen. Daher setzten sie die Herren nun wieder möglichst ruhig und gelassen hin und begannen die Sache nochmals, diesmal aber mit mehr Details zu erklären. Das Verhalten der Mutter hatte die Männer durchaus verwundert. Warum hatte sie so schnell ihr eigenes Kind aufgegeben und nicht mehr Widerstand geleistet? Es war eine kuriose Begebenheit.

Damit hatte die Delegation ihre Aufgabe erfüllt. Sie würden das Kaiserhaus in Kenntnis setzen und bald schon würde seine Hoheit hier persönlich zu Besuch kommen.

Amalie und Wenzel saßen auf jeweils eigenen Stühlen, die Armlehnen hatten. Es waren nur schlichte, banale Holzstühle. Die Familie, deren Haus sie besuchten hatte sich soeben von ihrem Kniefall erhoben und gegenüber von ihrem Herrn und ihrer Herrin auf deren Erlaubnis hin hingesetzt. Es war ein einfaches Heim, in dem sie lebten. Die Witwe, die ganz in schwarz gekleidet war, erzählte ihnen nun von ihrem Mann und dem Vorfall, der sich zugetragen hatte. „Er hatte wirklich nichts mit der Ketzerkirche zu tun. Er war nur Freund mit einem von den einstigen Alethischen, mehr war es nicht! Das weiß ich. Die Soldaten haben damals alles hier durchsucht und keine verbotenen Texte oder irgendwelche anderen Beweise dafür gefunden. Er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Mein lieber Sigmund ist zu Unrecht hingerichtet worden!“ Das Kaiserpaar hörte gespannt und mit möglichst einfühlsamer Miene zu. Der Rest der Familie, der auch schwarz gekleidet war, saß nur daneben und schwieg.

Dann, als die Frau des ehemaligen Schmieds mit ihren Ausführungen fertig war, versuchte Wenzel gebührend zu antworten. Er sammelte seine Gedanken einen Moment und sprach dann: „Mir sind die Umstände bekannt und ich gebe Ihnen recht. Es geschieht viel zu viel Unrecht in diesem Land. Ich arbeite daran, das zu ändern, aber ich kann nicht überall sein.“ Die Frau und ihr ältester Sohn nickten dem Herrscher bestätigend zu. „Ich habe euch hier ein wenig Kompensation mitgebracht. So viel ich mir ausrechnen habe lassen, wird es den Verlust finanziell ausgleichen. Den Schmerz heilen wird es aber nicht, dessen bin ich mir vollstens im Klaren. Mein Beileid zu eurem Verlust! Möge Gott euch schützen!“ Der Kaiser reichte ihnen einen Beutel, der mit Goldmünzen gefüllt war. „Vielen Dank, mein Herr!“, taten seine Untertanen ihm die erwartete und angemessene Ehrerbietung und ließen sich dabei wieder auf die Knie fallen. In Wenzels Gesicht machte sich kurz ein Anflug von Unbehagen sichtbar, welcher dann aber gleich wieder verschwand.

Die beiden verließen die bescheidene Wohnstätte. Sie waren hier nach Ilmhagen auf Wenzels Initiative hergekommen. Permanent hörte er von seinen Laufburschen, was für Dinge sich im Reich zutrugen. Er war nicht sonderlich erfreut darüber. Um ein Zeichen zu setzen hatte er seine Reise in den Südwesten nun dafür genutzt, auch hier Halt zu machen und den Opfern der Unterdrückung Gehör zu geben. Mehr als ein symbolischer Akt würde dies im Großen Ganzen nicht sein, aber dennoch war es von Bedeutung für ihn. Auch Amalie war da einer Meinung mit ihm. Die Zwei traten aus dem Haus, vor dem zwei Kaisergardisten Wache gestanden hatten. Dann gingen sie hinüber zu ihrer Kutsche und setzten ihre Fahrt fort.

