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Das Heilige Reich [German]
1. 09 Nachts im Wald

1. 09 Nachts im Wald

Eine unangenehme Schwüle lag in der Luft, die einem den Schweiß aus den Poren trieb. Es war heiß und in der vorausgegangenen Nacht hatte es ausgiebig geregnet. Auf einem Übungsplatz standen nun eine Anzahl an Männern, die alle Trainingsgewänder trugen, welche etwas dicker waren, um etwaige Wunden durch unglückliche Schwerthiebe zu verhindern. Es war ein weiterer Tag des Schwerttrainings für Alexander, aber auch andere junge Aufsteiger der Heereselite. Ein Schwarm Spatzen saß in den nahegelegenen Büschen und untermalte gewissermaßen die Szene musikalisch. Der Kuhn Sprössling wischte sich die klatschnasse Stirn ab. „Huh! Was für ein erdrückendes Wetter!“, beschwerte er sich. Allen anderen ging es nicht recht viel besser, sie nahmen die Umstände aber wortlos hin.

„Alles klar, Mädels!“, begann Ulrich nebst ein paar anderen Instrukteuren die Burschen auf kindische Weise zu adressieren. „Heute machen wir wieder Übungskämpfe. Wir wechseln immer so durch, dass wir von da, wo wir gerade gekämpft haben, im Uhrzeigersinn zum nächsten Partner weitergehen. Alle, die ein weißes Band bekommen haben, sind „Wechsler“, die, die keines haben, bleiben nach jedem Match wo sie sind. Ist das klar soweit?“ Die in einer Reihe aufgestellten Jungs signalisierten ihm Zustimmung. „Also gut! Dann können wir ja loslegen. Ragnar du geht’s dorthin, Laszlo hat den Platz da drüben…..“ Er teilte alle ein. Während dies vor sich ging, fiel keinem noch auf, dass sich eine Zuschauerin „angeschlichen“ hatte. Fairerweise muss man auch sagen, dass sie auch an einem Ort war, wo man nicht gleich hinschauen würde.

Auf der nebenan stehenden Militärbaracke saß nun ein Mädchen mit einem langen, beigen Kleid. Ihre Haare waren rot und sie versuchte nicht auf den schlüpfrigen, alten und teils schon von Flechten besetzten Dachziegeln auszurutschen. Als sie halbwegs Halt gefunden hatte, schaute sie neugierig bei dem zu, was der in Ausbildung befindliche Soldatennachwuchs hier so alles machte. Eigentlich durfte sie das nicht und eigentlich sollte sie sich zu diesem Zeitpunkt ihrem Studium widmen, doch die Prinzessin hatte sich selbst wieder einmal die Freiheit gegeben, sich durchs Fenster aus dem Staub zu machen. Sie spähte hinüber auf die Burschen, als sie ihre ersten Schwertschwünge begannen.

Sehr bald schon fiel aber die nicht zugelassene Zuschauerin einigen wenigen der Trainierenden auf. Auch Alexander sah sie. Er wusste natürlich sofort, wer sie war, da er das Mädchen ja kannte. Nun war er besonders angespornt. Er musste herzeigen, was er konnte! Mit aller Kraft drosch er von links und rechts auf seinen Widersacher ein, der seine Hiebe aber stets gekonnt abblockte. Schließlich parierte ihn sein Herausforderer und traf den jungen Generalmajor am Handgelenk. „Hey! Pass doch auf!“, knurrte der junge Mann da zornig. Vor lauter Drang sich beweisen zu wollen, machte er dann einen kühnen Satz nach vorne. Ein großer Fehler. Das feuchte Gras unter seinen Sohlen ließ ihn ausrutschen und er fiel vorwärts direkt auf sein Gesicht.

Augenblicklich rappelte sich der junge Kuhn wieder auf, doch es war schon geschehen. Nicht nur sein Gegenüber lachte über ihn, sondern auch Viktoria konnte man auf dem Dach lachen sehen. Er war gedemütigt. Fast schon wollte er eine wütende Aussage an den Kopf seines Kampfpartners werfen, hielt sich dann aber zurück. Dieser konnte ja auch nichts dafür. Die Sache hatte Alexander allein sich selbst zuzuschreiben. Er war kein guter Kämpfer und das wusste er tief im Inneren auch selbst. Nun wurden aber auch die Ausbildner hier auf das Mädel auf dem Dach aufmerksam. „Was machst du da? Du darfst nicht hier sein! Weg mit dir! Verschwinde!“, rief einer von ihnen laut zu ihr hinüber. Die junge Dame erschrak kurz und flog dann sogleich hinfort.

Jetzt kam Ulrich zu seinem Schützling heran und sprach zu ihm: „Du handelst immer zu unüberlegt. Denk nach, bevor du was machst.“ – „Wenn ich schnell genug bin und meinen Feind überrasche, dann funktioniert es auch! Kämpfen ist keine Wissenschaft!“, verweigerte Alexander die Ratschläge des Vize des Obersten Marschalls. „Nein! Ein Kampf ist kein Hasardspiel, in dem du alles riskierts, nur weil du glaubst jemandem auf dem falschen Fuß erwischen zu können!“, erklärte ihm Ulrich in leicht erbostem Tonfall. Der Bursche schien nicht auf ihn zu hören. Hinterbei flüsterten die anderen Recken miteinander: „Er versteht’s halt einfach nicht! Der Kuhn war schon immer ein Einfallspinsel! Schhhh! Sei still! Du willst dir doch keine Probleme mit seinem Vater einholen.“

Der junge Alexander hasste es, dass alle so auf ihn herabblickten. Er war ein echter Mann! Er musste es diesen Typen, nein, er musste es allen beweisen.

