Wachs geschmolzen, Licht verloschen,
Schwarze Scherben überall,
Nach dem lauten Donnerhall,
Reckt sich aus Ruinen, kräftestrotzend,
Das neue Alte, ewig trotzend
Reich golden, unverdrossen.
Die Reichsgarde, angeführt von Bram an ihrer Spitze, marschierte heran und betrat die Stadt. Durch das Tor der südwestlichen Zeerbastion kamen sie herein, deren Transit der Kaiser durch seine magische Beseitigung der im Weg liegenden Trümmer ermöglicht hatte. Das letzte Glimmen und Schwelen der Brände saß noch immer tief in den Ruinen, an welchen sie nun vorüberschritten. Es lag der Geruch von Verbranntem in der Luft, aber auch andere noch wesentlich penetrantere „Düfte“. Überall wo man hinsah, nur Zerstörung. Die Blicke der ersten Kompanie der Reichsgarde fielen auf dieses traurige Resultat des vorangegangenen Tages. Die Soldaten waren klar berührt von dem, was sie hier sahen, doch versuchten es, ebenso wie ihr Herrscher, der sie nun durch die Straßen hier führte, nicht zu zeigen.
Auf ihrem Weg Richtung Stadtkern, begannen immer mehr Menschen aus den Überresten der Stadt, vermutlich aus Kellern, in denen Viele Schutz gesucht hatten, emporzutreten. Waren es am Anfang noch wenige, so wurden es nach und nach mehr, während der Tross der Stadtverwaltung entgegenzog. Nicht lang bevor sie dort angekommen wären, ritten ihnen allerdings der Bürgermeister und dessen Dienstmänner entgegen. „Ave, Melgar!“, proklamierte seine Exzellenz, ohne sich dabei bewusst zu sein, wie zutreffend doch diese althergebrachte Grußformel nun geworden war. Seine Heiligkeit würdigte den Mann nur mit einem lapidaren Handwink. An seiner Statt übernahm Brahm die Unterhaltung mit den Herrschaften.
„Guten Tag, Eure Exzellenz! Ich werde mich hier schon vorab entschuldigen müssen. Seine Majestät ist nicht hier, um Auskunft über den Zustand Greifenburgs zu erhalten. So dringend und ernst diese Sache auch sein mag, ist das Anliegen Seiner Hoheit im Moment nur auf eines beschränkt: Den Aufenthaltsort der Urheberin dieses Chaos. Könnten Sie mir mitteilen, wo diese ist?“ Die befragten Männer tauschten sich kurz und in geringer Lautstärke miteinander aus. Danach antworteten sie dem Kommandanten der Garde: „Diejenige, die sie suchen, wurde zuletzt beim Palast gesehen. Es ist uns nicht bekannt, ob sie sich immer noch dort befindet. Keiner hat sich bisher dorthin getraut. Es wäre wohl empfehlenswert, hier große Vorsicht walten zu lassen.“ – „Seine Majestät ist sich dessen durchaus bewusst. Seien sie versichert, dass unser Kaiser nichts außer Gott fürchtet!“
Nachdem er eine solch starke Aussage von sich gegeben hatte, schwiegen die anderen Herren erst einmal. Brahm trat an seinen Souverän heran, um ihm die erhaltene Information mitzuteilen, doch kam er nicht weit, da dieser ihm klarmachte, dass er das Gesagte sowieso mitgehört hatte. Während die Männer alle so dastanden, strömten immer größere Mengen an Leuten herbei. Aus allen Löchern schienen die Überlebenden hervorzukriechen, nur um sich seiner Heiligkeit anzunähern, um einen Blick auf diesen zu erhaschen. Aber war das wirklich der Grund dafür? In den Augen der Menschen, die sich hier um den Erkorenen scharten war Angst und Unsicherheit zu sehen. Die Verwüstung ihrer Stadt hatte sie alle schwer gebeutelt. Es war definitiv Angst, die sie beherrschte, doch auch würde sich sogleich etwas anderes zeigen.
Ohne Aufforderung begannen die Ersten, „Lang lebe der Kaiser!“, „Ave, Melgar!“, aber auch andere Parolen der Revolution, die mittlerweile 17 Jahre zurücklag, zu rufen. Anfangs noch leise, wurden diese immer lauter und lauter. Seine Hoheit schaute da zwar interessiert, gab aber keinerlei Reaktion bezüglich dem, was die Menge hier skandierte, preis. Das Volk hatte offenbar immer noch großes Vertrauen in seinen Herrscher. Niemand machte ihn für die jüngsten Ereignisse verantwortlich. Gleich darauf wurde an die Reichsgarde die Order ausgegeben, sich langsam zum zerstörten Greifenburger Palast zu begeben. Unmittelbar danach hob der Erkorene jedoch ab und flog alleine in Richtung des genannten Ziels voraus. Aufgebracht, konnte man vernehmen, wie seine Ehefrau ihm da nachrief, was aber in den immer lauter werdenden Skandierungen der Massen hier unterging. Ohne sie zu Rate zu ziehen, hatte er sich einfach auf den Weg gemacht und sie zurückgelassen. Kommandant Duenitz sah ihren Zorn, wusste aber nicht, wie er diesen momentan besänftigen konnte. Gemeinsam zogen sie dann alle ihrem Zielort entgegen, einen riesigen Rattenschwanz an Menschen nach sich ziehend.
