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Das Heilige Reich [German]
002.1 Der Stein (Teil 1)

002.1 Der Stein (Teil 1)

So verging Tag um Tag, immer in derselben Eintönigkeit: Aufstehen, frühstücken, Unterricht, Mittagessen, mehr Unterricht, nach Hause gehen, Hausübung, lernen, schlafen gehen und ab und an dazwischen wurde ihm eine kurze Stunde mit dem Amulett erlaubt. Wenzel hasste diesen Alltag und er hatte niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Eine Sache veränderte er allerdings an sich. Er arbeitete an seiner Selbstkontrolle, wenn er sein Amulett bei sich hatte. Künftig würde es ihm nicht mehr passieren, dass seine Gedanken einfach ins Wolkenkuckucksheim abschweiften, während Wer-Weiß-Was um ihn herum geschah, nur weil er zu trunken von seiner eigenen Magie war. Das war das letzte Mal gewesen. Dies zu schaffen hatte er sich in der Vergangenheit schon mal geschworen, aber jetzt hatte er es tatsächlich geschafft. Was einst Aurel mit ihm gemacht hatte, würde ihm nie wieder passieren!

Am heutigen Tag begann alles wie üblich vonstattenzugehen. Er stand auf und lüftete das Zimmer. Aurel schien noch zu müde zu sein, um aus den Federn zu kommen. Als Wenzel nach einer weiteren schlaflosen Nacht seine Glieder von sich streckte, um zumindest irgendwie in die Gänge zu kommen, fiel sein Blick hinüber auf seine Seele, die ausnahmsweise unverdeckt auf Aurels Nachkästchen lag. Wie immer packte ihn das Verlangen sie an sich zu reißen, sie zu sich zu holen, dort wo sie hingehört. Dann setzte aber gleich wieder seine Vernunft ein und er verabschiedete den dummen Gedanken.

Diesen kurzen Moment des Wankens hatte Aurel allerdings mit seinen gerade erst geöffneten Augen gesehen. Augenblicklich schnellte seine rechte Hand aus der Decke hervor und schnappte das Amulett. „Glaub ja nicht, dass du irgendwas Dummes probieren kannst!“, fauchte Aurel. Sofort darauf wickelte er den Stein in seiner Decke ein, um ihn nicht direkt berühren zu müssen. Er fürchtete sich vor der „dunklen Kraft“, die in dem Ding steckte, weshalb er es immer vermied, es mit bloßen Händen anzugreifen. „Mach dir keine Sorgen, ich mach schon nichts“, entgegnete Wenzel. Aurel schaute in halb verschlafen, halb wütend an. Dann füge Wenzel hinzu: „Aber du solltest auch verstehen, dass ich mich halt zu einem Teil von mir immer hingezogen fühle. Ich kann halt nicht anders.“

„Nein, du solltest verstehen, dass du deinem eigenen Körper nur schadest, je öfter du Hexerei benutzt. Anscheinend verstehst du’s noch immer nicht.“ Das hatte ihm Aurel schon oft gesagt. Früher hatte er stets alles geglaubt, was sein großer Bruder ihm sagte, aber Wenzel konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum sein Körper von der Magie leiden sollte, wenn er doch ganz offensichtlich AUFHÖRTE zu leiden, wenn er mit dem Stein wieder vereint war. Er wollte aber seinem Bruder nicht herausfordern und behielt seine Zweifel für sich. Dann begann Aurel böse zu grinsen und sagte: „Du weißt sowieso genau, was passiert, wenn du das Amulett von mir bekommst. Im Endeffekt werde immer ich derjenige sein, der es behält.“ - „Sei dir da mal nicht so sicher!“, dachte sich Wenzel.

Mal abgesehen davon, war der heutige Tagesablauf ganz normal, bis schließlich der Unterricht begann. Am Anfang der ersten Stunde, betrat plötzlich jemand Neuer die Klasse. Der Lehrer stellte ihn allen als „Peter Rubellio“ vor. Ohne aufgefordert zu werden stellte dieser sich selbst gleich nochmal der Klasse vor. Was nun passierte, überraschte alle, Wenzel miteingenommen: Peter sah, dass neben Wenzel noch ein Platz frei war und setzte sich zu ihm. Leises Genuschel war von den Schülern zu vernehmen. Peter hatte keine Ahnung. Er hatte sich lediglich auf einen freien Platz gesetzt. Er kannte noch niemanden hier und hatte somit die Gerüchte über Wenzel natürlich auch noch nicht gehört.

