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Das Heilige Reich [German]
1. 10 Das Schauspiel

1. 10 Das Schauspiel

Blätter raschelten im sanften Wind. Die Luft war feucht und kühl. Wir waren im düsteren Wald. In dessen Unterholz trieben sich scheinbar zwei Personen herum. Es war schwer auszumachen, wer sie waren. Als sich eine Wolke, die das Mondlicht abgehalten hatte, wieder von diesem wegschob, enthüllte dessen Einfall einen der beiden Menschen. Jung, hübsch, rothaarig und mit verträumtem Ausdruck im Gesicht war sie. Es war Viktoria, die uns hier präsentiert wurde. Die andere Person näherte sich nun auch an. Dann war es aber auch schon vorbei. Der Traum endete und Wenzel erwachte.

Er starrte mit nur teils geöffneten Augen auf den Baldachin seines Ehebettes hinauf. „Viktoria im Wald? Was hat dies zu bedeuten?“, fragte er sich. Eigentlich wollte er die Sache einfach vergessen und sich gleich wieder schlafen legen, aber irgendetwas störte ihn und er wusste nicht was. Was konnte es nur sein. Als er in seinem schlaftrunkenen Zustand darüber nachdachte, kam es ihm dann endlich: Das Erscheinungsbild seiner Tochter in der Vision entsprach exakt dem, wie sie aktuell aussah. Sie trug sogar das Kleid, mit dem sie momentan des Öfteren zu sehen war. Das bedeutete, dass er etwas gesehen hatte, das nur wenige Wochen in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen konnte! Schlich sie sich etwa nachts davon, ohne sich Erlaubnis dafür einzuholen? Das wäre nicht akzeptabel. Wenzel würde dem auf die Spur gehen müssen.

Nach ein paar Momenten des Bedenkens kam er dann zum Schluss, dass dies jetzt sein musste. Leicht tangierte er Amalies Schulter, um diese behutsam zu wecken. Dann sprach er zu ihr: „Mir ist etwas sehr Wichtiges in den Sinn gekommen. Wundere dich also nicht. Ich werde jetzt schon aufstehen.“ Benommen gab ihm seine Liebste einfach, „Aha, ist gut“, zurück. Wenzel stieg aus dem Bett und begab sich hinüber in sein Arbeitszimmer. Er hatte schon eine klare Vorstellung, was er tun wollte. Es würde ein Kinderspiel werden, seine Kleine aufzuspüren! Er langte in das Geheimfach in der Wand und holte sich das Szepter heraus. Dann richtete er seine Gedanken an seine Tochter, erstellte ein Bild von ihr in seiner Vorstellung. Das magische Artefakt begann zu leuchten. Am stärksten war sein blaues Glühen, wenn er es gen Westen hielt. „Wart’s nur ab, junge Dame! Du kannst dich auf was gefasst machen!“, ging es ihm dabei durch den Kopf. Er öffnete das Fenster und schwang sich in die Lüfte hinauf, seiner Tochter hinterher. Auf ging’s!

Währenddessen waren die zwei Jugendlichen bereits zusammen im Wald. Sowohl Viktoria als auch Achaz lungerten förmlich im Gras der Lichtung direkt vor Lagersdorf. Dem Typen schaute ein Grashalm, den er sich, warum auch immer, zwischen die Zähne gesteckt hatte, aus dem Mundwinkel. Viktoria lehnte nebenbei und plauderte mit ihm. „Leute mit den angemessenen Titeln adressieren, sich immer gediegen gebaren“, äußerte sie in nachäffendem Ton, „, aufrecht gehen, stets sanft und leise sein und und und. Hast du bei dir zu Hause auch so viele Regeln zu beachten?“ – „Ich muss mich auch an Regeln halten, ja. Aber sicher nicht an so viele wie du.“ Das Mädel blickte intensiv auf ihn herüber, als er das zurückgab.

„Deine Eltern sind aber nicht so schlimm, wie du es mir glauben machen willst. Das Ganze hat sicherlich nur mit den früheren Vorfällen zu tun, von denen du mir erzählt hast“, fügte er dann noch hinzu. Sie erwiderte nichts. Es nervte sie, aber er hatte recht. Es war hier eine recht idyllische Atmosphäre heute. Die Grillen zirpten und im Wald war ab und an der übliche Schrei des Kauzes zu hören. Mit leicht dösigem Blick schaute Achaz zu der Prinzessin herüber. Im ersten Augenblick dachte sie schon, dass er ihr reizendes grün-weißes Kleid betrachtete. Es stellte sich aber schnell heraus, dass er eigentlich von ihrer magischen Aura, die sie entspannt und ohne Hemmung einfach frei ausströmen ließ, in den Bann gezogen war. Somit vermerkte sie scherzhaft:

„Meine Augen sind hier oben.“ Der Bursche schüttelte den Kopf und entschuldige sich sogleich. Immer versuchte er ihr alles recht zu machen und sie nicht zu provozieren. Das brachte sie nun zur Sprache: „Es ist nicht so wild. Ich weiß eh, dass du nur meine Magie beobachtet hast, die dich immer so fasziniert.“ Er hielt inne. „Was mich viel mehr interessieren würde, wäre warum du mir immer so vorsichtig begegnest. Ich brauche keine Sonderbehandlung!“ Achaz schien das Gesagte nun auf seltsam unerwartete Weise zu treffen. Er überlegte ein wenig. Dann entgegnete er: „Ich halte dich einfach für besonders. Das ist nicht im Negativen zu verstehen. Du bist klug, stark und ….“, er zögerte kurz, fuhr dann aber fort, „hübsch.“

Viktoria wurde dadurch etwas verlegen, man konnte es ihr aber nicht ansehen. Um es nicht zu zeigen, ging sie gleich zum „Gegenschlag“ über und fragte: „Was an mir findest du denn hübsch?“ Ohne lange nachzudenken, erwiderte ihr Gegenüber: „Deine Haare sind etwas ganz Besonderes. Vor allem deine Augen verzaubern einen förmlich. Vielleicht tun sie das sogar wortwörtlich.“ Beim Vernehmen dessen konnte das Mädchen seine Verlegenheit nicht mehr gänzlich verstecken. Er blickte ihr in die Augen, von denen er soeben gesprochen hatte. Ein wenig näher kam er heran, um sich ein noch besseres Bild verschaffen zu können. Die Flammen in ihren Pupillen begannen etwas wilder aufzuflackern. Um seinem direkten Augenkontakt auszuweichen, wanderten diese hinüber und seine mittellangen, braunen Haare entlang. Dann fielen sie aber auf seine Gesichtspartien, die mit jedem Male schienen attraktiver zu werden.