Wenzel wollte eine eventuelle Konfrontation seiner Liebsten mit Viktoria verhindern. Deshalb holte er nun einen Vorsprung gegenüber den anderen heraus. Er würde der Allererste sein, der mit seiner Tochter redete. Doch was würde er ihr sagen? Wie konnte er an die junge Dame herangehen, deren Geisteszustand schon so weit vorangeschritten war, wie ihrer? Er ließ sich dazu nun allerlei Sätze durch den Kopf gehen. Als er nun so auf seinem Weg zu dieser den Himmel durchkreuzte, spürte er nichts. Erst als er beinah schon angekommen war, hatte es sich durch seine Hirnwindungen, welche heute offenbar ungewöhnlich langsam operierten, hindurchgeschlängelt, dass er gar nicht die Aura des Mädchens wahrnehmen konnte. Sie war aber nicht dazu imstande ihre Aura zu unterdrücken. Diese Tatsache ließ nun Nervosität in ihm hochsteigen, obgleich er ohnehin schon ein hohes Ausmaß an solcher verspürte. Er erblickte den desaströs mitgenommenen Prachtbau vor sich und ließ sich genau davor herab. Welch eine Schande es war, wie auch dieses Gebäude ruiniert war, kam ihm aktuell aber nicht in den Sinn. Jetzt zählte erst mal einzig und allein Viktoria.
Er durchschritt die einstige Pfalz. Eingestürztes Dach, zahllose umgefallene Wände und zerschmetterte Fenster. Der Zustand war im Rahmen des Erwarteten, leider. Als er so die Gänge und einsturzgefährdeten Räumlichkeiten durchquerte, begann er nun wiederholt ihren Namen zu rufen: „Viktoria! Viktoria!“ Anders wusste er sich momentan nicht zu helfen, denn er konnte ihre Magie nach wie vor nicht spüren. Es kam keine Antwort. Er ging weiter. Schließlich erreichte er den Speisesalon. Dessen Türen waren aus den Angeln geflogen und alles hier drinnen schien völlig hinüber zu sein. Vor seinen Füßen fand er dann plötzlich ein eigenartiges Objekt, welches er sogleich neugierig aufhob. Ein Ring, mit ein paar Zacken darauf, welche dem Ding vermutlich das Aussehen einer Krone geben sollten. Nebenan lag ein umgefallener, größerer Tisch, der ihm einen Teil seiner Sicht versperrte. Wenzel ging ein paar Schritte vorwärts, nur um dann wieder anzuhalten. Er kam zum vollkommenen Stillstand.
Hinter dem Möbelstück, das ihn daran gehindert hatte, die Gesamtheit des Bodens hier zu sehen, offenbarte es sich ihm nun. Er blickte hin, doch sah er gleich wieder weg. Die Augen sahen es nicht. Nein, sie sahen es nicht! Sein Verstand begriff es, doch gleichzeitig begriff er es nicht. Er wollte es nicht begreifen. Der Zauberer rührte sich nicht. Weiterhin stand er da, ohne jedwede Regung. Etwas Zeit verging, dann konnte man hören, wie sich die Garde, also auch seine Frau und Brahm hierher annäherten. Auch sie würden es sehen und nicht sehen, begreifen und nicht begreifen.
Schwer drückte eine dunkelgraue Wolkendecke vom Himmel herab und manifestierte damit die Elegie des Anlasses. Die Überreste des Melgarionenpalastes um sie herum wirkten in ihrer Verlassenheit fast schon gespenstisch, jedoch schützten sie die Anwesenden vor unerwünschten Blicken. Alle waren sie in Schwarz gekleidet, die Frauen mit der anlässlichen, traditionellen Vollverschleierung. Die sehr klein gehaltene Trauergesellschaft stand vor einem Grab, das gerade zugeschüttet wurde. Seine Worte hatte der Priester schon gesprochen und die Zeremonie war bereits abgeschlossen. Es herrschte eine drückende, melancholische Stille. Ganz vorne stand das Kaiserpaar und knapp hinter ihnen Ylva und Brahm, gefolgt von Irnfrid, Marzia, Eleonore, Peter und Amalie’s Eltern. Es handelte sich somit um eine sehr intime Beerdigung im engsten Kreise Ihrer Hoheiten. Schaufel um Schaufel an Erdmaterial wurde von den Totengräbern in die Grube und auf die dort hinuntergeworfenen Rosen befördert, während alle nur lautlos dastanden.
„Viktoria von Althun – Wahre Liebe ist bedingungslos“
Dies war auf dem Grabstein zu lesen. Dieser stand ganz alleine in einem Innenhof des ehemaligen Prunkbaus. Nur ein einziger weiterer Grabstein befand sich direkt daneben, auf dem die Namen von Wenzels Adoptiveltern eingemeißelt waren. Im Gegensatz zu Viktorias hatte man ihre Gebeine nie gefunden, weshalb dies nur ein Scheingrab war. All dies drückte schwer auf sie alle. Ylva, jene Frau, welche auf die Prinzessin immer aufpassen hätte sollen, war sichtlich in Trauer. Auch konnte man deutlich die Gemahlin des Kaisers hinter ihrem schwarzen Schleier weinen, ja gar schluchzen hören. Ihr Mann hatte seinen Arm fest um sie gelegt. Von ihm hörte man nichts.
Seine Majestät schaute nur weiterhin zu, wie das Grab aufgefüllt wurde, welches unter einem beim Palastbrand abgefackelten Baum lag. Als Einziger schien er standhaft zu bleiben. Dann geschah aber etwas Unerwartetes. Plötzlich trat der Magier an den Grabstein heran und fiel davor auf die Knie. Den anderen Anwesenden hatte er den Rücken zugekehrt, weswegen keiner sein Gesicht sehen konnte. Jedoch war auszumachen, wie der Mann sich mit der Hand zum Gesicht fuhr. Jeder wusste was vor sich ging. Darauf spürten dann alle Anwesenden, wie die Atmosphäre sich hier zu verändern schien. Die beiden jungen Mädchen, aber auch Peter blickten etwas irritiert umher, bis sie verstanden, dass der Erkorene die Ursache dieses seltsamen Gefühls war, das in der Luft lag. Die ersten Tropfen fielen vom Himmel und rasch wurden es mehr und immer mehr.