Es war zu später Stunde. Vom sternenklaren Himmel leuchtete ein zunehmender Dreiviertelmond herab. Seine Helligkeit machte es einfacher für Viktoria zu sehen, wo sie hinflog. Der Treffpunkt, den sie ausgemacht hatte, war ein Ort, an dem sie keiner so leicht finden würde, den sie aber gleichzeitig auch leicht finden konnte. Darum hielt sie nun Ausschau nach dem Orientierungspunkt, auf dessen Basis sie den Ort ihrer Verabredung ausgesucht hatte. Über ein dichtes, finsteres Blätterdach flog sie hinweg. Dann sah sie ihn endlich. Eine hohe steinerne Spitze ragte in der Ferne aus dem Wald und das Mädchen nahm Kurs darauf. Als sie sich annäherte, öffnete sich der Forst unter ihr und gab eine geringe Menge an Häusern preis. Eine winzige Siedlung mitten in den Karantischen Wäldern. Die Magierin flog weiter hin zu ihrem Zielobjekt und landete dann langsam und vorsichtig vor diesem auf dem gepflasterten Boden.

Vor ihr stand ein großer Obelisk senkrecht in die Höhe. An dessen Fuß war eine Kriegerstatue in das Denkmal integriert und auf dessen Spitze war eine metallene Triquetra angebracht. Die Statue hielt ein Schild in den Händen auf dem zu lesen war:

Den in der Heiligen Revolution Gefallenen zum Andenken

Freiheit oder Tod

Gepriesen seien die Märtyrer

Auch wenn sie die Botschaft des Monuments verstand, so begriff die Prinzessin nicht die Tragweite oder den Kontext dieser. Das Denkmal stand auf einem kleinen gepflasterten Platz, der inmitten einer verlassenen Siedlung war. Es war aber noch „relativ“ neu. Warum man ein solches Monument in einer Geisterstadt errichtet hatte, konnte Viktoria nicht sagen, doch sie verschwendete auch keinen Gedanken daran.

Sie war schon des Öfteren hier gewesen. Nicht nur war man hier allein und hatte seine Ruhe, sondern auch war diese einstige Siedlung leicht zu finden. Heutzutage zumindest…. Das Mädchen ging nun zum südlichen Ortsrand, wo man auf einem ebenso noch ziemlich neuen Schild „Lagersdorf“ lesen konnte. Ein paar wenige Meter neben diesem wartete er nun. An einen alten, morschen Zaun gelehnt, blickte eine Person in dunkler Kleidung, die jedoch vom Mondlicht erhellt wurde, zu der Prinzessin herüber.

„Hallo! Hier bin ich. Freut mich, dass du gekommen bist!“, sprach er diese mit gezielt sanfterer Stimme an, um sie an diesem menschenleeren Ort nicht zu erschrecken. Als das Mädchen sich da zur Seite drehte und ihn entdeckte, kam ihr ein Lächeln über die Lippen. „Hallöchen, wie geht’s dir?“, fragte sie in übertrieben erpichtem Ton nach. Ihre Freude und auch Nervosität gingen ein wenig mit ihr durch und kamen so zum Vorschein. Er entgegnete: „Gut. Ich habe aber ein wenig gebraucht, bis ich dieses Dorf im Niemandsland gefunden habe.“ Er flunkerte hier ein bisschen. Erstens war ein einziger Weg, der von Soldach hierherführte, noch gut benutzbar und zweitens hatte ihn Lucius hergeleitet, da er sich höchstwahrscheinlich verlaufen hätte. Der eben Genannte war übrigens immer noch anwesend. Er versteckte sich nur in nahegelegenen Büschen.

Dann erwiderte er die Frage: „Und dir?“ Sie antwortete nicht, sondern deutete mit ihrem Zeigefinger in den Wald südlich von ihnen. „Gehen wir ein Stück weiter. Manchmal kommen Leute hier vorbei. Es passiert zwar recht selten, vor allem um diese Uhrzeit, aber trotzdem sollten wir nicht unser Glück herausfordern.“ – „Ähm, okay“, kam es von ihm nur zurück. Dann gingen die zwei ein Stück durch den hier nicht allzu dichten Wald. Achaz fiel da nicht viel ein, was er sagen konnte, und schwieg einstweilen. Viktoria hingegen plapperte in der Zwischenzeit von ihrer Reise hierher und wie sehr es sie nervte, dass der Wind immer ihre zuvor gut durchgekämmte Haarpracht wieder durcheinanderwirbelte. „Sehen meine Haare eh nicht furchtbar aus, oder?“, erkundigte sie sich bei ihm unverblümt. Der junge Mann war überrascht davon, dass sie so ungezwungen mit ihm redete, als würde sie ihn schon lange kennen.