Letztlich ließ sie dann endlich zu, dass sich ihre Blicke trafen. Auch sie verlor sich nun in den Augen des jungen Mannes. „Ich finde dich auch gutaussehend“, gab sie ihm schließlich preis. Sie kam auch näher an ihn heran. Dann geschah es. Die zwei küssten sich. Naja, zuerst zog das Mädel ihm noch den dummen Grashalm aus dem Mondwinkel und dann geschah es. Dennoch, für beide war es ihr erster Kuss. Es dauerte nur ganz kurz, dann trennten sie ihre Lippen gleich wieder.

„Nun….was kann ich jetzt sagen?“, erkundigte sich Achaz. Seine Freundin meinte da nur: „Sag einfach nichts. Es ruiniert nur den Moment.“ Eine sanfte Brise kam auf und die Blätter des Waldes begannen ein wenig zu rascheln. Gleichzeitig blinzelte nun der Mond wieder hinter den Wolken hervor. Der Bursche drehte seinen Kopf zu diesem hinauf und starrte ihn ein wenig gedankenverloren an. Unterdessen stand die Prinzessin aus dem Gras auf und streckte ihre Glieder von sich. Das Herz des Jünglings war immer noch wie wild am Schlagen. Ganz langsam beruhige es sich wieder, aber jedes Pochen erbebte immer noch durch seinen gesamten Körper. Dies war etwas Besonderes. Er hatte sich tatsächlich in Viktoria verliebt. Und sie erwiderte diese Liebe.

Nichts von all dem linderte seine Furcht, die ihn jetzt schon eine ganze Weile plagte. Nur ein paar Ruten von ihnen entfernt hielt sich ein Mann im Gebüsch verborgen, der all seine Ängste und Besorgnisse verkörperte: Lucius. Der durchtriebene Kerl hatte definitiv beobachtet, was soeben passiert war. Er würde zufrieden mit dem „Fortschritt des Plans“ sein. Achaz hingegen war nun verwirrt und zerrissen. Er war zu dem Mädchen hingezogen, wusste aber, dass je mehr dies geschah desto mehr er in die Hände seiner Mutter und vor allem denen dieses bösen Mannes spielen würde.

Er ließ einen flüchtigen Blick hinauf auf den beinah vollen Mond fallen. Ihm stockte der Atem! „Was? Wer ist das?“, schoss es ihm durch die Gedanken, ohne dass er diese laut auszusprechen vermochte. Der In-Aufruhr-Versetzte zeigte zuallererst nur mit dem Finger hinauf, dann aber konnte er sich überwinden und rief Viktoria zu: „Pass auf!“ Die junge Dame drehte sich um und sah es auch. Vor der hellen weißen Scheibe war nun die Gestalt eines Mannes erschienen. Seine Augen leuchteten in hellem Blau und in seiner rechten Hand hielt er einen goldenen Stab mit einer Schwurhand, einer Hand mit drei zum Schwur erhobenen Fingern, am oberen Ende. Der Mondschein erhellte auf seinem wabernden Umhang ein Wappen, von dem vor allem die rote Raute und die darüber prangende Sonne dem jungen Vogt hängenblieb. Kaiser Wenzel hatte sie gefunden!

Mit ernster Stimme sprach er zu seiner Tochter: „Was in Herrgotts Namen machst du hier?“ Das Mädchen wirkte keineswegs eingeschüchtert oder ängstlich. Ganz im Gegenteil! Sie gab ihrem Vater Gegenrede, indem sie in trotzigem Ton Folgendes sagte: „Das könnte ich ebenso fragen! Wie hast du mich denn überhaupt gefunden?“ Unmittelbar darauf fiel ihr erst wieder ein, was das Szepter tun konnte. Sie versuchte die Schuld von sich abzulenken und adressierte nun eine Frage an ihren Adoptivvater: „Ist es nicht gleichsam etwas seltsam seiner Tochter spät nachts nachzustellen, Herr Vater?“ Seine Hoheit antwortete nicht. Er wandte seinen Augenschein in Richtung Achaz. Dies erzeugte sogleich eine starke Reaktion von Viktoria, welche sich demonstrativ vor den Burschen stellte. Langsam, ja fast schon andächtig, ließ sich der Erkorene langsam herabsinken, bis er direkt vor der jungen Dame am Boden absetzte.

„Geh beiseite, Viktoria! Es gibt etwas, was ich wissen möchte“, beorderte er diese, aber sie hörte nicht auf ihn. Während das Leuchten in Wenzels Augen nun schrittweise schwand, begann es immer mehr in denen seiner Adoptivtochter aufzugehen. Der Mann wusste, dass dies ihre aktuell starken Gefühle und damit auch Reizbarkeit signalisierte. Dennoch sprach er den Typen, den sie zu beschützen versuchte, einfach an. Er sprach laut und in erbostem Tonfall, da er seinen eigenen Zorn nicht ganz in Zaum halten konnte. „Wer bist du, Knabe? Wie ist dein Name?“ Seine Freundin drehte sich zu ihm um und deutete ihm, nicht zu antworten. Der in Furcht versetzte Kerl erwiderte aber: „Ich heiße Achaz.“ Der Name sagte Wenzel gar nichts. Wie sollte es denn anders sein? Somit stellte der Souverän eine weiter Frage: „Woher kennst du meine Tochter?“ Das ließ den Jungen nun erzittern, doch er versuchte es möglichst nicht zu zeigen. „Ich fürchte, dass ich Euch die Antwort darauf nicht geben kann, werter Herr“, drückte er sich in ungewöhnlich gewähltem Ton aus.