Wohin waren sie nun genau unterwegs? Althain hieß das Kuhdorf, das sie sich als Ziel gesetzt hatten. Es war der Ort, den ihm die Heilige Gesandtschaft mitgeteilt hatte. Dort hatten sie angeblich ein Kind gefunden, dass Zauberei beherrschte. Der Wagen rollte los. Im Gefolge waren die Heilige Gesandtschaft, sowie eine Handvoll Garden zum Schutz. Auch Brahm, der Kommandant der Garde, war mitgekommen und ritt neben der Kutsche mit. Wenzel schaute hinüber auf seine Liebste. Sie hatte ein hellblaues Kleid mit Rüschen an, viel zu gehoben für ihre Unternehmung hier. Als sie seinen Blick bemerkte, begann Amalie zu sprechen: „Tut mir leid, dass ich dich gezwungen habe mit dem Wagen zu fahren, obwohl du lieber geflogen wärst. So ist es einfach sicherer. Wir müssen auch auf unsere Sicherheit achten.“

„Nein, du hattest schon recht. Ich habe mal wieder nur an mich gedacht. Ich weiß ja, dass du auch unbedingt mitkommen wolltest und nachdem wir ja einen offiziellen Besuch, eigentlich sogar mehr offizielle Besuche abstatten, macht es Sinn die traditionelle Methode hier zu benutzen“, gestand er ihr zu. Sie meinte darauf, „Mit Sicherheit haben selbst die Melgarionen, die ja auch Magier wie du waren, sich an solche Formalitäten gehalten und sind nicht einfach dahergeflogen gekommen.“ Wenzel war sich da zwar nicht so sicher, beließ es aber dabei. „Freust du dich schon so?“, fragte er nun seine Ehefrau, deren aufgeregtes Zittern er schon eine Weile beobachten konnte. „Ist es so offensichtlich?“, wollte Amalie daraufhin wissen. „Ja, ist es. Auch in deinen Augen kann ich es sehen. Eine Mischung aus Freude und Nervosität.“ Sie widersprach ihm nicht. Er kannte sie mittlerweile genauso gut, wie sie ihn kannte. Gemeinsam hielten sie dann eine Weile Händchen.

Langsam bewegte sich ihr Gefährt in Richtung ihres Zielortes. Sie überquerten eine Straßenkreuzung südlich der Karantischen Wälder, eben da, wo er mit den Märtyrern einst beim Umzug in ein neues Hauptquartier entlanggeritten war. Als er durch das Fenster dorthin gen Norden blickte, klopfte sich der Kaiser dreimal auf die Brust. Eine Ehrerbietung gewissermaßen. Erst am nächsten Tag kamen sie in Althain an. Es war noch relativ frisch, als sie frühmorgens anrollten. Wenzel trat zuerst heraus und half dann seiner Dame beim Ausstieg. Als sie um sich blickten, fanden sie ein winziges Dörfchen mit ärmlichen Holzhütten, in denen die Menschen hausten, vor. Wie erwartet. Der Geruch von Tiermist stieg ihnen in die Nase. Ihn rührte dies nur wenig, doch Amalie schien davon irritiert zu sein.

Bevor die beiden irgendwo hingehen konnten, begab sich schon eine Vorhut der Heiligen Gesandtschaft für sie zu dem Haus der Mosers. Mit weitem Abstand folgten dann erst die beiden, begleitet vom immerzu wachsamen Brahm und drei anderen Gardisten. Es war fast niemand auf den Straßen zu sehen, was Wenzel, der es nicht mochte „in voller Montur“ von Schaulustigen beobachtet zu werden, nur allzu recht war. Er hasste die Aufmerksamkeit der Menschen. Dies war Amalie wohl bekannt. Sie war diejenige, die beordert hatte, dass sich „möglichst wenige auf den Straßen befinden“, wenn sie dort aufkreuzten.

Als sie das Bauernhaus erreichten, sah Amalie blaue Hortensien, die in dem Beet im Vorgarten gepflanzt waren. Sie erinnerten sie an ihre Kindheit in Olemar. Ihre Eltern hatten auch immer wunderschöne Hortensien in ihrem Garten wachsen. Teilweise waren sie bedeckt vom Laub, das von den Bäumen fiel. Es musste nicht angeklopft werden. Die Bewohner des Hauses begrüßten den hohen Besuch schon vor der Türe. Alle drei, Getrude, Hans und Viktoria Moser präsentierten sich in ihren besten Kleidern. Nach den notwendigen Formalitäten traten dann der Kaiser und seine Gattin, gefolgt von den anderen Begleitern ein. Sie setzten sich auf eigens vorbereitete Stühle mit Kissen.