Da trat die Kaiserin an ihren Liebsten heran, um an seiner Seite zu sein. Selbst Irnfrid und andere, die nicht wussten, wie Zauberei wirkte, begriffen, dass die Emotionen seiner Heiligkeit, die er nun nicht mehr in Zaum halten konnte, dieses Wetter verursachten. Alle warteten nur in tiefer Wehmut. Wenn auch Außenstehende die Schwere diese Ereignisse nicht zur Gänze verstehen mochten, so taten dies zumindest die Trauergäste hier. Es war eine schlimme Tragödie. Eigentlich waren es multiple Tragödien, die hier gemeinsam stattgefunden hatten. Das Reich, ebenso wie das Kaiserhaus, hatten schwere Schicksalsschläge erlitten. Es war eine zutiefst persönliche Krise, und gleichfalls eine politische.
Letzteres beschäftigte momentan wohl eher Kanzler Rubellio. Alle anderen waren vom Kummer über die Kaiserstochter beherrscht. Dennoch grübelte er jetzt schon über all diese anderen Sachen nach, während sie alle immer nasser vom zunehmenden Regen wurden. Wasser floss auch vom Kaiser herab. In vielerlei Weise. Es war ein Tag größter Trübsal, der das Ende von etwas Großem bedeutete. Was dieses war, würde sich für sie erst später herausstellen.
„Die Budgetverhandlungen haben noch nicht einmal begonnen und schon jetzt steht fest, dass diese zu einer Schlammschlacht zwischen den Fürsten und den Vertretern der Armee ausarten werden. Die Apokalypse, die das Land durch die Heimsuchung dieses Todesengels widerfahren hat, ist ein gewaltiges Problem. Unsere Steuereinnahmen sind eingebrochen, aber wir benötigen erheblich mehr Geld, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Wer soll das alles bezahlen? Die Steuern in einer solchen Situation zu erhöhen, ist unmöglich, weil es großes Ungemach unter den reicheren Schichten erzeugen würde. Und die Arbeit der Bauern kann man auch nur bis zu einem bestimmten Grad erhöhen, wissen Sie? Es ist also völlig unklar, wie wir hier verfahren können.“
So teilte ein Mann in grellgelben Roben seine Besorgnisse einem Gleichgekleideten Herren mit. Der andere war an eine Säule hier am Gang angelehnt und zwirbelte schon beinah süffisant wirkend seinen Schnurrbart, während er dem lauschte, was sein Gegenüber zu sagen hatte. Das gelockte Haar dieses Reichstagsabgeordneten schaute unter dessen Chaperon hervor und auf seiner Brust war das Hauswappen von Alduino zur Schau gestellt. Schließlich erwiderte Fulco seinem Gesprächspartner: „Ich weiß, dass all diese Dinge stets Verhandlungen bedürfen. Dennoch frage ich mich, wie denn die Angelegenheit nun zu betrachten ist, angesichts der Tatsache, dass das Heer unter dem neuen Obersten Marschall nur noch ein Schoßhündchen seiner Majestät sein wird. Spricht die Armee überhaupt noch irgendwie mit einer eigenen Stimme oder ist sie bereits zu einem bloßen Instrument verkommen?“
„Sehen Sie, ich verstehe, dass hier auch Ihr Groll über die Enthüllungen in Translimesien, welche ihren Bruder in Ungnade gebracht haben, mitschwingt. Die Heilige Armee unterstand immer schon offiziell dem Souverän als Obersten Befehlshaber. Der Fakt, dass sie ihren eigenen Willen gegenüber dem Erkorenen durchsetzte, war allein der unerschütterlichen Autorität des nun zum Märtyrer gewordenen Theodor Kuhn zu verdanken. Dies war kein Normalzustand.“
Nicht sonderlich erfreut über eine solche Gegenrede, antwortete ihm Fulco: „Groll sagen Sie? Ja, ich bin zornig, aber die Bloßstellung meines Hauses hat hiermit nichts zu tun!“ Das war ganz offensichtlich eine Lüge, aber sein Zuhörer beließ es einfach dabei und widersprach ihm lieber nicht. „Die großen Adelshäuser Ordaniens, nein, des ganzen Reiches haben sich in der postrevolutionären Periode immer mit den Streitkräften absprechen können und zu einer Einigung kommen können. Mit dem Herrn Ferenc scheint dies erheblich schwieriger, wenn nicht gar schon fast unmöglich geworden zu sein. Etwas hat sich geändert. Und sowohl Sie als auch ich wissen, was dieses Etwas ist: Der neuernannte Oberste Marschall ist nur eine Marionette des Kaisers. Darum werden die Fürsten, Grafen und Freiherren aller Lande es von nun an sehr schwierig haben.“
Während er dem zuhörte, drehte sich sein Gesprächspartner immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass sie auch niemand belauschte. Keiner da. Die Aussagen, die das Oberhaupt der Von Alduino Dynastie nun getätigt hatte, stimmten. Der Wind im Reich hatte sich gedreht und die großen Häuser mussten nun um ihre künftige Macht und Privilegien bangen. Auch er teilte diese Besorgnis. Somit gab er dann dem Herren zurück:
„Es wäre ratsam sich diesbezüglich mit dem Sprecher auszutauschen. Mit den Veränderungen der letzten Wochen, scheint eine neue Ära angebrochen zu sein und wir, der Adelsstand, müssen uns wohl neuorientieren.“ – „Ich werde mich mit ihm zusammensetzen, ja. Doch reicht dies sicher nicht aus. Zuerst sollten wir uns mit möglichst vielen anderen Mitgliedern hier absprechen“, erwiderte ihm der Camenier. Dann brachte er noch eine weitere Idee zur Ansprache: „Wie ich mir sagen habe lassen, ist die Witwe des verschiedenen Obersten Marschalls nicht gut auf seine Hoheit zu sprechen. Kontakt mit ihr aufzunehmen könnte uns hier auch von Nutzen sein. Ich habe da allerdings nicht die persönlichen Beziehungen zu.“ Der andere Herr verstand augenblicklich, worauf er hinauswollte, und äußerte folglich: „Ich kenne da jemanden. Überlassen Sie die Sache mir. Ich werden schauen, was sich tun lässt.“- „Sehr gut!“
Private Residenz Ulrich von Lohrs, früher Nachmittag
In einem Raum mit hoher Decke saßen vier Leute versammelt. Die Wandtapete, auf welcher sich ein pastelrosa Muster mit vielen Schnörkseln immerzu wiederholte, war ein echter Blickfang. Ebenso machten aber auch die anderen edlen Möbel, wie etwa die große Pendeluhr in der Nähe des Fensters, aber auch die vortrefflichen Ledersessel, welche um ein winziges Tischchen angeordnet waren, ordentlich Eindruck. Das teure Heim des Generals hatte offensichtlich den Zerstörungen entgehen können, ein Schicksal, das mehr als die Hälfte aller Bausubstanz der Metropole nicht teilte.