Wenzel schien dies einerlei zu sein. Das Einzige, was ihn in diesem Moment in seinen Handlungen auch nur irgendwie beeinflusste, war der Gemütszustand Viktorias, auf welche er wiederholt hinblickte. Ihre magische Aura strömte mit derartiger Intensität aus dieser hervor, dass sogar ein Laie sie mit dem freien Auge erkennen konnte. Oberste Priorität war daher nun, jedwede weitere „ungestüme“ Handlung des Mädchens im Keim zu ersticken. Erfahrungsgemäß wusste Wenzel, dass dies eher mit Schärfe in der ihr entgegengebrachten Umgangsform Wirkung zeigte. Er überdachte die Sache kurz. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Achaz und meinte: „Wie lautet dein voller Name?“ Die Lippen des Burschen waren versiegelt. „Ich verlange von dir, mir zu antworten! Komm schon!“, bohrte seine Hoheit vehement nach. Nach mehreren Malen erhielt er schließlich eine wahrheitsgemäße Antwort. Dieser unbesonnene Patzer von Achaz würde schwere Konsequenzen haben.

Als der Kaiser den Namen „Vogt“ vernahm, blieb er einen Augenblick reglos stehen. Es dauerte kurz bis sein Gehirn die Information wahrhaftig registriert hatte. Infolge verzerrte sich Wenzels Gesicht zu einer wütenden, hasserfüllten Grimasse. „Unfassbar! Wie könnt ihr es wagen! Verpiss dich! Scher dich hier weg! Sofort!“ Die Laute, die den Mund des Kaisers verließen, hatten jegliche Andacht und Hemmung verloren. Aus seinen lauten Schreien tönte nur noch die pure Emotion hervor, eine absolute Rarität für jeden, der den Mann kannte.

Selbst Viktoria erschütterte dies und sogar sie nahm nun verängstigt einen Schritt zurück von ihrem alten Herrn. So darauf anzuspringen, hatte Wenzel nicht beabsichtigt, doch die Realisation wer derjenige war, der sich mit seiner Kleinen traf, übermannte jegliche Selbstbeherrschung des Kaisers. Unterdessen kauerte ein höchst angespannter Lucius immer noch in seinem Versteck in ihrer Nähe. Er wusste, wie gefährlich diese Situation war, war sich aber ebenso bewusst, dass er nichts tun konnte, um etwas daran zu ändern. Er wagte es nicht hervorzukommen und blieb genau da, wo er war. Die Person, die er so abgrundtief hasste, stand da drüben in greifbarer Nähe, und doch war sie so fern und unerreichbar für ihn. Den Dämonenkaiser würde er nicht mit eigenen Händen vernichten können, so viel stand fest. Egal wie sehr er es sich wünschen würde, dass es anders wäre.

Indes quoll es förmlich aus Wenzel hervor: „Du und vor allem deine Mutter hatten Glück, dass das Reich sich damals mit ihr nicht weiter beschäftigt hat und nicht versucht hat, sie zu verfolgen! Verräter und deren Sippschaft sind hier in meinen Landen nicht willkommen!“ Vom lauthalsigen Brüllen brach dem Herrscher nun schon beinah die Stimme. All dies brach über den vom Terror an Ort und Stelle angewurzelten Jungen herein. Er wusste nicht, was er sagen, geschweige denn tun sollte, oder was nun passieren würde. Er nahm die Tirade des Kaisers schweigend hin. „Ich will dich nie mehr auch nur in der Nähe meiner Familie sehen, du Lump! Ist das klar?“ – „Ja“, kam es im Piepston zurück. Die Prinzessin stand daneben und sah völlig verwirrt und unsicher aus. Kurz warf sie ein, dass „er kein Lump ist“. Doch seine Majestät legte noch mit einer Warnung nach: „Wenn ich dich jemals wieder auch nur in der Nähe meiner Tochter sehe, werden du und deine Mutter, die Verräterin, das Schicksal Augusts teilen!“

Diese Drohung war bewusst so formuliert, dass Viktoria sie nicht ganz verstand. Sie hatte nämlich keine Ahnung, wer August war. Jetzt ließ sich Wenzel wieder ein wenig über dem Boden schweben. Gleichzeitig streckte er eher symbolisch seine linke Hand zu Viktoria aus und forderte sie auf: „Komm. Wir gehen.“ Sein Ton war deutlich sanfter hier. Das Mädchen schaute zurück auf Achaz, der nichts sagte und immer noch in einer Angststarre war. Dann wandte sie ihr Haupt wieder ihrem Vormund zu. Sie zögerte. Schließlich verlautete sie aber mit unterdrückter Stimme: „Es tut mir leid.“ Widerwillig hob sie ab und flog mit ihrem Vater davon. Hinter sich konnte sie ein kaum merkliches, „Mir auch“, hören. Dann verschwanden die beiden in den Nachthimmel. „Es gibt viel, was wir besprechen werden müssen, junge Dame!“, kündigte ihr Wenzel nun an. So hatte sie ihn noch nie erlebt, nicht einmal nach dem Vorfall bei seinem Thronjubiläum.

Entrüstung, das war es, was die Sorgenfalten auf der Stirn der Kaisergemahlin anklingen ließen. Recht rasch wichen sie aber schon dem daraus entspringenden Zorn. An diesem Punkt hatte sich ihre Tochter aber schon ein wenig von der Decouragiertheit von zuvor gefangen. Sonderlich mutig wirkte sie aber immer noch nicht. „Ich verbiete dir ausdrücklich diesen Kerl jemals wieder zu sehen!“, gab Amalie ihr die strikte Anweisung. Die edle Dame bildete somit auch keinerlei Gegenpol zur vorangegangenen Schärfe ihres Ehemanns. Viktoria musste nun etwas in Erfahrung bringen: „Warum? Ich dachte, ihr wolltet, dass ich Freunde finde!“ – „Aber nicht solche!“, kam es sogleich zurück. „Aber was ist denn so schlimm an Achaz? Warum ist er ein Problem für euch? Ich verstehe das nicht.“ Wenzel warf einen schnellen Blick zu seiner Frau hinüber, dann erwiderte er: „Es ist uns unmöglich, den Sprösslingen von Verrätern am Reich den Umgang mit dir zu erlauben. Bitte, versteh das.“ Das Mädel hatte das ihren Vater zuvor im Wald schon äußern gehört, doch war es ihr aufgrund der aufgeheizten Situation wieder entfallen. Sie konnte dies aber nicht schlichtweg akzeptieren. „Nein, ich verstehe das nicht!“, entgegnete sie ihm. „Warum ist er so „furchtbar“. Achaz ist ein Anständiger. Er würde nie etwas Böses beabsichtigen. Es geht hier für euch sicher nur um etwas, was seine Eltern getan haben, oder? Was haben sie denn so Schreckliches getan?“