Wie der Haushalt, den sie zuvor besucht hatten, war dies ein ärmliches Heim. Jedoch hatten die Gastgeber auch einen Teppich am Boden ausgebreitet, der normalerweise nicht hier war. Auf diesem war ein niedriger Tisch, auf dem man süße Obstküchlein für die Gäste auf Tellern bereitgestellt hatte. Recht viel mehr an „gebührendem Empfang“ konnten sie leider nicht bereiten. Es war auch klar wieso. Das Kind, ebenso wie seine Mutter, trug ein rotes Kleid, passend zu ihrer Haarfarbe, und hatte einen scheinbar brandneuen Haarreif. Der Vater, Hans, trug einen Anzug, der ein traditionell ländliches Design hatte. An seiner Haltung, wie auch an seiner ledernen, von der Arbeit abgescheuerten Haut, war ihm die schwere seines Alltags abzulesen. Die Familie wagte es nicht zuerst zu sprechen und schaute nur auf den hohen Besuch hinüber. Das Kaiserpaar seinerseits, blickte anfangs auch nur auf die drei hinüber, wobei es beim Anblick des Mädchens sofort klar wurde, dass diese tatsächlich eine Magierin war.

Dann erhob Ihre Hoheit, die Kaiserin, die Stimme und redete nicht um den heißen Brei: „Das Kaiserhaus sucht einen Erben. Daher hätten wir Interesse ihre Tochter zu adoptieren. Sie sind sich sicher bewusst, dass dies aufgrund ihrer „Besonderheit“ ist.“ Ihre Entgeisterung war ihnen durchaus anzuerkennen und Hans entgegnete: „Wenn wir mit vielem gerechnet hätten, aber damit nicht.“ Unklar darüber, wie sie dem begegnen sollte zuckte Amalie nur mit den Schultern und sagte: „Tja. Die Welt ist voller Überraschungen.“

Die Worte der Sich-Unterhaltenden gingen währenddessen über Wenzels Kopf hinweg. Er registrierte sie nicht einmal. Etwas anderes zog ihn in seinen Bann. Es waren Viktorias Augen, in die er intensiv hineinstarrte. Das flackernde Feuer darin faszinierte ihn. Es war ein Feuer so heiß und lodernd, dass es sich in seine Seele brannte. Ebenso aber starrte auch das Mädchen zurück. Sie hatte mit dem nervösen Baumeln ihrer Füße aufgehört und blickte nun auch in Wenzels Augen. Darin erkannte sie den kleinen funkelnden Stern in seinen Pupillen. Relativ bald bemerkten die anderen Anwesenden, das ungewöhnliche Verhalten der beiden und hörten auf zu reden. In die Stille des Raums hinein fragte die Kleine nun den Kaiser: „Du bist auch ein Dämon, oder?“ – „Nein“, erwiderte Wenzel, „Ich bin ein Magier.“ Ein kindliches Grinsen formte sich da in Viktorias Gesicht. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie plötzlich auf und ließ eines der Teller, das auf dem Tisch zwischen ihnen stand, durch Telekinese auf Wenzel hinüberfliegen! Der Mann brachte es nur einen Zentimeter vor seinem Körper zum Stillstand. Während das Geschirr weiterhin in der Luft vor ihm schwebte, ließ das Mädchen ein beeindrucktes „Ohh“ aus.

Sogleich packte sie ihr Vater da am Arm und begann sie heftig zu tadeln. Der Souverän erhob in dem Moment aber seine Hand. Der Vater verstand das Signal und ließ sofort von seiner Handlung ab. „Es ist okay. Sie wollte nur testen, ob ich auch wirklich die Wahrheit sagte“, erklärte Wenzel die Situation. Die Empörung der Eltern verzog sich dadurch wieder. Sie sahen, dass Wenzel Verständnis für Viktorias Verhalten hatte. Die junge Dame riss sich dann von ihrem Vater los und stellte sich direkt vor den Kaiser. „Hast du auch Träume von Dingen, die einmal passieren werden?“, erfragte sie nun von ihm. Er antwortete kurz mit: „Ja, hab ich.“