Auf den Sitzen hier waren nun vier bedeutsame Personen zu einem Treffen zusammengekommen. Es waren Irnfrid Kuhn, die Witwe des gemarterten Obersten Marschalls, Fulco II. von Alduino, der Fürst Translimesiens, dessen Ruf nun deutlich unter der Schande litt, die sein Bruder mit dem Versuch ein Aufständischenheer aufzustellen über das ganze Haus gebracht hatte, Ulrich von Lohr, ein General der Heiligen Armee, den man mit der Wahl Ferencs als Nachfolger Theodors ausgebootet hatte, und schließlich Xaver von Duenitz, der älteste Sohn der Duenitz Dynastie, welche die Landesherren von Cislimesien waren, der bekanntlich nicht gut auf seinen Bruder, Brahm, zu sprechen war.
„Von Rauttenstein ist auf unserer Seite, dessen konnte ich mich persönlich versichern. Er hat außergewöhnliches Ansehen unter den Abgeordneten des Reichsrates. Ihm werden unter Garantie eine große Menge an Abgeordneten folgen“, legte Fulco den Versammelten dar. Die schwarzgekleidete Frau, was signalisierte, dass ihre Trauerperiode immer noch nicht zu Ende gegangen war, nickte darauf nur verhalten und kommentierte vorerst nichts. Es schien jedoch schon mehr an Emotion in ihr Antlitz zurückgekehrt zu sein, was natürlich nicht bedeutete, dass sich an ihrer Meinung etwas geändert hatte. Somit ergriff dann Xaver, ein stolzer Mann mit starken männlichen Zügen, das Wort: „Mein Haus hat auch viele Verbindungen in allen südlichen Landen Ordaniens. Diese Leute lassen sich durchaus als Verbündete bezeichnen und ich kann sie sicher überzeugen, auch geschlossen mit uns abzustimmen.“
Das schien sowohl Fulco als auch Ulrich die Stimmung zu versüßen. Beide waren im ersten Moment skeptisch gegenüber diesem Erben der Duenitz gewesen. Dies war kein Wunder, da dieser ja eng verwandt mit dem persönlichen Leibwächter des Erkorenen war. Schnell hatten sie aber in Erfahrung gebracht, dass dieser nichts von seinem jüngeren Geschwister hielt. Was genau der Grund dafür war, wussten sie nicht, da es sich hierbei um ein bestgehütetes Geheimnis handelte, dass noch zu Zeiten der alethischen Ketzerherrschaft begraben worden war. Die Antwort darauf spielte aber ohnehin keine Rolle. Fest stand nur, dass dieser Mann, genauso wie sie, ein Verfechter der Privilegien und Machtbefugnisse des Hochadels war.
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„Ich bin höchst erfreut darüber, mit welcher Leichtigkeit sich unsere neue Koalition hier formen lässt. Es scheint mir fast schon zu einfach von Statten zu gehen“, teilte der Camenier sein Empfinden den anderen Verschwörern hier mit, während er einen großen Schluck von seinem Tee nahm, welchen er dann wieder auf den Tisch hinabstellte. Dem erwiderte Irnfrid nun: „Einfach? Ganz so würde ich das jetzt auch nicht bezeichnen. Wir mussten uns hier im Geheimen treffen, da die Wände im Reichstagsgebäude immer mehr Ohren bekommen haben.“ – „Das hat lediglich mit der einstweiligen Unterbringung des Kaisers in dessen Räumlichkeiten zu tun. Sie sind schlicht von der zusätzlichen Anwesenheit der Karos verdächtiger geworden und in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, das ist alles“, meinte Fulco da. Doch die Dame konterte ihm sogleich: „Nein, das ist nicht wahr. So verdächtig, wie sie durch die Gänge schleichen, schnüffeln sie sicher herum und spionieren uns aus.“ Der Adelige schnaufte durch die Nase aus und führte die Konversation zu diesem Thema nicht mehr weiter.
Schließlich sah Ulrich seinen Moment gekommen und er erhob die Stimme: „Ich denke, dass die holde Dame hier durchaus nicht unbegründet besorgt ist. Über Jahre hinweg hat seine Hoheit die Reichsgarde immer mehr vergrößert und versucht ihnen mehr Kompetenzen zu übertragen. Mit unserem starken Mann, Theodor, ist der Versuch des Kaisers seine Macht auszubauen, zum Glück gescheitert, doch all das kann sich unter den jetzigen Vorzeichen nun tatsächlich ändern. Ich weiß von uns allen hier wohl am besten zu welchen Taten die Heilige Armee imstande ist, und dass sie willens ist jeden Befehl umzusetzen! Wir sollten nicht unterschätzen, was Seine Majestät tun kann, und wir sollten uns nicht zur Selbsttäuschung hinreißen lassen, dass er ‚ein liebenswerter Mann ist‘ und sich niemals an seinen politischen Feinden, die ihm doch all die Jahre seine Vorhaben im Reichsrat blockiert haben, rächen würde!“ Die anderen erkannten hier recht schnell, dass Ulrich ihnen nur Angst einflößen wollte.