„Kann ich nicht genau sagen. Ich sehe es nicht gut“, erwiderte er. Kurz darauf erreichten sie aber eine Stelle, an der das Licht des Mondes herunterscheinen konnte. Es war ein größerer Teich inmitten einer kleinen Lichtung. Vor diesem blieb nun Viktoria stehen und wandte sich dem Burschen zu. „Und?“ Verwirrt fragte er: „Was?“ Dann realisierte er aber, dass sie ihre zuvor gestellte Frage meinte. Er schaute auf ihre Haare. Diese waren schon sichtlich durcheinander geweht worden. „Sind halbwegs in Ordnung, schätze ich. Man kann den Effekt des Windes auf jeden Fall sehen.“ Enttäuscht äußerte sie da: „Wirklich? Ach,…“ Sie machte einen erbosten Eindruck. Dass sie nicht so hergerichtet, wie sie sein wollte, zu ihrer Verabredung kommen konnte, ärgerte sie ungemein. Selbst ein Blinder hätte ihr ihre Befindlichkeit in diesem Moment ansehen können.

Währenddessen hatte der ihnen unauffällig folgende Aufpasser von Achaz wieder aufgeholt und sich in einem etwas entfernten Gestrüpp versteckt. Es war leider recht stachelig darin, doch er musste tunlichst unterlassen auch nur irgendein Geräusch von sich zu geben. Viktoria bemerkte nichts. Achaz ging näher bis an den Rand des Teichs heran und blickte auf dessen Oberfläche, auf der einige geschlossene Seerosen zu sehen waren. Er wandte sich dann an das Mädchen, das direkt neben ihm stand: „Weswegen hat sich jemand von deinem Rang auf ein Treffen mit mir eingelassen? Du weißt noch nicht einmal welchen Standes ich bin.“ Diese Frage irritierte die Prinzessin. Sie entgegnete: „Was spielt das denn für eine Rolle? Stand? Reichtum? Pah!“ Den Burschen überraschte sogleich wieder ihre direkte und geradezu ungehobelte Art, die er seit dem Ball beinah schon wieder als eines ihrer Persönlichkeitsmerkmale vergessen hatte.

Er stellte zur Gegenfrage: „Und die Meinung deiner Eltern?“ Das schien Viktoria jetzt unverhofft getroffen zu haben und sie wankte leicht in Reaktion darauf zurück. „Meine Eltern wissen gar nichts. Es ist besser, wenn ich ihnen nicht alles erzähle.“ Dazu ergänzte nun der junge Mann: „Meine wissen auch nicht, dass ich hier bin. Ist, glaube ich, auch besser so.“ – „Du sagst es!“ Dann pausierten sie die Konversation kurz. Eine kühle nächtliche Brise ließ Rillen über die Teichoberfläche gleiten und die zwei beobachteten dies still. „Es ist schon echt angenehm hier. Ich verstehe, warum du den Ort magst“, vermerkte Achaz. Sie gab ihm recht, meinte aber auch: „Hauptsächlich komme ich hierher, weil ich hier allein sein kann. Niemand stört mich hier, wenn ich meine Magie übe.“

Das interessierte den jungen Mann nun und er hakte nach: „Magie? Was machst du denn da so alles?“ Die Frage war bewusst vage gestellt, da er wissen wollte, was sie denn alles mit ihren Zauberkünsten machen konnte, er sich aber nicht direkt danach fragen traute. Blöderweise entgegnete ihm Viktoria mit einer ebenso vagen Antwort. „Vor allem Dinge, die die Kraft angehen. Hier draußen brauche ich keine Angst davor haben, Schaden anzurichten, so wie es in der Stadt der Fall ist.“ – „Ähm,…okay“, kam es von dem Burschen da nur zurück. Dann raffte er sich aber auf und erkundigte sich: „Was genau machst du da so? Bäume umnieten? Oder…ich weiß nicht was noch?“ Sie erwiderte sorglos: „Ja, vor allem Bäume benutze ich als Testziele. Ihr Holz splittert durch meine Telekinese. Sogar die ganz großen, uralten Eichen kann ich mit einem Mal fällen. Ich übe dann auch öfters die umgefallenen Stämme hochzuhieven, da die ja sehr schwer sind. Das klappt auch problemlos, eigentlich.“

Scherzhaft meinte da Achaz: „Da könntest du schon fast als Holzfällerin anfangen!“ – „Haha! Vielleicht. Ich glaube nicht, dass die Knechte, die der Förster dafür hat, mir da allzu dankbar wären“, amüsierte sich das Mädchen. „Da hast du wohl auch recht“, bestätigte er sie. „Ich finde es echt krass, dass du fliegen kannst. Das muss ein unglaubliches Gefühl sein“, meinte er dann. Daraufhin kam der Zaubrerin ein Lächeln übers Gesicht und sie fragte ihn: „Willst du’s auch mal ausprobieren?“ Ohne zu zögern, retournierte er da: „Ja. Das wäre echt toll!“

