Von diesem Tag an verbrachten Wenzel und Peter immer mehr Zeit miteinander. In der Klasse saßen sie immer zusammen und in den Pausen quatschten sie miteinander, wobei Wenzel interessiert daran war, von seinem Freund zu hören wie das Leben in Camenia denn so war. Anscheinend waren die Sommer dort superheiß und im Winter gab es keinen Schnee. Sogar Palmen wuchsen dort! Das würde Wenzel auch gerne mal sehen! Er erzählte von den Sommern, die er immer bei seiner Tante verbrachte, die ein Weingut besaß und wie er als Kind ihre Gänse zum Spaß durch den Hof gejagt hatte. Wenzel wollte da hingegen fast gar nichts von seiner Kindheit erzählen. Bei seinen Eltern hatte er sowieso immer nur zweite Geige gespielt…
Nach dem Unterricht wollten die beiden dann noch zusammensitzen und plaudern. Aber, um später als sonst „nach Hause“ in sein Zimmer zu kommen, musste Wenzel seinen Bruder um Erlaubnis fragen. So ging er zu Aurel und fragte, ob er mit einem Freund nach dem Unterricht noch in der Schule bleiben konnte, um „Hausübung zu machen und zu lernen“.
Als er das hörte runzelte Aurel die Stirn. „Mit einem Freund? Der Winzel hat einen Freund?“, fragte er mit verwundertem Ton. Dann überlegte er kurz und sagte schließlich: „Es ist der Neue, oder? Du weißt schon: schwarze Haare, Seitenscheitel, Brille. Spricht nicht richtig Ordanisch.“ – „Ja, das ist er. Er heißt Peter“, antwortete Wenzel. „Hast dir wohl genauso einen Versager wie dich gefunden!“, kam es von Aurel. Wenzel hielt seinen Zorn zurück und zeigte ihn nicht. Peter war kein Versager, er war ein guter Schüler…..im Gegensatz zu Wenzel. Anfangs war Aurel der Idee nicht gerade zugeneigt. Doch er erlaubte es schließlich unter der Bedingung, dass Wenzel vor fünf Uhr nach Hause kam. Und er persönlich würde des Öfteren vorbeischauen, um zu kontrollieren, ob Wenzel auch tatsächlich seine Hausaufgaben machte und nicht irgendwas anderes. Als Wenzel das hörte war er gleichzeitig erfreut und ein wenig enttäuscht. Er hatte sich schon gedacht er könnte die Zeit nutzen, um weg von all der furchtbaren Arbeit für die Schule zu kommen. Naja, zumindest musste er nicht mehr nur allein in seinem Zimmer sitzen.
Jetzt hatte er tatsächlich einen Freund. Und für ihn war Peter sein bester….naja, und auch sein einziger Freund, wenn man mal den Herr Albrecht ausnimmt. Herr Albrecht war der einzige Lehrer der nett zu ihm war und der ihm zuhörte, aber dieser war natürlich kein „Freund“ für ihn in diesem Sinne, mit dem er alles teilen konnte. Ein Erwachsener würde ihn nicht verstehen, doch Peter schon. Für Peter hingegen war Wenzel nicht sein einziger Freund, er hatte auch ein Mädchen aus einer Klasse unter ihnen, eines, das auch camenische Wurzeln hatte, mit dem er reden konnte. Dennoch Wenzel wuchs eindeutig zu seinem wichtigsten Freund heran. Insgesamt hatte Peter aber auch kaum Freunde und war fast schon so aussetzig wie Wenzel in der Klasse. Aber, und das ist das Wichtige hier, er würde künftig Wenzel vor den Hänseleien anderer beschützen.
Als sie einmal beim Mittagessen saßen, rutschte Peter näher zu ihm heran und flüsterte leise zu ihm herüber: „Was ist mit Amalie? Willst du sie nicht einmal ansprechen?“ Beinah schockiert, wusste Wenzel nicht, was er sagen sollte, und stammelt nur irgendwas daher. Ja. So sah’s aus. Peter hatte Wenzels Gefühle durchschaut und zwar nur anhand seiner Blicke, die er ihr zufallen ließ. Nun versuchte er Wenzel zu überzeugen sie anzusprechen, doch dieser verweigerte vehement. „Komm schon! Du musst nur den ersten Schritt wagen. So schwer ist es wirklich nicht!“, versuchte er ihn zu animieren. Doch Wenzel war stur wie ein Esel…. oder eher feige. Bei seinem Ruf in der Schule war bezüglich so einem Unterfangen sowieso Hopfen und Malz verloren. Zumindest war das Wenzels Überzeugung.
Peter war anderer Meinung. Er versuchte Wenzel von Tisch wegzuziehen, also ihn mit Gewalt auf die Beine zu zwingen und zum Handeln zu bewegen. Wenzel wehrte sich und hielt sich an seinem Tisch mit aller Kraft fest. „Nein!“, war es laut von ihm zu hören. Als daraufhin die anderen Schüler auf sie herüberzuschauen begannen, gab Peter seinen Versuch auf. Bald schon überlegte er sich was anderes.