„Und was willst du uns hier vorschlagen? Etwa einen Staatsstreich gegen den Erkorenen?“, fragte ihn da Fürst von Alduino in schnippischem Ton. „Gegen den, der von Gott erwählt ist, über Kaphkos zu herrschen, gegen den, der sich dem Dämon in Meglarsbruck entgegengestellt hat und dabei die ganze Stadt verwüstet hat? Willst du es wagen solche Macht herauszufordern?“ Der Mann sprach das aus, was allen hier eigentlich bewusst war. Sie alle hatten nach den Ereignissen am von Wenzel heraufprophezeiten Tag eine neue Form von Respekt gegenüber dem Kaiser gelernt. Oder vielmehr war es Furcht, als dass es Respekt war. Dennoch, das Zu-Wort-Bringen dieses Umstandes ließ nun den bitteren, erbosten General verstummen. Er wusste, dass Fulco recht hatte. Sie alle wussten es. Obendrein war da noch die Tatsache, dass niemand von ihnen wusste, was er denn alles mit Magie tun konnte. Selbst Irnfrid maßte sich kein solches Wissen mehr an, angesichts der Geschehnisse, denen sie bei der Zerstörung der Hauptstadt alle beigewohnt hatten. In seinen jungen Jahren hatte sie ein wenig von Wenzels Zauberkunst mit eigenen Augen miterleben können, doch das war schon lange her und der einstige Zauberlehrling war nun ganz offensichtlich kein Frischling mehr.
„Kein Putsch. Das ist zum Scheitern verurteilt“, äußerte Xaver da und fügte dann hinzu, „Wir sollten uns darauf konzentrieren zu tun, was wir mit Sicherheit können. Jegliche Maßnahmen, die unsere Macht mindern könnten, zu blockieren ist im Bereich des für uns Machbaren.“ Irnfrid und der Camenier stimmten dem Kerl hierbei zu. Ulrich zögerte, gab ihm dann aber auch recht. Was blieb ihm denn sonst anderes übrig? Alle hier waren sich im Klaren, dass Wenzel, aber vor allem auch Ferenc, der unter dessen Befehl stand, niemals etwas so Leichtsinniges, wie Gewalt gegen die Eliten anwenden würde. Sich hier einfach in die Defensive zu begeben war sicherlich die strategisch klügste Option, auch wenn sie politischen Stillstand bedeuten würde.
Nach ihrem Treffen verabschiedeten sich die Herr- und Damenschaften voneinander und gingen dann ihrer Wege. Irnfrid und Xaver würden sich wieder zum Reichstag begeben, wohingegen Fulco seinem Cousin noch einen Besuch abstattete. Der Duenitz preschte schnellen Schrittes voran und hatte recht rasch die Dame weit hinter sich gelassen. Durch die Straßen und über weite Promenaden spazierte er seinem Zielort entgegen. Es war mittlerweile wärmer, als es am Morgen noch gewesen war. Trotzdem hatte es eine ordentliche Weile gedauert, bis die frühmorgendlichen Nebelschwaden sich gänzlich verzogen hatten. Unter den Reihen an Linden zog er hindurch, von denen bereits die ersten Blätter anfingen herabzufallen. Der Herbst hatte spürbar begonnen.
Leider hatten viele der Bäume die Brände hier nicht überlebt. Überall, wo er hinsah, war nur Verwüstung. Selbst wenn die Straßen schon frei waren, konnte man zu allen Seiten Arbeiter schuften sehen, die das Geröll hier fortschafften, um den Wiederaufbau zu beginnen. An manchen Stellen in der Stadt hatte dieser sogar schon begonnen. Unzählbar viele Tagelöhner, aber vor allem auch Leibeigene, die ihren Robot verrichteten, schwärmten durch die Straßen, um die Reichshauptstadt wieder zum Leben zu erwecken. Während er so über das Pflaster schlenderte, wurde Xaver immer langsamer, da er sich von den Dingen, die er hier beobachtete, ablenken ließ. Der allgegenwärtige Geruch vom Pferdemist stieg ihm in die Nase, der Auswurf jener Tiere, die hier in gewaltiger Anzahl die Alleen entlangtrabten, um Menschen und Güter zu transportieren.
Zu seiner Rechten erblickte er einen Stand der „Barmherzigen Schwestern der Heiligen Elisabeth“, an dem eine Schlange von heruntergekommen aussehenden Leuten anstand, um eine Schüssel warmes Essen zu bekommen. Dieselbe Organisation konnte er des Öfteren auch bei der Ausgabe von Kleidung sehen und ebenso betrieben sie Seelsorge. All dies taten diese Frauen aus keinerlei Eigennutzen heraus. Sie wollten schlicht und einfach den Katastrophenopfern, von denen es momentan noch viele gab, helfen. Religion war nicht nur eine Ideologie, um die Massen gegen oder für etwas zu mobilisieren, es gab auch Gutes an ihr. Als der Adelige von diesen Umständen Notiz nahm, erwuchs in ihm der Wunsch, dass solche Barmherzigkeit auch von den Reichen und Mächtigen in Ordanien käme. Ein Wunschtraum.