Folglich nahmen sie sich an der Hand und Viktoria ließ sie beiden ein paar Meter über den Teich schweben. „Wenn du willst, können wir auch höher hinauf.“ – „Mhm“, gab er seine Zustimmung. Dann flogen sie über die Baumwipfel hinweg und ein ganzes Stück über den vom Mondlicht erhellten Wald. Die Magie des Mädchens ließ sie mit überraschender Geschwindigkeit davonsausen. Der starke Luftzug ließ seine Gewänder wild herumflattern. Doch Achaz hatte keine Angst. Dieser Flug durch den Himmel Ordaniens ließ das Adrenalin durch seine Adern fließen und hatte eine beinah berauschende Wirkung auf ihn. Nach kurzer Zeit kehrten sie aber zurück und die Prinzessin setzte die beiden wieder genau da ab, wo sie abgehoben waren. „Das war die aufregendste Sache, die ich je gemacht habe!“, behauptete der Junge mit einem erfreuten Gesichtsausdruck. Das Mädel konnte da nicht verhindern, dass seine Begeisterung auch auf sie abfärbte.

Danach unterhielten sie sich noch eine Weile. Achaz hatte nun offensichtlich eine Faszination für ihre Magie gefunden. „Ich wünschte, ich könnte solche Dinge auch machen“, gab er ihr da preis. „Leider muss man mit solchen Fähigkeiten geboren sein. Anders geht’s nicht“, musste ihm Viktoria einen Dämpfer verpassen.

Das war ihrem Gesprächspartner natürlich vollends bewusst. Unverfänglich warf er da einfach ein: „Kein Wunder, dass du so selbstbewusst bist. Du kannst wahrscheinlich fast alles!“ Dies war keine Lüge. Er sprach hier aus, wie er sie tatsächlich wahrnahm. Viktoria schien seine Aussage als Kompliment aufzufassen und ihr strahlte Freude aus dem Gesicht. Dann gab sie wenig später aber etwas Unerwartetes zurück: „Es gibt sehr viel, das ich kann. Aber ich glaube, dass du mich hier überschätzt. Ein Magier ist auch nur ein Mensch. In vieler Hinsicht entfremdet einen das Dasein als Magier sogar eher von anderen.“ Das leuchtete dem Burschen ein, doch ihm kam nicht unmittelbar in den Sinn, was er als nächstes sagen sollte. Er schwieg nun wieder ein wenig. Auch die Prinzessin blieb eine Zeit lang ruhig.

Im Mondlicht schauten sie sich gegenseitig an. Das Mädchen ließ seinen Blick über die Gesichtszüge und Klamotten des jungen Mannes schweifen und vice versa. Als sich ihre Blicke trafen, wandte sich Viktoria, leicht schamrot geworden, ab. Er war fürwahr gutaussehend. Jetzt wollte der Bursche etwas Wichtiges in Erfahrung bringen: „Kann ich dich wiedersehen? Ich mag dich und möchte nicht, dass das unser letztes Treffen war.“ Dies machte sein Gegenüber sichtlich verlegen, etwas sehr Ungewöhnliches für sie. Sie überlegte kurz und antwortete dann: „Ja. Ich will auch, dass wir uns wiedersehen.“ Somit machten sie sich die nächste Verabredung aus.

Eine kleine Dame in einfärbig dunkelblauer Uniform kniete sich im barsten Sinne des Wortes in ihre Arbeit hinein. Auf dem Boden ausgebreitet lagen mehrere riesige Pergamentbögen, auf denen sie zeichnete. Einer war schon fertig und bildete einen intrikaten magischen Zirkel ab, der noch vollständig trocknen musste. Über einen weiteren war nun der Schwarzkopf gebeugt und zog vorsichtig Strich um Strich. Dann folgte aber ein Klopfen an der Türe und sie kleckerte ein wenig mit der Tinte, welche von ihrem Pinsel tropfte. „Herrgott, nochmal!“, ärgerte sie sich. „Herein!“

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Die Bibliothek betrat nun ihr Chef. Als er sah, womit sie gerade beschäftigt war, verspürte er ein wenig Reue. Obwohl er möglichst behutsam angeklopft hatte, war sein Eindringen hier natürlich eine Störung. Silke erhob sich sogleich und begrüßte ihn: „Guten Tag, mein Herr! Es freut mich, Euch wohl behalten wiederzusehen.“ – „Dachtest du etwa, dass ich auf meiner Reise von Monstern gefressen werden würde?“, alberte seine Majestät da und fügte dem noch bei, „Ein simpler Basilisk ist nichts für mich.“ Dies schien eine gewisse Konfusion bei seiner Assistentin hervorzurufen. Er würde ihr später erklären, was genau er mit dieser Behauptung gemeint hatte.

„Wir müssen ein paar Dinge besprechen“, erörterte ihr Wenzel. Er war erst vor wenigen Stunden von seiner Reise aus Camenia zurückgekehrt. Jetzt war es von Relevanz seine Assistentin über die Geschehnisse und seine Funde zu unterrichten. Infolge setzten sich die zwei zusammen und er erzählte ihr über alles, was für sie bedeutsam war zu wissen. Während seiner Ausführungen stellte er einstweilen einen in Tücher gewickelten Gegenstand auf dem Tisch neben sich ab. Die Dame hörte ihm natürlich aufmerksam zu, blickte aber immer wieder auf das Objekt hinüber, da sie schon wusste, worum es sich dabei handelte.