„Hallo, nett dich kennenzulernen“, sagte er höflich zu Wenzel. Dieser versuchte so „normal“ wie möglich herüberzukommen und stellte sich auch ganz kurz vor. Wenzel konnte sofort von seinem starken Akzent darauf schließen, dass er aus Camenia stammte. Der Lehrer hatte es zwar nicht erwähnt, aber es war offensichtlich. Auch sein Nachname hatte dies sofort klar gemacht. Die beiden tratschten ein wenig miteinander während der Stunde. So gut es zumindest möglich war, ohne vom Lehrer ermahnt zu werden.

Peter schien ein netter Kerl zu sein. Er war auch ganz eindeutig ein Einserschüler. Er hatte immer seine Sachen gut bereitgelegt, machte alles, was ihm angeschafft wurde und wusste offenbar auch immer die Antwort auf alles, was er gefragt wurde. Das hielt ihn natürlich nicht davon ab, bei jeder Gelegenheit zu tratschen. In der Pause kam Bert zu ihm herüber und sagte: „Hey, willst du nicht lieber woanders sitzen? Du kannst dich auch neben mich setzen, aber beim Wenzel ist es …..du willst lieber nicht bei ihm sitzen.“ Diese Aussage machte Peter echt wütend! „Ich weiß genau, wo ich sitzen will und wo nicht! Um das zu wissen, brauche ich dich nicht für!“ Als Wenzel das hörte begann er innerlich zu lachen, versuchte es aber nicht zu zeigen.

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Später beim Mittagessen, saßen die beiden dann ebenfalls zusammen und erzählten sich ein wenig voneinander. Es war das erste Mal, dass Wenzel jemanden hatte mit dem er reden konnte. Wenzel erzählte ein wenig von sich. Er sprach darüber, dass seine Eltern in Meglarsbruck wohnten, dass sein Bruder in deren Abwesenheit quasi sein Vormund war, dass er die Schule hasste, aber sich bemühen musste und so weiter. Er bemühte sich ja nichts zu erzählen, was niemand von ihm wissen durfte. Vonseiten Peters wurde nichts, was er sagte, hinterfragt, doch fand dieser fast schon eine Faszination für Wenzels rote Haare. So etwas hatte er noch nie gesehen. „Ist auch ziemlich selten“, war das Einzige was Wenzel antworten konnte. Er wagte es nicht zu erwähnen, dass dies wahrscheinlich seinen „Fluch“ zur Ursache hatte. Seine Eltern hatten, ja auch keine roten Haare.

Und wie es sich Wenzel gedacht hatte, stammte Peter aus Camenia. Seine Eltern waren nun, „aus irgendeinem beruflichen Grund“, wie Peter meinte, hierhergezogen. Sein Ordanisch war gebrochen und manchmal fehlten ihm die richtigen Worte, um auszudrücken was er wollte. Daraufhin schlug Wenzel vor, dass er zu Camenisch wechseln könne, wenn er etwas nicht wusste. Wenzel würde ihn auch so verstehen. Dies ließ fast schon einen Funken der Freude in Peters Augen aufleuchten. Die meisten anderen Schüler würden ihn in seiner Muttersprache nicht verstehen.

Gleich die Stunde darauf hatten sie ironischerweise auch gleich Camenischstunde. Für Peter war alles, was sie machten, kinderleicht. Selbstverständlich war es das. Das Einzige, was für Wenzel zählte war, dass er zum ersten Mal einen echten Arbeitspartner hatte. Lernen war ihm relativ egal. Die Stunde darauf hatten sie dann Religionsunterricht. Hier würde etwas Ungewöhnliches passieren. Wie immer begann die Stunde mit einem Gebet, woraufhin sich alle setzten. Das heutige Thema war „Gottesgnadentum“. „Uff!“, achte sich Wenzel und wahrscheinlich auch der Rest der Klasse. Nur Peter schien gebannt zuzuhören.