Bald schon erreichte er das Regierungsgebäude und schritt hinein. An den Wachen vorbei und die Treppe nach oben ging’s. Dann bog er jedoch nicht in Richtung seiner Gemächer ab, sondern erklomm einen weiteren Treppenaufgang. Es gab da jemanden, dem er etwas sehr Wichtiges mitteilten musste. „Klopf, Klopf!“, ging es an der Türe. Nach wenigen Sekunden des Wartens ertönte eine Stimme von der anderen Seite: „Herein!“ Xaver folgte der Aufforderung und schloss dann die Türe hinter sich. Vor ihm saß ein Mann an seinem Schreibtisch mit Brille, kurzem, schwarzen Haar und in noblem Aufzug. Reichskanzler Peter freute sich sogleich über den Besuch.
„Werter Herr Duenitz, was ist ihr Anliegen?“ Der Adressierte sammelte kurz seine Gedanken und entgegnete ihm dann: „Eure Durchlauchteste Exzellenz, ich habe Nachrichten von höchster Brisanz für Sie!“ – „Oh? Und die wären?“ Dann fuhr er fort damit, ihm über seine Unterhaltung mit dem Kreis an Verschwörern zu berichten. „Es scheint so, als ob der Reichstag und die Eliten sehr unzufrieden mit den jüngsten Ereignissen sind, weshalb sie nun im Hintergrund Intrigen spinnen. Der Reichstag, allen voran Sprecher von Rauttenstein, plant aus Sorge um seine Privilegien, sich gegen jedwede politische Initiative des Kaisers zu stellen. Auch der ehemalige Vize-Marschall ist unter diesen. Ich konnte sie dahingehend täuschen, dass sie sich meiner Unterstützung mitsamt meinen Verbündeten sicher sind. Natürlich werde ich mich aber nicht auf deren Seite schlagen! Das Haus Duenitz war das erste große Adelshaus, welches sich der Heiligen Revolution angeschlossen hat. Wir sind treue Bündnispartner des Erkorenen.“
Diese Information erzeugte sichtliche Nervostität bei Peter Rubellio, welcher anfing mit den Füßen am Boden herumzuklopfen und sich im Gesicht zu kratzen. „Vielen Dank für die Warnung!“, bedankte er sich bei dem Adeligen. Dann brachte er seine Sorgen zum Ausdruck: „Wenn sie etwas Illegales oder Gewaltsames planen, dann muss ich sogleich das Militär informieren, um dem Einhalt zu gebieten!“ – „Halten Sie inne, mein Herr! Die Betroffenen haben es explizit untereinander klar besprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie keinen Putsch unternehmen wollen, beziehungsweise können. Sie haben da doch noch zu viel Ehrfurcht vor seiner Heiligkeit“, intervenierte Xaver unmittelbar, um überstürzten Überreaktionen zuvorzukommen.
Dem antwortete Peter: „Puh, da bin ich aber erleichtert! Wenn es nur eine Blockadehaltung im Reichsrat ist, werden wir es schon überleben.“ Insgeheim war er aber über diese Klarstellung durch den Cislimesier auch deshalb heilfroh, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob die Armee denn tatsächlich gegen den Reichstag vorgegangen wäre. Er kannte Ferenc. Nicht so gut wie Wenzel, aber gut genug, um zu wissen, dass der Mann zwar treu war, aber dennoch die Stabilität des Reiches als seine oberste Priorität betrachtete. Eine solch destabilisierende Handlung würde seinen Ansichten wahrscheinlich sehr entgegenstehen. Zusätzlich gab es zwar noch die Reichsgarde, aber Peter wusste, dass Wenzel seinen Soldaten niemals etwas so Problematisches beordern würde, selbst wenn diese seine Befehle, ohne mit der Wimper zu zucken, ausführen würden. Eine solch verzwickte Situation hatte sich jetzt glücklicherweise aber ohnehin nicht ergeben.
Der Kanzler stand auf und ging in seiner Aufgewühltheit hinüber zu seinem Bücherregal und wieder zurück an seinen Platz, wo er sich dann im Stehen mit den Händen an dessen Oberfläche abstützte. „Große Teile des heutigen Hochadels sind sowieso nur Opportunisten, die sich nach der Revolution unterwürfig auf die Seite der neuen Herren in Meglarsbruck geschlagen haben. Sie hatten und haben keine wahren Überzeugungen und konvertierten einfach wieder zum wahren Teleiotismus. Alles, was für sie zählte, war nur ihr eigenes Auskommen. Das hat sich nicht geändert. Sie wollen keine Konfrontation, nur dass man ihnen ihre Privilegien, die sie nach dem Umsturz des alten Regimes erhalten haben, nicht wegnimmt. Das läuft den Zielen seiner Hoheit zuwider, doch kenne ich unseren Souverän gut genug, um Sie versichern zu können, dass er hier nichts Tollkühnes unternehmen wird. Es wird sich nichts ändern. Alles wird beim Alten bleiben.“
Das Nun-Vernommene beruhigte auch Xaver in beträchtlichem Ausmaß. Die beiden Herren unterhielten sich nun noch ein wenig, wobei sie langsam von der anfänglichen Aufregung wieder herunterkamen. „Ich werde seine Majestät über das informieren, woran Sie mich hier teilhaben ließen“, hielt der Chef der Regierung fest. „Man bittet höflichst darum“, erwiderte ihm Herr Duenitz. Letztlich bekundete er ihm seinen Dank und verließ die Schreibkammer des Reichskanzlers. Obgleich weiterhin eine Spannung in der Luft zu liegen schien, dünkte es, als ob eine Krise, die letztendlich ihre Wurzeln in der Zerstörung zweier der bedeutendsten Städte des Reiches hatte, vorerst abgewendet worden wäre.