Behutsam ließ Wenzel den Teller wieder herab auf die Tischplatte. Die feinfühlige Kontrolle seiner Telekinese schien Eindruck bei dem Kind zu machen. Schließlich versuchte Amalie wieder das Gespräch in die gewünschten Bahnen zu leiten. „Und was meinen Sie zu unserem Vorschlag?“, adressierte sie nun die beiden Elternteile. Gertrude und Hans schauten sich an und flüsterten sich dann gegenseitig etwas zu. Es dauerte eine Weile, aber die Bittsteller hatten es nicht eilig. Als sie ihre Unterhaltung beendet hatten, antwortete der Vater Amalie dann:

„Es ist eine schwierige Sache. Das Kind ist schon zu alt für so etwas.“ Dieser Sache war sich das Herrscherpaar natürlich bewusst. Die Worte des Mannes zeigten allerdings, dass er annahm, ohnehin kein Mitspracherecht bei der Angelegenheit zu haben, da es das Kaiserhaus war, das die Bitte an sie richtete. Er fuhr fort: „Viktoria ist…..ein anstrengendes Kind. Sie werden sehen, was ich damit meine.“ Er pausiert einen Moment und blickte dann hinüber zu seiner Ehefrau. Diese nickte ihm versichernd zu, woraufhin er weiterredete: „Sie ist ein Teufel! Wir haben sie immer geliebt, aber die Kleine ist verflucht und davon kann nichts Gutes kommen.“ Aufmüpfig gab Viktoria ihm da Widerrede und sagte: „Immer sagst du nur gemeine Sachen über mich, Papa! Was soll ich denn machen?“

Ein Anflug von Zorn war in Hans zu erkennen, doch er ließ es sein auf ihre Aussage zu reagieren. Alle im Raum waren überrascht von der Dreistigkeit, aber auch der Furchtlosigkeit des Mädchens. Der Meinung des Paares schenkten Wenzel und Amalie hier keinerlei Aufmerksamkeit. Für sie war diese Einstellung nur ein Resultat ihrer Unwissenheit über Magie. Infolge wurden noch ein paar formelle Dinge mit den Eltern besprochen. Danach trat Wenzel an die Kleine heran. Er ging in die Knie, um sich auf ihre Augenhöhe zu begeben und stellte ihr dann die Frage: „Möchtest du mit uns kommen, Viktoria? Wir würden uns gut um dich kümmern und du müsstest dir nie mehr Sorgen um deine Zukunft machen.“ Verunsichert blickte sie hinüber zu ihren Eltern. Diese deuteten ihr mit Gesten, dass sie das Angebot annehmen sollte. „Okay“, war alles, was sie Wenzel gegenüber äußerte.

Dies war der Tag an dem Viktoria adoptiert wurde. Auf der Rückfahrt in den Palast hatte das Kind dann doch noch einige Fragen. Sie wollte wissen, warum genau sie adoptiert wurde, eine Frage, auf die sie eigentlich von selbst die Antwort wissen musste. Außerdem wollte sie in Erfahrung bringen, ob sie denn ihre Eltern wiedersehen durfte. „Wenn sich die Möglichkeit ergibt, ja. Aber nicht ständig. Du wirst jetzt mit uns leben und wir werden deine Eltern sein, Viktoria“, hatte Wenzel ihr darauf geantwortet. Das Mädchen hatte dies überhaupt nicht verstanden. Sie machte aber auch keinen Versuch sich zu widersetzen. Den Großteil der Fahrt würde sie still neben Amalie sitzen und beim Fenster hinausschauen.

Es war ein klarer Herbsttag und auf den Feldern konnte man wieder einmal allerhand Leute schuften sehen. Wenn der eine oder andere einen neugierigen Blick zu ihr herüberwarf, versuchte sie sich hinter dem Holzverbau des Wagens zu verstecken. Sie war nicht schüchtern. Vermutlich hatte man ihr beigebracht besser nicht gesehen zu werden. Dies machte Wenzel und Amalie ein wenig traurig. Künftig würde die Kleine keinen Grund mehr haben sich zu verstecken. Ein neues Leben hatte begonnen. Für sie alle.