Beim Abschluss seiner Erläuterungen enthüllte er dann das Heilige Artefakt. Postwendend schnappte es sich die Dame und betrachtete es mit akribischem Blick. Der gelbe Stein, der darin eingesetzt war, schien irgendwie zu leuchten, obwohl er kein Licht abgab. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass es sich hierbei um das Original handelte. „Ähem!“, räusperte sich Wenzel, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken und fuhr dann fort, „Wir werden später noch genug Zeit dazu haben, das Artefakt zu untersuchen. Ich möchte dir aber noch einen weiteren Fund, den ich gemacht habe, zeigen.“ – „Meint Ihr den Kristall, der den Zauberkreis gespeist hat?“ Er nickte ihr zu und zog das Genannte aus seiner Hosentasche.

Es war ein durchsichtiger Bergkristall, der ungefähr die Länge und Breite eines Daumens hatte. Silke war sogleich Feuer und Flamme und wollte die Erforschung der zwei Objekte augenblicklich beginnen. „Ich habe heute noch etwas vor, aber ein bisschen kann ich dir bei der Analyse Beistand leisten“, behauptete seine Hoheit dann. Eigentlich war er ebenso aufgeregt und voll Enthusiasmus seine Neuentdeckungen zu untersuchen. Folglich wurde es ein langer Nachmittag und schließlich Abend. Wenzel blieb letztlich und ließ seinen Termin ins Wasser fallen. Aber dies war nicht vergebens gewesen. Was sie herausfanden, war aus der Sicht der beiden Zaubereiversessenen außergewöhnlich interessant.

Es war nämlich so, dass der Bergkristall keinen inhärenten magischen Effekt hatte. Er speicherte schlicht und einfach nur Magische Kraft. Wenn der Erkorene nun Magie ausübte, während er diesen in der Hand hielt, wurde sein Austrag erheblich größer. In anderen Worten: Der Stein verstärkte seine Zauberkraft deutlich. „Sollten wir den Stein zerstören, um zu testen was mit der Magie, die in diesem steckt, dann passiert?“, machte seine Assistentin ihm den Vorschlag. Der Zauberer ließ es sich ein wenig durch den Kopf gehen. Dann erwiderte er: „Ich denke nicht, dass dies notwendig sein wird. Ich weiß ohnehin schon, was passieren würde. Die Magische Kraft des Objekts würde sich an das Nächstbeste binden, das sie in sich halten kann. Also vermutlich an mich oder aber in eines der anderen Heiligen Artefakte. Ehrlich gesagt, will ich nicht noch mehr graue Strähnen bekommen. Die von damals reicht mir eigentlich.“

Fast schon reflexiv starrte die Frau da kurz auf die Haare des Herrschers. Eine einzige graue Strähne zierte dessen sonst roten Haarschopf. Die Geschichte, wie es dazu gekommen war, hatte ihr seine Majestät bereits erzählt. Sie verstand seine Gefühlhaltung diesbezüglich und würde ihn nicht dazu drängen etwas zu tun, das er nicht wollte. Somit würde der Stein aus dem Zauberkreis, auch wenn er kein Heiliges Artefakt war, ebenso hier aufbewahrt bleiben.

Ein junger Mann mit kurzem Haarschnitt und attraktiv männlichen, wenn auch noch nicht gänzlich gereiften Gesichtszügen war gerade dabei das Fell seines Pferdes zu pflegen. Mit dem Striegel bürstete er gegen den Strich, um den groben Schmutz herauszubekommen und das schöne braun-weiß gefleckte Fell seines Hengsts Figaro wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Seine Arbeit war schleißig und ging nur sehr langsam voran. Achaz war mit seinem Kopf heute einfach ganz woanders. Immer wieder blickte er starr in die Ferne oder einfach auf das Fell Figaros hin, ohne aber dabei mit dem Bürsten weiterzumachen. Was war los mit ihm?

Vor seinem inneren Auge sah er die ganze Zeit nur das Antlitz des Mädchens mit den karmesinroten Haaren. Ihre Stimme, ihre Art zu reden, ihre schönen Augen und verwegene Art ließen ihn nicht mehr los. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er weiterhin ihr wunderschönes Gesicht vor sich. Sie war alles, woran er im Moment denken konnte. Bei ihrem ersten Treffen hatte er dies noch nicht verspürt, doch seit dem letzten Mal hatte sich das geändert. Er selbst begriff schon nach dem ersten paar Tagen, was es mit diesem Gefühl in seinem Magen auf sich hatte. Viktoria bedeutete ihm etwas. Das war eine sehr schlechte Sache! Er fürchtete sich, da er wusste, welche Dinge seine Mutter geplant hatte und was sie von ihm in Bezug auf die Prinzessin verlangen würde zu tun. Er musste unbedingt mit Frau Mutter nochmal über die Angelegenheit reden. Im Moment war diese aber sowieso nicht hier. Ein weiteres Problem.