Einsam und bedrückt saß der Erkorene in seinem finsteren Zimmer, Vorhänge zugezogen. In seiner Trübseligkeit sinnierte er, wie nun schon seit vielen Tagen über alles, was ihm in letzter Zeit widerfahren war. „Ich wollte ihr helfen. Unbedingt helfen wollte ich ihr, doch letzten Endes war ich nicht dazu imstande. Hätte ich das überhaupt bewerkstelligen können? Ich glaube nicht. Ja, ich denke, dass ich nun endlich verstanden habe, dass sich hier Dinge entwickelt hatten, die außerhalb meiner Kontrolle waren. Mit aller Macht der Welt war Viktoria gesegnet und doch war sie so furchtbar verflucht! Sie litt unter all dem, auch ich konnte es sehen. Nur habe ich mich in meinem Wunschdenken wohl selbst angelogen, was die wahre Sachlage anbelangte. Ich konnte ihr nicht helfen. Viel zu viel gibt es, was ich über die menschliche Seele, was ich über die Welt noch nicht weiß und wahrscheinlich nie wissen werde.“
Amalie betrat leise den Raum. Sie kam bedächtig an ihren Geliebten heran und setzte sich dann direkt neben ihn auf die Bettkante. Er war immer noch zutiefst befangen vom Tod seiner Tochter, ebenso wie sie es war. Weil er aber sonst immer derjenige war, der standhaft blieb, besorgte die Melancholie des Kaisers seine Gattin in erheblichem Ausmaß. Ein paar Minuten saßen sie nur still beieinander und redeten nichts. Schließlich sagte er aber:
„Weißt du, so viele Szenen aus grauer Vorzeit spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Die große Revolte der Kaloportischen Plebs, deren Bilder sich die ganze Nacht in meinem Kopf immer und immer wiederholen. Die inbrünstigen Schreie, der schreckliche Gestank des Blutes, die wilden Kämpfe der Lynchmobs mit den Kräften des ketzerischen Kleinkönigreichs. Es nimmt kein Ende. Alles kehrt mir wieder ins Bewusstsein zurück. Melgars Erinnerungen, sie sind Teil von mir geworden, er ist Teil von mir geworden. Nein, es ist wohl noch mehr als das. Ich werde mehr und mehr zu ihm, bis vielleicht eines Tages nichts mehr von mir übrigbleibt.“
Jeden Tag hatte er ihr nun von diesem Prozess erzählt, dass Nacht um Nacht mehr von den Erinnerungen Melgars zu ihm zurückkehrten, seitdem dieser ihn am Tag der Verheißung, als deren Seelen verschmolzen waren, besessen hatte. All dies wog noch als zusätzliche Last zu den Ereignissen mit seiner Adoptivtochter auf ihm. Seine Frau versicherte ihn: „Mach dir keine Sorgen! Du bist Wenzel, mein Wenzel, und das wirst du auch immer bleiben, egal welche Erinnerungen noch in dein Gedächtnis eindringen.“ Jedoch glaubte sie ihre Aussage selbst auch nicht so wirklich. Ihr Ehemann hatte einen massiven Wandel durchlaufen, und sie konnte bei Gott nicht sagen, ob dieser aufgrund der zunehmenden Besessenheit Wenzels durch den Geist Melgars oder einfach der Fülle an entsetzlichen Ereignissen, die nun an ihm nagten, geschuldet war. „Hoffen wir’s“, gab er darauf schlicht zurück. „Selbst weiß ich langsam auch nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“ Danach verbrachten sie noch zärtlich und in aller Ruhe etwas Zeit miteinander. Etwas später verließ Amalie ihn wieder, wobei der Zauberer weiterhin in seinen Schlafgemächern verblieb.
Die feine, weiße Türe hinter sich behutsam zugemacht habend, drehte sie sich um, um davonzugehen. Aus der Entfernung konnte sie aber bereits Balduin, den Glatzkopf, herannahen sehen. Sie kam ihm entgegen, und stellte sich dann direkt vor ihn, um ihm demonstrativ den Durchgang zu blockieren. Mit gedämpfter Stimme vermittelte sie ihm: „Was willst du denn hier? Lass meinen Mann in Ruhe! Er kann im Moment keine Störenfriede wie dich gebrauchen. Was auch immer eure Probleme sind, ihr könnt ihn auch später darüber unterrichten. Geh jetzt!“ In Reaktion darauf rümpfte der Militär seine Nase entnervt. Er gab aber keine Widerrede und gehorchte der Anordnung Ihrer Majestät.
Nun ganz allein fuhr Wenzel fort damit, über verschiedenerlei Angelegenheiten nachzudenken. Diesmal versuchte er bewusst die Vergangenheit, die ihn aktuell auf permanenter Basis heimsuchte, außen vor zu lassen. In der Gegenwart hatte er auch allerhand Nachrichten erhalten, die äußerst alarmierend waren. Peter hatte ihm via Boten übermitteln lassen, dass die Begebnisse mit Viktoria nun große politische Spannungen erschaffen hatten, die den Hochadel nun dazu veranlassten, gegen ihn Ränke zu schmieden. Während sein Freund dem Kaiser gegenüber stark betonte, dass die Eliten keinen Aufstand gegen ihn planten, so war dieser hiervon ganz und gar nicht überzeugt. „Mit dem Tod meiner Tochter ist meine Blutlinie dem Anschein nach ausgestorben. Das wird diesen Leuten ein guter Grund und Beleg dafür sein, dass man mich stürzen kann. Die Konsequenzen dessen würden sie wohl verkraften, da es niemanden gibt, keinen einzigen Magier, der existiert, der meine Rolle übernehmen könnte. Viele von diesen Wendehälsen waren ja bereits zu Zeiten des Ordanischen Bundes Teil des Machtsystems. Sie tun nur was ihnen hilfreich ist, diese Schurken!“
Eventuell ließ er dann seinen Blick hinüber auf sein Nachtkästchen schweifen. Das Schwert mit einem feuerroten Stein im Knauf befand sich darauf. Die Männer der Stadtgarnison hatten es gefunden und ihm zurücküberstellt. Jetzt griff er nach dem Objekt und schwenkte es ein wenig hin und her. Sein Augenschein fiel natürlich sofort wieder auf das funkelnde Juwel. Es beschäftigte ihn sehr. „Das letzte Stück fehlt noch“, äußerte der Magier verhalten. Bald schon dämmerte es und es wurde Zeit für ihn schlafen zu gehen. Wie erwartet, kamen ihm auch diesmal wieder Visionen in seinen Träumen. Doch dieses Mal waren es Visionen anderer Natur als sonst.