Beide Elternteile seufzten da. Schließlich antwortete ihr Amalie: „Etwas, das nicht zu verzeihen ist. Sei’s wie es ist, es geht hier sowieso nicht um den Burschen auf einer persönlichen Ebene. Diejenigen zu denen er gehört, von denen er abstammt, sind zu problematisch. Wir können das nicht erlauben. Und damit Schluss! Du wirst mir hier nicht weiter widersprechen!“ Diese Worte hallten nun im Kopf der Prinzessin nach. „Diejenigen von denen er abstammt sind zu problematisch.“ Das erinnerte sie an die Frage, die ihr Achaz einmal gestellt hatte. Auch er war der Meinung, dass er zu niederen Standes für Viktoria war. Das Mädchen, welches in großer Armut aufgewachsen war, interpretierte die Erklärungen ihrer Adoptiveltern als hochnäsige Ablehnung eines Freundes von ihr, welcher schlicht und einfach nicht in den richtigen Stand hineingeboren war. Das stimmte so natürlich nicht, aber dieses Missverständnis war das Ergebnis dessen, dass das Ehepaar ihrem Schützling nicht enthüllen wollte, was sich damals in Bezug auf August tatsächlich zugetragen hatte. Die einstige Schande sollte unter Verschluss gehalten werden.

Trotzig schnaubte die Magierin: „Ihr seid so ungerecht und arrogant! Ihr selbst wärt nicht da, wo ihr seid, hätten sich die Dinge in der Vergangenheit anders abgespielt.“ Ihre Mutter zog da eine Augenbraue nach oben und konterte: „Das ist eine ganz andere Geschichte, junge Dame.“ Sie verstand offensichtlich nicht, was genau sie hier ausgedrückt hatte. „Ich hasse euch!“, schrie sie die Jugendliche an. Dann lief sie einfach davon in ihr Zimmer. Amalie sagte nichts Weiteres und ließ sie einfach ziehen. Ihrem Vater setzte dies allerdings wirklich zu.

Einige Minuten später klopfte er sanft an ihrer Türe an und betrat das Zimmer des Mädchens. Auf dem Bett sitzend, wandte sie sich von ihm ab und meinte nur: „Geh weg!“ Der Mann näherte sich aber trotzdem. Dann sprach er: „Es tut mir leid, dass ich auf der Lichtung vorher so ausgerastet bin.“ Etwas neugierig drehte sie ihm infolge ihr gerötetes und verweintes Gesicht zu. Er fuhr fort: „Ich hätte netter und bedachter sein können. Es ändert nichts an der Entscheidung, die ich und deine Mutter getroffen haben, aber dennoch hätte ich anders an die Sache herangehen können. Verzeih mir, bitte, dafür!“ Die Kleinen sagte nichts darauf. Trotzdem war es etwas, das Wenzel tun hatte müssen. Er empfand Reue dafür, dass er so impulsiv und so inakzeptabel tyrannisch reagiert hatte. Das Mädchen interessierte eine solche Entschuldigung wenig, zeigte sie ihr doch, dass ihr Vater von geringer Charakterstärke war.

Ein vollbärtiger Mann durchquerte schnellen Schrittes die Korridore des Palastes. Das rot-weiße Karomuster seiner Uniform schlug sich mit den bunten Mosaiken, über die seine festen Stiefel lieblos trampelten. Er blieb schließlich vor der Tür zu den Gemächern des Erkorenen stehen und drosch mit viel zu großer Kraft gegen diese, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenig später öffnete ihm sein alter Weggefährte, den er früher immer mit „Boss“ angesprochen hatte, die Tür. Wenzel wusste gleich wer es war, als er das Klopfen hörte. Es war charakteristisch für seinen Freund. Er war diesmal ausnahmsweise allein gekommen. Üblicherweise war er immer in Begleitung von seiner rechten Hand, Balduin. Warum dieser heute nicht mit dabei war, würde demnächst klar werden.

„Ich hätte da eine Angelegenheit, die ich unter vier Augen mit Euch besprechen müsste, mein Herr“, ließ Ferenc ihn wissen. Der Zauberer winkte ihn bei der Tür herein und meinte, dass er sich auf den Diwan im Empfangsraum platzieren sollte. Dies tat der Vizekommandant der Reichsgarde dann auch. Beiläufig betrachtete der harte Knochen von einem Mann die illustre Einrichtung, während er ungeduldig mit seinen Soldatenstiefeln am Boden trommelte. Eine Minute später war Wenzel auch schon wieder da. Er nahm sich einen der Armsessel und rückte ihn so, dass er sich gegenüber von seinem Gast positionieren konnte. Dann ließ er sich auch nieder. Ein seriöser Blick stach aus Ferencs Augen hervor. Seine bereits älter gewordenen Ärmel waren immer noch muskelbepackt und von dicken Adern an der Oberfläche durchzogen. Er strich sich über den Bart. Danach erst begann er zu sprechen:

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„Ich habe es mir schon eine ganze Zeit lang durch den Kopf gehen lassen, aber es würde mir am Herzen liegen, dass ich wieder in meine alte Heimat zurückkehren kann. Die letzten Jahre hatte ich immer wieder Besuch von dort, aber es stehen wichtige Dinge an. Meine Eltern haben nun ein Alter erreicht, welches ihnen mittlerweile den Alltag schwierig gestaltet. Es ist nicht der einzige Grund für meine Anfrage, aber ihnen zu helfen, ist einer der größeren Faktoren, warum ich wieder nach Aszbereny, wo ich herkomme, zurückkehren möchte.“

Der Herrscher wusste nicht gleich, was er darauf entgegnen sollte, und ließ eine Weile Stille herrschen. Sein alter Leibwächter und Kamerad war ein fast unabdingbarer Teil seiner Garde geworden. Generell hatte Ferenc mehr die Rolle des eigentlichen Kommandanten der neuen Reichsgarde übernommen als der nominelle Oberste dieser, da Brahm zumeist mehr mit dem persönlichen Schutz des Kaisers beauftragt war. Konnte Wenzel ihn einfach so gehen lassen? Er würde es bevorzugen einen solch erfahrenen Verbündeten nicht einfach so zu entlassen. Doch die Gefühle seiner Mitstreiter waren ihm von Bedeutung. Nachdem er all das überlegt hatte, adressierte er den Bittsteller:

„Du bist mir sehr wichtig, alter Freund. Bist du dir sicher, dass es keinen anderen Weg gibt, dies handzuhaben? Könnten deine Eltern nicht einfach hierher in den Palast ziehen?“ – „Leider nein, mein Herr. Ich habe schon mit ihnen über die Sache gesprochen. Sie würden niemals ihre Heimat mehr verlassen wollen. Einen alten Baum verpflanzt man nicht, wie man so schön sagt.“ Der Erkorene musste ihm da recht geben. Bevor er irgendetwas Weiteres sagen konnte, ergriff allerdings Ferenc erneut das Wort: „All die Jahre habe ich Euch treu gedient. Ich würde es auch tun, solange es mir möglich ist, würden mich die Umstände nicht zu etwas anderem drängen. Die Dinge sind aber nun mal so, wie sie sind. Jedoch gibt es da einen passenden Ersatz. Balduin kann garantiert meine Aufgaben in angemessenem Maße übernehmen, da bin ich mir sicher.“

Balduin. Dem Kaiser war immer bewusst, dass dieser ausgesucht und darauf vorbereitet worden war, um seinen Vorgesetzten, Ferenc, eines Tages ersetzen zu können. Er war ergeben bis ins Mark. Aber genau das stieß Wenzel beim Gedanken an diesen ein wenig sauer auf. Unterwürfigkeit und blinder Gehorsam waren, was die Menschheit in die Sklaverei führten. Trotz all dem hatte der Mann, der ihm gegenübersaß, recht damit, dass Balduin die richtige Wahl für den Posten war. „Weißt du was“, sagte der Souverän mit gedämpfter Stimme, „, ich muss die Sache noch etwas abwägen. Zwei Tage. Gib mir zwei Tage und ich werde dir eine Antwort geben.“ – „Ich verstehe. Danke, mein Herr, dass du dir Zeit für mein Anliegen genommen hast!“ – „Keine Ursache!“, erwiderte Wenzel etwas unsicher.

Als ihn sein Besucher wieder verlassen und er die Tür hinter sich geschlossen hatte, beschäftigte er sich noch eine Weile mit der Angelegenheit. Konnte oder wollte er denn wirklich seinen so treuen Weggefährten zum Bleiben zwingen? Nein, das konnte er nicht, aber gab es einen anderen Ausweg hier? Er fand keinen. Im Endeffekt würde die Antwort sein, dass Ferenc seinen Abschied vom Kaiserhof nehmen würde und von Balduin abgelöst werden würde. Bald schon würde der Erste der alten Generation schon einem von der neueren weichen. Es war insgesamt noch keine große Veränderung, aber eine, die Wenzel persönlich zusetzte. Den stets optimistischen Typen hatte er mittlerweile schon sehr liebgewonnen. Aber Abschiede waren immer schwer, das war dem Kaiser natürlich bewusst. Im Laufe der Jahre war er einfach ein wenig sentimentaler geworden. Das war alles.

„Komm schon! Ich habe ja nicht vor irgendwas Böses zu tun. Kannst du nicht einmal ein Auge zudrücken?“ Ylva schüttelte wortlos den Kopf. Daraufhin setzte Viktoria ihre Bedrängungsversuche fort. „Du müsstest nicht einmal etwas machen. Wenn du nichts bemerkst, fällt auch Herrn Vater nichts auf! Das Fenster ist nicht laut. Keiner würde es wissen, wenn du nichts sagst. Bitte Ylva, ich fleh dich an! Ist dir unsere Freundschaft denn gar nichts wert?“ Diese Frage rüttelte schon ein wenig an der Dame. Die Leibwächterin der Prinzessin versprühte förmlich Wut und Entrüstung in Reaktion darauf. Sie entgegnete: „Wie bitte? Dies hat rein gar nichts mit unserer Beziehung zu tun! Ich habe meine Befehle von seiner Majestät und ich muss mich bedingungslos an diese halten, ohne Wenn und Aber. Ihr habt Euch den Regeln widersetzt und jetzt tragt Ihr die Konsequenzen dafür.“ Dies war nicht ganz richtig, denn eigentlich mussten auch Ylva und alle anderen nun die Konsequenzen dafür tragen, indem sie beauftragt waren, die junge Magierin jetzt noch strikter zu überwachen. „Ich sehe es als eine Beleidigung, dass Ihr unsere Freundschaft aufgrund der Erfüllung meiner Pflichten infrage stellen würdet.“

Infolge schnaubte das Mädchen: „Hmpf! Dann bist du halt nicht mehr meine Freundin!“ Ein kurzer Anflug von Trauer war im Antlitz der braunhaarigen Frau auszumachen, bevor dieser gleich wieder verschwand. Sogleich verstand Ylva, dass die Teenagerin das Gesagte nicht wirklich ernst meinte und dies nur ein Ausdruck ihres Ärgernisses darüber war, dass sie bei dieser Angelegenheit ihren Sturkopf nicht durchsetzen konnte. Es war recht typisches Verhalten für die trotzige Jugendliche, mit dem ihre Leibwächterin bereits wohl vertraut war.

Nachdrücklich vermittelte sie Viktoria nochmals, dass an ihrer Position nichts zu wackeln war. Ihr war aber nicht bewusst mit welch einer Art von Biest sie es hier zu tun hatte! Als die starke Dame das Zimmer verlassen wollte bekam diejenige, mit der sie gerade gesprochen hatte, einen ihrer typischen Wutanfälle. Die Dame hielt einen Moment inne, trat dann aber hinaus. Sie horchte der Rage der Jugendlichen von der anderen Seite, am Gang stehend zu, voll angespannt und auf dem Sprung, um zu intervenieren, wenn es zu sehr eskalieren sollte. Letzten Endes war dies aber glücklicherweise nicht notwendig. Ein paar ihrer Habseligkeiten und Schreibsachen schmiss sie tobend an die Wand, sonst tat sie aber nichts. Langsam legte sich der Zorn der Zaubrerin dann wieder. Dennoch würde sich herausstellen, dass Ylva das Mädel massiv unterschätzt hatte.