Am späteren Nachmittag, als die Sonne die Gegend schon in ihrem goldgelben Licht zu fluten begann, war er dann endlich mit seiner Arbeit fertig. Er kletterte schnell über den Holzzaun der kleinen Koppel und ging wieder in die kleine Hütte, in der sie momentan hausten. Als er eintrat, sah er nur Fabio, den momentanen Partner seiner Mutter, auf einem kleinen Dreifuß sitzen. Sonst war gerade niemand anwesend. Der Mann schaute nicht einmal auf, als Achaz die Wohnstatt betrat, so befangen war er mit der Reparatur seiner Stiefel. Das Licht knallte beim Fenster herein. Es war schwindelerregend heiß heute. Der Bursche beobachtete den Herrn eine Zeit lang bei dem, was er da tat, ohne etwas zu äußern. Er brauchte jemanden, mit dem er über das, was ihn so intensiv gedanklich beschäftigte, reden konnte. Aber Fabio? War er der Richtige dafür? Er kannte ihn nur wenig. Alles, was er von dem Kerl wusste, war dass er seiner Mutter bei allem nachgab und sich ihr im Grunde nie widersetzte. War er wirklich jemand, mit dem er dies besprechen konnte? Andererseits waren jetzt nur sie beide hier, eine ideale Gelegenheit, um solch intime Themen anzuschneiden. Es war wohl besser diese Gelegenheit beim Schopf zu packen.

„Du, Fabio?“, eröffnete er die Unterhaltung. „Ja?“, kam es zurück. Der Mann schaute von seiner Tätigkeit auf, wobei er seinem Stiefsohn mit einem ermüdeten, aber anderweitig recht emotionsleeren Blick begegnete. Dieser ließ Achaz kurz innehalten, dann rang er sich aber dazu durch weiterzusprechen. „Wei….Weißt du denn ob Frau Mutters Plan tatsächlich funktionieren wird?“ Fabio warf ihm einen fragenden Blick entgegen und sagte dann: „Du meinst die Sache mit der Prinzessin, oder? Warum sollte sie denn nicht funktionieren?“ Der Junge musste nun gewitzt antworten. „Weil er schon auf einer falschen Grundannahme beruht. Viktoria ist nicht so hitzköpfig oder gar so manipulierbar, wie ihr angenommen…..also wie der Bericht des von Alduino es behauptet hat. Sie nimmt sich mit ihrer Aufdringlichkeit bewusst zurück und entschuldigt sich sogar dafür, wenn sie sich zu unangemessen benommen hat!“

Dem erwiderte sein Gegenüber nur: „Und inwiefern macht sie das weniger manipulierbar? Klingt für mich so, als ob es das genaue Gegenteil bedeuten würde, also dass die Prinzessin nachweislich ihr Verhalten für einen anpasst, wenn man ihr nur nahe genug kommt.“ – „Verdammt!“, dachte sich da Achaz. Fabio hatte recht.

„Natürlich ist sie beeinflussbar. So wie jeder Mensch!“, schallte es von der Eingangstür herein. Es war die unverkennbare, krächzende Stimme von Lucius. Der Mann, der einst sogar offiziell als Erbe des Ordanischen Throns gegolten hatte, durchbohrte den jungen Burschen mit seinen eiskalten Augen, als dieser sich zu ihm umdrehte. Dies ließ Achaz sogleich erstarren. „Du wirst unserem Plan folgen und keine dummen Fragen stellen! Ist das klar?“ Der Knabe zuckte zusammen, gab ihm aber keine Antwort. Nachdem der Rachsüchtige nun aber näher an ihn herantrat, presste er ein leises, „Ja“, aus sich heraus.

Nun beugte sich sein Aufseher ein wenig zu ihm herunter und sprach: „Gut. Vergiss nicht, dass das Regime nicht das kleinste bisschen zögern würde auch dich zu vernichten, wenn sie herausfänden, wessen Abkömmling du bist! Dies betrifft somit auch dich. Außerdem sind sie ohnehin nur alle willfährige Diener von Dämonen! Es gibt keinen einzigen Grund hier zu wanken oder an der Richtigkeit unserer Mission zu zweifeln. Oder etwas doch?“ Der Mann, der vom Hass zerfressen war, hatte ihm eine weitere Frage gestellt. Sie war ebenso rhetorisch, wie auch nicht rhetorisch. Der Bursche entgegnete mit einem schlichten: „Natürlich ist sie das.“

Er hatte nicht den Mut seine Gefühle für Viktoria zu offenbaren, besonders jetzt nicht mehr, da Herr Cornel wieder zurück war. Achaz wusste nicht einmal, wie er selbst damit umgehen sollte. Was für ein Durcheinander! Was konnte er jetzt machen? Was SOLLTE er jetzt machen? Der Bursche hatte keine Antwort darauf. Er würde sich weiterhin mit dem Mädchen treffen, mit der Absicht sie einzuwickeln. So wollten es seine Mutter, Lucius und Fabio, vor allem aber die zwei Erstgenannten. Er war gezwungen ein böses Spiel zu spielen, das er nicht wollte, und Lucius würde jeden seiner Schritte genau überwachen. Es gab kein Entrinnen für ihn!