Der Lehrer begann die Schüler mit seiner Litanei: „Der König ist von Gott erwählt. Sein Wort ist Recht und ge-recht. Seine Autorität ist nicht vom Menschen, daher kann ihn auch der Mensch nicht von der Macht entfernen. Das ist das Konzept des Gottgnadentums. Diese Vorstellung wurde allerdings von früheren Herrschern Ordaniens missbraucht, um das Volk zu unterdrücken und um falsche Ideen in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Es ist noch nicht so lange her, dass die fast 400 Jahre lang währende Dynastie der teuflischen Melgarionen endlich gestürzt wurde. Diese benutzen Hexerei, um die Gedanken der Menschen zu manipulieren und an der Macht zu bleiben. Sie bezeichneten den ersten Hexerkaiser Melgar, oder „Melgarus“, als den „von Gott Erkorenen“. Das bedeutet so viel wie auserwählt, für alle die das nicht wissen. Ein Hexer machte sich zum Kaiser und ließ sogar die Zeitrechnung seines Reiches mit seiner Machtergreifung beginnen. Welch ein dunkler Fleck in unserer Geschichte! Doch die Wahrheit ist nur mit Gott und Gott allein. Und am Ende siegt immer die Wahrheit. Dies geschah vor achtzig Jahren, als das Herrscherhaus der Sorenstein der unrechten Herrschaft endlich ein Ende bereitete. Die Probleme sind aber noch nicht vorbei. Es gibt immer noch Einige, die an die falschen Lehren der Melgaristen und ihrer verlogenen, sogenannten Kirche glauben. Das zu beseitigen wird noch viele Jahrzehnte dauern.“

Peter hob seine Hand. Der Lehrer ließ ihn seine Frage stellen: „Aber war nicht die Kirche, die Melgar ins Land brachte, die Erste? Davor war doch nur irgendein polytheistischer Glaube in Ordanien oder?“

„Vor dem Teleiotismus gab es nur irgendwelche absurden Vielgötterglauben hier, ja. Aber unsere heutige Kirche, die Alethische Kirche, hat es schon immer, seit dem ersten Aufkommen des Teleiotismus gegeben. Sie verbreitete sich in Ordanien gleichzeitig mit der anderen, der falschen Melgaristenkirche, welche dann alles, außer sich selbst, verbieten ließ und verfolgte“, antwortete der Lehrer.

Peter dachte einen Moment nach und bevor der Lehrer weitermachen konnte, zeigte er schon wieder auf. Genervt nahm ihn der Lehrer nochmal dran. „Aber ist nicht die Heiligenverehrung auch ein Bestandteil der „Melgaristenkirche“, wie Sie sie nennen? Würde das nicht heißen, dass das, was die Gläubigen in Camenia zum Beispiel machen, auch ketzerisch ist. Bei uns werden nämlich überall Heilige verehrt.“

Damit schien Peter unseren Lehrer eindeutig verärgert zu haben. Das war an seiner Haltung und seinem Blick klar erkennbar. Er fasste sich kurz und antwortete dann: „Diese alte Praxis der Heiligenverehrung wird von der Alethischen Kirche als ketzerisch verurteilt, ja. Und das ist richtig so! Diese sogenannten Heiligen, waren fast alle Hexer des Geschlechts der Melgarionen. Die Sache ist nur die, dass sich diese Praxis eben so lange schon eingenistet hat und nicht von heute auf morgen entfernt werden kann.“

Peter entgegnete, dass er nicht sehen könnte, wie es jemals möglich wäre diese Dinge aus den Kirchen in Camenia zu entfernen. „Gibt dem Ganzen Zeit“, war alles, was der Lehrer darauf antwortete. Nichts von all dem war Wenzel bisher bekannt. Er interessierte sich auch nicht wirklich dafür, aber Peter schien, doch etwas beleidigt auf den Lehrer gewesen zu sein, wegen dem was er gesagt hatte. Anscheinend war Religion etwas sehr Wichtiges für die Camenier. Und nicht nur die. Auch hier in Ordanien hörte man ständig nur von solchen Dingen. Wenzel hängte dies beim Hals hinaus. Sollten doch alle glauben, was sie wollen!