Leutold huschte möglichst unbemerkt durch eine Nebengasse der Duhnmetropole. Er trug Kleidung, welche für das gemeine Volk herkömmlich war. Normalerweise tat er dies nicht. Immerhin war er ja auch ein Kammerdiener am Kaiserhof. Doch für diesen kleineren Auftrag war es vonnöten, in der Öffentlichkeit unerkannt zu bleiben. Der Mann strich über das Pflaster, pausierte dann kurz, um zu hören, ob er andere Menschen in der Nähe hören konnte. Nichts. Es war eine fast schon schaurige Stille, die hier herrschte. Er bog in die Färberzeile ab und hastete möglichst geschwind an den Ort, wo er hinmusste. Hausnummer 13, das war sein Ziel. Eine Unglückszahl, wie er erst jetzt feststellte. Ohnehin änderte es nun nichts daran, dass er die Nachricht überbringen würde. Er schaute nochmals kurz nach links und rechts, viel zu auffällig, wie manch einer meinen würde, und holte dann den Brief aus der Seitentasche seines Obergewandes, das in schlichtem Grau gehalten war. Es gab keinen Briefkasten, weshalb er den Gegenstand einfach so rasch wie möglich durch den Türschlitz schob.

„Fertig! Meine Arbeit hier ist getan“, erfreute er sich in seinen Gedanken und wollte sich schon fast symbolisch die Hände abklopfen. Dann war er wieder seines Weges. Er wusste, dass der Brief an einen gewissen „Achaz“ gerichtet war, hatte die Botschaft, die dieser enthielt, aber nicht gelesen. Ihre Hoheit, die Prinzessin, hatte ihn stattlich dafür bezahlt diesen Brief zu überbringen. Dies geschah entgegen den Vorstellungen des Kaisers. Sollte jemand herausfinden, dass ein einfacher Diener am Hofe sich bestechen ließ, um den Willen des Souveräns auf solche Weise zu unterwandern, würde er wohl im besten Fall sofort hochkant hinausgeschmissen werden. Wahrscheinlich aber würde eine zusätzliche Strafe zur Abschreckung von Nachahmern auferlegt werden. Dennoch, Leutold überzeugte sich einfach davon, dass schon niemand dahinterkommen würde. Alles, was er gesehen hatte, war das Funkeln der Goldtaler und all die Dinge, die er sich davon kaufen konnte, beherrschten seine Gedanken.

Dieser Mann hatte es Viktoria ermöglicht erneut Kontakt mit ihrem Freund aufzunehmen. Sie hatte ja in ihren vorangegangenen Verabredungen von diesem erfahren, welche Adresse er in Meglarsbruck hatte. Im Haus an der Färberzeile 13 war allerdings der gesuchte Jugendliche nicht ansässig. Das genannte Grundstück gehörte einem Verbündeten von Etzel, der in stetem Austausch mit den Vogts stand. Somit würde das gesandte Schriftstück definitiv zu der adressierten Person gelangen. In diesem würde Achaz dann den Zeitpunkt ihres nächsten Treffens mitgeteilt bekommen. Auch hatte die Magierin sich diesmal für einen etwas anderen Treffpunkt entschieden. Dieser würde jedoch immer noch in den Karantischen Wäldern sein. Bald schon würde sie ihn wiedersehen. Unterdessen saß das Mädchen an seinem Fenster und starrte leeren Blickes hinaus. Sie konnte ihr Wiedersehen mit ihm kaum erwarten.

Dann kam die so lang erwartete Nacht. Viktoria schwang sich in den Himmel über Ordanien auf. Über ihr thronte der abnehmende Mond inmitten eines wolkenlosen Himmelszelts, was bedeutete, dass es heute wohl deutlich kühler werden würde. Einen kurzen Moment blickte sie noch zurück auf den Palast, den sie hinter sich gelassen hatte, dann flog sie hinfort, um ihren Schwarm zu treffen.

Sie hatte alle notwendigen Vorkehrungen bereits getroffen. Mithilfe von Polstern, Decken und einer Perücke hatte sie eine Puppe angefertigt, die möglichst genau die Form ihres schlafenden Körpers imitieren sollte. Diese hatte sie sorgfältig in ihr Bett gelegt, sodass Ylva, wenn sie einen unangekündigten Kontrollblick in das Zimmer der Prinzessin werfen sollte, den Eindruck bekam, dass alles so ist, wie es sein sollte. Des Weiteren hatte das Mädchen, nachdem sie beim Fenster hinausgeschwebt war, das Genannte wieder von außen mit ihrer Telekinese geschlossen, sodass es keinen offensichtlichen Hinweis für ihre Abwesenheit gab. Natürlich musste sie vor ihrer Aufstehzeit wieder zurück sein, aber das war sowieso klar. Es war ein guter Plan, vor allem aus Sicht des Mädchens. Und er würde funktionieren. Ylva würde auf den Trick mit der Puppe hereinfallen, zumindest fürs Erste.

Dann war da allerdings noch ein weiterer Faktor, den zu ignorieren fatal gewesen wäre: Das Szepter. Es war dazu in der Lage das Mädchen aufzuspüren. Sollte ihr Vater es benützen, würde er augenblicklich herausfinden, dass sie nicht zu Hause war. Wie also würde sie dieses Problem lösen? Mit Zauberei war die Antwort. Viktoria hatte in den Tagen davor geübt, sich quasi ein Schild aus Magie aufzubauen, welches der inhärenten Magischen Kraft des Heiligen Artefakts den Zugriff aus sie verwehrte. Sie würde praktisch unsichtbar für dieses sein. Sie wusste, dass dies funktionierte, da beim Besuch der kaiserlichen Privatbibliothek, in der Silke wieder fleißig am Schaffen gewesen war, diese Frau überzeugt werden konnte, ihr schnell einmal die Heiligen Artefakte auszuhändigen und sie diese „begutachten“ zu lassen. So hatte sie sich eine Gelegenheit geschaffen, um ihre Resistenz gegen den Effekt des Artefakts auszutesten. Der Test war erfolgreich gewesen. Somit hatte sich die junge Dame erneut ihrer Fesseln entledigt und war wieder ausgebüxt.