Hellbrauner Staub wurde vom niedergetrampelten Boden des Übungsplatzes im Zentrum des Lagers aufgewirbelt. Starke Männer mit sonnengebrannter Haut übten den Umgang mit Speeren und Lanzen. Sie traten gegeneinander an, trainierten aber auch an Strohmännern und hölzernen Übungszielen. Vor allem jene, die den Umgang mit der Lanze zu Pferd erprobten, bedienten sich einfacher Zielscheiben oder strohgefüllter Säcke als Übungsziele.

Wir befanden uns noch in den Morgenstunden, doch war es auch jetzt schon relativ warm, was einerseits der Lokalität andererseits aber auch der Jahreszeit zu verdanken war. Nicht fern von hier konnte man die Limesischen Berge emporragen sehen. Die Männer hier waren teils Camenier, die meisten von ihnen waren aber aus Ordanien stammend. Die Repressalien des Reiches hatten den Großteil dieser dazu gezwungen hier ins Exil zu gehen. Wie man sich wohl denken konnte, waren sie Großteils Alethische, aber nicht ausschließlich. Am Rande des Geschehens hier ritt nun eine kleine Frau in Begleitung eines Mannes heran. Ihr Name war Petra und sie war vom Freiherrn von Alduino in dieses geheime Trainingslager, das sich in seinen Landen befand, geführt worden.

Die zwei blieben vor dem Zelt des Kommandanten stehen und stiegen aus dem Sattel. Zielgerichtet spazierten sie sogleich beim genannten Zelt hinein. Nachdem sich ihre Augen an die Finsternis des Innenraumes hier gewöhnt hatten, konnten sie ihn schon erblicken: Etzel. Er saß auf einem kleinen Tisch und über ihm hing ein gelbes Wappen, auf dem drei rote Lanzen quer darüber abgebildet waren. „Guten Morgen, meine Durchlauchtesten Herrschaften!“, begrüßte sie der ehemalige Feldmarschall. Er schloss der Einfachheit halber Petra in seinen Gruß ein, obwohl sie keine Adelige war. „Gott zum Gruße!“, gab der Freiherr da kurz zurück. Dann äußerte er: „Ich bin primär hier, um die Dame hier an Sie zu überstellen. Bei der Gelegenheit werde ich mir natürlich auch nochmal ein Bild davon machen, wie es mit dem Aufbau und dem Training Ihrer Kämpfer vorangeht.“

Etzel nickte seinem Mäzen zu und kommentierte: „Der Aufbau der Lanzknechte ist langwierig und zäh. Viele haben nicht, was es braucht, um ein unerschütterlicher Widerstandskämpfer zu sein. Dennoch, wie Sie wohl selbst sehen können, mein Herr, geht der Schaffung unserer alethischen Organisation stetig voran.“ – „Und hier komme ich nun ins Spiel“, involvierte sich Petra in die Unterhaltung und fuhr fort, „Eine einfache Zelle des Widerstands oder sogar mehrere werden niemals den Status quo in Ordanien verändern können. Hierfür bedürfen wir einer weiteren unabdingbaren Komponente: Meinem Plan!“

Das war in der Tat eine korrekte Einschätzung, denn die meisten Ordanier, aber auch Camenier, Seemärker und Corakier hingen der Hauptströmung des Teleiotismus an, die noch vor nicht allzu langer Zeit als "das Altgläubigentum" bezeichnet wurde. Selbst unter alethischer Herrschaft waren sie in der Mehrheit geblieben, sodass es für diese antimelgarische Bewegung keine einfache Möglichkeit gab, das Rad der Zeit zurückzudrehen. „Ich nehme an, dass du deshalb zu mir gekommen bist, um mich über den Fortschritt deiner Machenschaften zu unterrichten, Petra“, sagte der Militär. Sie erwiderte: „Du hast es erfasst!“ Dann deutete Etzel auf einen kleinen Stuhl, der auf der Seite stand. Sie holte sich diesen schnell und dann setzten sie sich zusammen, um das Vorankommen ihrer jeweiligen Unternehmungen zu besprechen.

Währenddessen verlies der Edelmann in seinen grünen Pluderhosen wieder das Zelt und machte einen Inspektionsgang durch das Lager. Als er dem Anschein nach ziellos umherirrte, sah er die Rekruten und Kämpfer allerlei Übungen machen aber auch notwendige Arbeiten verrichten. Ein großer muskelbepackter Mann, der ohne Weiteres bei den Grenadieren der Heiligen Ordanischen Armee aufgenommen werden hätte können, schwang ein Großschwert herum. Dieses imponierte dem Passanten besonders, da es eine geschwungene Klinge, gleich einer Flamme hatte. Entsprechend wurde es auch als Flammberge bezeichnet. Es war eine der ikonischen Waffen der Boskettischen Kompanie gewesen, bevor sie vom Camenischen König per Dekret aufgelöst worden war.

Deren Organisation und auch Art der Kriegsführung hatten sich Etzels Lanzknechte nun aber zum Vorbild genommen. Es war kein Zufall, dass Etzel den ehemaligen Anführer der nun verbotenen Söldnerorganisation kannte, und dass eine ordentliche Anzahl einstiger Söldner dieser nun hier eingetreten waren. Dennoch würden die Struktur und Kampftaktiken dieser neuen Organisation an Widerstandskämpfern nicht einfach dieselbe sein. Wie der Name schon sagte, würden die Waffengattungen, die sie hier priorisierten, recht lanzenlastig sein. Insgesamt waren da viele hunderte Kämpfer, die man allein hier ausmachen konnte.