Das Dunkel verzog sich und er fand sich inmitten einer Stadt wieder. Es war eine städtische Ansiedlung, so anders und befremdlich als jene, die ihm bekannt waren, dass er nicht recht wusste, was er von all dem halten sollte. Er schaute auf eine Straße, deren Belag nicht aus Kopfsteinpflaster bestand, sondern welcher eine durchgehende steinerne Oberfläche, wie aus einem Guss hatte. Wie das möglich war, verstand er nicht. Zu beiden Seiten dieser ragten große Wohngebäude in die Höhe, nichts Besonderes, auch wenn sie sehr hoch waren. Auf dem Verkehrsweg tummelten sich allerlei Gefährte, die allerdings seltsam und geradezu verstörend waren. Quietschend und röhrend bewegten sich allerlei dem Anschein nach eiserne Kutschen an ihm vorbei. Unglaublicherweise wurden sie nicht von Pferden gezogen!
Dies faszinierte Wenzel so sehr, dass er näher an eine Kutsche herantrat, welche am Straßenrand abgestellt war, und diese näher betrachtete. Offenbar war nicht einmal vorgesehen, dass diese von Zugtieren vorwärtsbewegt wurden. Was sie dann antrieb, war ein Mysterium für ihn. Nun begann er zu verstehen. Dies war die ferne Zukunft. Hatte man hier also Wege gefunden, um Gefährte mit Magie anzutreiben? Vermutlich…..naja, oder auch nicht. Der Zauberer gestand sich ein, dass er nichts von dem verstand. Die Menschen, die in diesem Traum an ihm vorbeigingen, trugen befremdliche Kleidung. Diese Szene war seltsam und gleichzeitig interessenweckend. Als er den ersten Schritt setzte, um diesen so andersartigen Ort noch weiter zu erkunden, riss es ihn plötzlich hinfort. Die Vision war vorüber.
Nicht allzu lange Zeit später:
Von herbstlichen Winden, die das bunte Laub herumwirbelten, umweht, streckten sich groß und erhaben die Mauern des Klosters Auersbach dem Himmel entgegen. Es war eines der bedeutendsten Klöster Ordaniens, was auch in seiner Weitläufigkeit und der Höhe von dessen Schutzwall, der das gesamte Klosterareal umgab, seinen Ausdruck fand. Darin war vieles im Gange und eine beachtliche Anzahl an Bischöfen, Kardinälen und anderen Kirchenvertretern waren dort zusammengekommen. Der Anlass: Die Konklave zur Wahl des neuen Patriarchen. Unter die zahllosen alten Gesichter hatte sich heute auch viel junges Blut gemischt. Eine neue Generation war herangewachsen und zu dieser gehörte auch Damianos. Das war der Name, den er für sich auserkoren hatte, sein eigentlicher, bürgerlicher Name war hier von keiner Bedeutung. In den frühen Zwanzigerjahren war er und doch hatte er es bereits geschafft in den Bischofsrang aufzusteigen.
Er hatte glattes, schwarzes Haar, welches allerdings vollständig unter seinem hohen Hut, den man in dieser Rolle trug, verschwand. Sein Herz war voll Inbrunst und Tatendrang. Der Geistliche gehörte zu den Jungen, die die Revolution als Kinder miterlebt hatten, und die von dieser geprägt waren. Er hatte selbst miterlebt, wie mächtig der Glaube des Teleiotismus war, wie er das Volk inspiriert hatte eine neue Welt, ein neues Reich zu erschaffen. In seinen hellblauen Roben mit gelben Verzierungen schritt er nun voran und in den Abstimmungssaal. Am Beginn des Konklaves würde dieser versperrt und erst wieder geöffnet werden, wenn man ein neues Kirchenoberhaupt gewählt hatte! Die dunklen Gänge hier, welche architektonisch wenig zu bieten hatten, jedoch teils von anschaulichen Malereien eingenommen waren, zogen sich lange hin. Bald schon trat der Bischof gemeinsam mit einer großen Menge an anderen Elektoren in den Saal ein.
„Ich gelobe nach bestem Wissen und Gewissen und ohne äußere Einflüsse oder Interessen den Geeignetsten Kandidaten für das Amt zu wählen“, leisteten sie alle unisono den Eid ab. Diesen beendeten die Versammelten dann noch mit: „So wahr mir Gott helfe!“ Dann ging es schon an die Stimmenabgabe. Damianos ging als einer der führenden Kandidaten hier ins Rennen. Er hatte die Kraft und den Elan, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu tun und vielleicht auch wichtige Reformen auf den Weg zu bringen. Es brauchte nur zwei Wahlgänge, dann stand der Sieger bereits fest. Es war der Favorit, Damianos, welcher sich nach vorne ans Podium begab und sich für das Vertrauen der hier zusammengekommenen Kommune nun bedankte und ein ambitiöses Programm in seiner Antrittsrede nochmals kurz zusammenfasste.
Als zum Ende der Rede alle Anwesenden klatschten, geschah allerdings etwas absolut Unfassbares. Hinterhalb eines Vorhangs und aus einem der kleineren Seitenzimmer trat wie aus dem Nichts ein Herr herein, mit dem keiner gerechnet hatte. Diese Person……sie konnte gar nicht hier sein, nicht zwingend deshalb, weil sie es nicht durfte, sondern weil es gar keinen Sinn machte, dass sie nun hier war. Die Tür war verriegelt. Außerdem musste diese Person momentan ganz woanders sein. Wie war dies überhaupt möglich?“