Auf dem Rücken Figaros trabte Achaz durch den teils undurchdringlichen Wald, dicht gefolgt von dem grimmig dreinschauenden Lucius. Demnächst würden sie am verabredeten Ort ankommen. Es war keine Vorfreude, die sich im Antlitz des Jungen abzeichnete. Ganz im Gegenteil, waren da nur Verunsicherung, Angst und Bange, die in diesem zu erkennen waren. Die Ursache dafür war nicht bloß das Übliche. Kürzlich war seine Mutter, Petra, wieder von ihrer Reise nach Camenia zurückgekehrt. Infolgedessen hatte der Aufseher von Achaz ihr über alles Vorgefallene Bericht erstattet. Dies hatte die Dame überaus erfreut und sie hatte daraufhin verkündet: „Hervorragend! Die Zeit ist gekommen, um die Früchte unserer Arbeit zu ernten! Ich werde augenblicklich auch Etzel und den Freiherrn darüber in Kenntnis setzen.“

Sie hatte den Entschluss gefasst, dass es an der Zeit war, Viktoria zu manipulieren, um ihre Geschicke und die des Reiches in eine neue Richtung zu lenken. „Ich stimme überein. Das Verhältnis zwischen dem Mädel und ihrem Vater scheint beeinträchtigt genug für uns, um mehr Zwietracht säen zu können und endlich Einfluss ausüben zu können“, hatte Lucius zu dem Zeitpunkt die Feststellung gemacht. Gemeinsam hatten sie dann begonnen vehement den unwilligen Achaz zu bearbeiten, auf dass dieser seine ihm angedachte Rolle hierbei spielte. Der junge Mann hatte schnell nachgegeben.

Dies war der Grund, warum ihm so übel war, speiübel, um genau zu sein. Man verlangte von ihm Viktoria auf ihre Seite zu ziehen und diese dazu zu bringen, Unaussprechliches zu tun. Im Gebüsch neben ihm raschelte plötzlich etwas. Der Bursch schreckte beinah schon panisch auf und ließ dadurch fast schon seinen eigenen Gaul durchgehen. „Reiß dich zusammen!“, krächzte sein Bewacher da von hinten. „Das war nur ein Eber. Es gibt hier auch noch andere, gefährlichere Tiere, wie etwa Berglöwen, aber selbst vor denen brauchen wir keine Angst haben. Ich bin ja hier.“ Der letzte Satz war exakt, was dem Jugendlichen mehr Sorge machte, als dass es ihm Ruhe spendete.

Weiter ging’s. Die zwei reversierten kurz, um ein für ihre Rösser zu dichtes Dornendickicht zu umgehen. Dann war es nur noch ein letztes, kleines Stückchen bergab. Geschafft! Vor ihnen prangte nun eine steile Klippe nach oben. Es war eine berühmte Felsklippe, die sich am Zusammenfluss zweier kleinerer Flüsse geformt hatte. Direkt oberhalb der Steinwand stand eine Kapelle, die dem Heiligen Balthasar gewidmet war. Es war daher ein leicht zu findender Ort, vor allem wenn man von der Luft aus herkam.

Die Sonne war bereits im Untergang begriffen und Lucius und sein „Schützling“ ließen sich auf dem vom weichen Laub bedeckten Waldboden nieder. Während sie nun ihre Jause verspeisten, zerfraß den schuldgeplagten Achaz förmlich die Nervosität. Was sollte er nur machen, um sich aus dieser Patsche zu retten? Mit scharfem Blickt äugte der Ihn-Verdächtigende wiederholt auf den Jungen herüber. Der Mann wusste genau, was Achaz im Moment durch den Sinn ging. In warnendem Ton ermahnte er ihn: „Glaub ja nicht, dass du uns die Sache hier versauen kannst! Du wirst tun, was wir dir sagen, oder ich werde dich an deiner Mutter statt bestrafen!“ Eingeschüchtert, hielt der Jüngling dem nichts entgegen. Er fügte sich einfach still.

Nachdem das letzte Licht des Tages verschieden war, suchte der immer noch finster dreinblickende Cornel sein Versteck in den nahen Büschen auf. Einstweilen harrte der junge Vogt am kürzlich entfachten Lagerfeuer aus. Er würde noch eine ganze Weile warten müssen. Weit mehr als eine Stunde war bereits verstrichen, da fand das Mädchen, geleitet vom Licht des „Leuchtfeuers“, schließlich den Weg hierher. Sie bremste ab und setzte behutsam auf dem leicht feuchten Untergrund ab. Voll freudiger Erwartung kam sie ihrem Freund entgegen. Dann blieb sie aber sofort auf der Stelle stehen. Der Ausdruck, den er ihr entgegenwarf, war ganz anders als das, womit sie gerechnet hatte.

„Was ist denn los?“, fragte sie diesen sogleich. Das Licht des knisternden Feuers tanzte in seinem Gesicht, welches von Unsicherheit gezeichnet war. Er trat einen Schritt näher an Viktoria heran und blickte ihr direkt in ihre so einzigartigen Augen hinein. „Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss.“ Seine Stimme zitterte. Seine offensichtliche Gefühlslage färbte nun auch ein wenig auf die Prinzessin ab und sie erwiderte ihm mit einem angestrengten, ernsten Gesichtsausdruck. Sie sagte aber nichts, sondern ließ ihr Gegenüber fortfahren.

„Meine Mutter hat auch herausgefunden, dass ich mich nachts weggeschlichen habe, um dich zu treffen.“ Er hielt kurz inne, jedoch zeigte seine Zuhörerin keinerlei Reaktion auf das Geäußerte. Kurz war das Rauschen des Flusses alles, was man hören konnte. Er schluckte einmal, dann setzte er fort: „Ich weiß nicht wie genau, aber sie weiß auch, dass du die Prinzessin bist. Sie meint, dass ich dich nicht mehr sehen dürfte.“ Ihm schien nun etwas entfallen zu sein. Das ergänzte er aber schnell: „Meine Frau Mutter ist eine Alethische. Deshalb hasst sie den jetzigen Kaiser. Ihn wird sie nie akzeptieren können, soviel ist mal klar.“

Einen Moment lang machte er den Eindruck hinter sich blicken zu wollen, hielt sich dann aber davon ab und richtete sich wieder an Viktoria. Sein Gesicht begann immer roter und seine Augen begannen immer glasiger zu werden. „Sie bestand darauf, dass ich dich nie wieder treffen darf. Ich habe sie angebettelt, die Sache doch zu erlauben. Nach langem Hin und Her habe ich es schließlich geschafft ihr eine Erlaubnis abzuringen. Aber es gab da eine Kondition.“ Viktoria war anfangs noch überrumpelt und war wie versteinert dagestanden, da sie nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Nun fing sie langsam an die Worte des Burschen mental zu verarbeiten. Sie runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Achaz war so derartig angespannt, dass nicht einmal diese Umstände es erklären konnten. Als ihm dann die ersten Tränen von den Wangen zu laufen begannen, wuchs ihr Verdacht nur noch mehr.