Am Rand des Lagers sah er auch Marketender, welche hauptsächlich weiblich waren. Dem Freiherrn war sehr bewusst, was mit einer solchen Existenz für diese einherging. Als er so kurz gedankenverloren dastand, kam ein stärkerer Windstoß daher, welcher die hohen Pinien, die hier überall standen, gewaltig straucheln ließ. Dadurch fielen vereinzelte Pinienzapfen von den Bäumen herab, von denen einer den Adeligen direkt am Scheitel traf. Von Alduino fasste dies als ein Zeichen auf, sich wieder zurückzubegeben. Ohnehin hatte er sich nun selbst ein Bild davon machen können, dass seine „Investition“ nicht irgendwo im Sand verlief. Den Erfolg ihrer Pläne bedeutete dies aber noch überhaupt nicht.

Zu Mittag war ihrer Mutter schon Viktorias Mangel an Appetit aufgefallen. Vor einem fast noch vollen Teller Omelette sitzend, war sie von Amalie gefragt worden: „Ist alles okay mit dir?“ Das Mädchen hatte anfangs gar nicht reagiert und nur ihr Essen auf dem Teller hin- und hergeschoben. „Was?“, war es dann zaghaft von dieser zurückgekommen. „Ich habe heute einfach keinen Hunger.“ Es dürfte wohl klar sein, dass beide ihre Eltern dies sofort als uncharakteristisch wahrgenommen hatten.

Später am selben Tag hatte das Paar dann eine Unterhaltung darüber. „Denkst du, dass mit ihr was nicht stimmt?“, erkundigte sich der Vater. Seine Ehefrau, die gerade neben Wanja auf dem Diwan saß und diese streichelte, erwiderte kopfschüttelnd: „Nicht unbedingt. Ihr Verhalten ist lediglich ….ungewöhnlich“ – „In der Tat. Gestern ist sie noch himmelhochjauchzend an mir vorbeigelaufen und hat mich überfreundlich begrüßt. Das macht sie sonst nie. Generell wirkt sie in letzter Zeit so geistesabwesend“, legte Wenzel seine Beobachtungen dar. Sein Schatz fügte dem bei: „Außerdem hat sie in letzter Zeit mein Parfüm benutzt, ohne mich zu fragen. Man kann es eindeutig auf ihr riechen.“ Da musste sie dann ein wenig schmunzeln. Der Erkorene schaute sie nur mit leerem Blick an. Sie fragte: „Siehst du es denn nicht?“ – „Was?“ – „Liebster, ich glaube, dass unsere Tochter sich in jemanden verknallt hat“, stellte sie nun für ihren ahnungslosen Ehemann fest. Wenzel zwinkerte einige Male. Dann sprach er: „Verknallt? In einen Jungen?“ Er war sichtlich unfähig dazu mit der Situation umzugehen. Nach zwei Minuten des für ihn typischen Sinnierens, kündigte er schließlich an: „Ich werde sie einfach fragen!“ Amalie griff sich auf die Stirn, tat aber nichts, um ihren Mann davon abzuhalten.

Ohne zu klopfen, trat er einfach bei ihrer Zimmertür hinein. Das auf dem Schreibtisch sitzende Mädchen blickte von diesem auf und zu ihrem Vater. „Wer ist es?“, verlangte er sofort zu wissen. Die Teenagerin schaute verwirrt und entgegnete: „Was meinst…?“ – „Deine Mutter hat die verrückte Vermutung, dass du einen Schwarm hast“, stellte Wenzel in den Raum, wobei er das Wort „Schwarm“ eigenartig hervorhob. Ihre Pupillen weiteten sich sichtlich, als sie das hörte. „Das ist nicht wahr, oder?“, ließ ihr Wenzel nicht einmal Zeit etwas zu sagen. Erst danach antwortete sie mit möglichst unauffälliger Miene: „Nein. Da ist niemand.“ – „Ach, da bin ich aber beruhigt. Sowas ist noch ein wenig zu früh für dich. Du hast noch viel zu lernen, bevor du über so etwas nachdenken solltest“, stellte der Adoptivvater da unüberlegt seine inneren Besorgnisse offen zur Schau.

„Da hast du wohl recht. Haha“, reagierte Viktoria unbeholfen und kratzte sich auf verdächtige Weise am Hinterkopf. Ihr alter Herr, der keine Erfahrung mit solchen Situationen hatte, verabschiedete sich somit gleich wieder und schloss die Türe hinter sich. Unmittelbar danach atmete die Soeben-Konfrontierte erleichtert auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wusste, dass sie von nun an vorsichtiger sein musste, wenn sie sich zu ihren Verabredungen mit Achaz wegschlich. Eine Ausrede für den Fall der Fälle parat zu haben, kam ihr in ihrer Naivität aber immer noch nicht in den Sinn. Jedoch würde sie künftig auch vorsichtiger in Gegenwart Ylvas sein.