Schließlich sprach er dann den entscheidenden Satz aus: „Sie meint, dass dein Vater unserer Liebe im Weg steht. Wenn du ihn…“, er rang kurz mit dem, was er nun äußern würde, machte aber dann weiter. „Wenn du ihn nur beseitigen könntest, wäre unsere Beziehung möglich.“ An dem Punkt wollte er eigentlich noch etwas hinzufügen, schaffte es aber nicht mehr. Diese Szene ließ nun laut die Alarmglocken in Viktoria’s Kopf läuten. Sie war vielleicht naiv, aber nicht so naiv. Irgendetwas stank an der Sache ganz gewaltig. Sie wusste natürlich nichts von den Racheplänen Petras, die primär auf Wenzel abzielten. Jene Dame wusste, von den Schwierigkeiten, die sich für die Thronerbin im Verhältnis mit ihrem Adoptivvater ergeben hatten, nachdem dieser sie im Wald mit Achaz erwischt hatte. Und Viktoria war auch ein sehr aufsässiges Gör. Allerdings, die Annahme, dass sie sich zu derartig argen Taten, wie die, die ihr soeben vorgeschlagen worden war, überreden lassen konnte, war ein Irrtum.

Ein zutiefst trauriger, schlotternder Achaz stand nun vor ihr und vermied aus dem Gefühl der Schande heraus den Augenkontakt. „Hab keine Angst! Wenn du auch nicht frei sprechen kannst, aber die Gedanken sind frei“, schien die Stimme Viktorias nun aus einer ätherischen Ebene zu ertönen. Einen Augenblick lang hing Achaz der Mund offen, bis er registrierte, was dies zu bedeuten hatte. Er ebenso, wie Lucius und Petra hatten keineswegs die Möglichkeiten, die die magischen Kräfte des Mädchens boten in ihren Plan miteingerechnet. Sie kannten diese ja auch nicht. Nur der Junge hatte bisher ihre Telepathie miterlebt, hatte aber glücklicherweise, wie sich nun herausstellte, diejenigen, die ihn als Köder benutzt hatten, vergessen darüber zu informieren.

„Wirst du beobachtet?“, erkundigte sich seine Freundin jetzt via Gedankenübertragung. Einzig in seinen Gedanken erwiderte er ihr sogleich: „Ja. Lucius, mein Aufpasser, ist ganz in der Nähe versteckt und belauscht uns. Er kontrolliert, ob ich auch ja dem Plan folge.“ – „Und der Plan ist es mich einzuseifen und als Werkzeug für deren Zwecke zu missbrauchen.“ – „So ziemlich, ja.“ Als es nun gemächlich zu ihm durchgesickert war, dass sich gerade ein Ausweg aus seiner Sackgasse für ihn eröffnet hatte, wollte der Jugendliche schon voll Erleichterung zu lächeln beginnen. „Nein, tu das nicht!“, vermittelte sie ihm da. „Du musst weiterhin traurig und verzweifelt ausschauen. Ansonsten kauft man uns die Sache nicht ab!“ Achaz nickte mit der kleinstmöglichen Kopfbewegung, um ihr seine Übereinstimmung zu signalisieren. Nun begann das Schauspiel der beiden.

„Weißt du was, ich glaube, dass du mir wirklich wichtiger bist als mein sogenannter Vater, der gar nicht mein echter Vater ist!“, posaunte die junge Dame mit ihrem eher mittelmäßigen Schauspieltalent. Ihr Gegenüber versuchte nicht allzu enthusiastisch zu wirken, konnte aber das sichtbare Aufhellen seiner Stimmung nicht verbergen. Er antwortete: „Oha! Das überrascht mich jetzt schon. Ich hätte gedacht, dass du etwas von deinem alten Herrn hältst.“ Seine Ausdrucksweise klang etwas übertrieben gekünstelt. Dem entgegnete nun die Magierin: „Naja, ich halte schon etwas von ihm. Nur, um es als Liebe zu bezeichnen, dafür reicht es nicht ganz.“ Es war eine ungewöhnlich gut formulierte, inhaltlich überzeugende Aussage, die die Prinzessin hier aufbieten konnte. Lediglich ihre gestelzte Darbietung dieser konterkarierte sie ein wenig.

„Na gut,“, meinte daraufhin Achaz, „dann sehen wir zu, dass die Sache getan wird. Machen wir uns einen neuen Termin aus, an dem wir uns wieder treffen.“ – „Einverstanden! Ich werde mir bis zum nächsten Mal eine Vorgehensweise überlegen und dann sprechen wir uns ab, wie wir die Sache angehen.“ Abschließend sagte der Bursche dann: „Wenn die Angelegenheit hinter uns ist, kann unserer Beziehung nichts mehr im Weg stehen.“ – „Genau!“, gab Viktoria da schlicht zurück.

Somit endete ihre Vorstellung, mit der sie versuchten, Lucius hinters Licht zu führen. Ob dies geklappt hatte, würde Achaz nur nach ihrer Abreise herausfinden. Es war ein guter Versuch der beiden, selbst wenn sie schlechte Improvisatoren und erst recht mangelhafte Schauspieler waren. Viktoria war, bei ihrem Abflug aber überzeugt, dass das Unterfangen der zwei Verliebten geglückt war. Sie ließ das Knistern des mittlerweile relativ heruntergebrannten Lagerfeuers hinter sich und kehrte nach Hause zurück. Unter keinen Umständen durfte sie zu spät heimkommen.