Stattdessen schlug er Wenzel vor ihr einen Brief zu schreiben und diesen in ihre Tasche zu schummeln, wenn sie in der Pause Klasse wechselten. Dafür wäre keine öffenltliche „Zurschaustellung“ nötig. Nach kurzer Überlegung stimmte ihm Wenzel zu. Er setzte sich hin und schrieb Amalie einen Liebesbrief. Wenzel mochte diesen Begriff nicht und er war furchtbar darin seine Gefühle in Worte zu fassen, doch er versuchte es so gut es ging. Als dann zum Ende einer Stunde alle ihre Sachen zusammenpackten war Wenzel ausnahmsweise schneller als die anderen, damit er, während er das Klassenzimmer verließ, im Vorbeigehen den Brief unauffällig in die offene Tasche Amalies platzierte konnte. Sein Unterfangen glückte. Nun musste er nur noch warten, wie Amalie darauf reagieren würde. Er dachte sich, warten wir mal ab. Eines war ihm allerdings nicht bewusst:
Eine Antwort würde niemals kommen.
Nur einige Tage darauf würde die Klasse einen Geographietest haben. Wenzels aktueller Notenstand in diesem Fach war …..besorgniserregend. Deshalb setzten er und Peter sich zwei Tage davor zusammen, um für den Test gemeinsam zu lernen. Zuerst erledigten sie nur noch schnell die Hausübung, ein Prozess, der folgende Form annahm: Peter machte die Hausübung und Wenzel schrieb diese, leicht verändert, ab. Dann lernten sie gemeinsam ein paar Dinge für den Test. Peter betonte immer wieder wie „leicht“ diese eigentlich waren. „Lässt sich leicht sagen, wenn man klug ist“, dachte sich Wenzel da nur. Es ging darum die wichtigsten Länder, Städte, Gewässer und Gebirge in Kaphkos nennen zu können. Auf dem Kontinent Kaphkos, welcher fast zur Gänze vom Ordanischen Bund eingenommen wurde, gab es 5 wichtige Länder: das kalte Corakien im Norden, die stürmische Zeemark im Westen, das warme Camenia im Süden, das raue, gebirgige Kascharovar im Osten und Nordosten und mittendrin Ordanien mit seinen weiten Ebenen und Vier-Jahreszeiten-Klima.
Wenzel hatte keine Probleme sich die Länder und wo sie waren zu merken, aber, wenn es darum ging Karten zu lesen und Flüsse, Berge und Städte zu finden, sah es bei ihm schon übel aus. Nur eine Stadt konnte er immer zuverlässig verorten: Seine Heimatstadt, oder eher die Stadt, in der er aufwuchs, Meglarsbruck und den Strom an dem sie lag, den Duhn. Darum übte er nun stundenlang mit Peter, um die Orte und Landschaften richtig zu benennen. Es war eine Tortur. Die Isaraberge als das höchste Gebirge in Kaphkos waren in Kascharovar, aber, weil dort so viele Berge waren, deutete Wenzel immer auf die falschen Berge auf der Karte. Auch den genauen Ort, wo sie die Hauptstädte der jeweiligen Länder befanden, hatte er immer und immer wieder falsch. Am Ende des Tages konnte er zumindest ein paar Orte in Ordanien und Camenia benennen, weil deren Namen ihm am besten im Gedächtnis hängen blieben.
If you encounter this narrative on Amazon, note that it's taken without the author's consent. Report it.
Vom vielen Lernen ermüdet schaute Wenzel auf die Uhr, sah aber, dass es erst vier Uhr war. Sie hatten noch eine Stunde Zeit. Dann, aus dem Nichts heraus, stellte ihm Peter plötzlich die wichtigste Frage, die er ihm jemals gestellt hatte: „Du, Wenzel! An manchen Nachmittagen, wenn du einfach total fertig von der Schule bist, gehst du wo hin und danach geht’s dir offensichtlich tausendmal besser. Was geht da vor sich? Hast du irgendeine Art Krankheit?“ Wenzel, eindeutig überrumpelt von dem, was Peter soeben gefragt hatte, starrte ihm mit leerem Blick in die Augen, wandte sie aber gleich wieder ab. Was für eine Ausrede könnte ihm so auf die Schnelle einfallen? In Wenzels Kopf war nur gähnende Leere. Er war ja auch müde vom langen Lernen. Sein Blick schweifte zum Fenster hinaus, wo jetzt draußen alle Blumen in voller Blüte standen und das saftige Grün der sprießenden Pflanzen zu sehen war. „Wenzel?“, adressierte er ihn in einem etwas besorgten Ton. Er antwortete nicht. Weiterhin den Blick auf die Natur fixiert habend, war nichts von ihm zu hören. Die Singvögel zwitscherten im Hintergrund.
……….
„Du glaubst an Magie, oder?“, begann Wenzel seine Antwort. Ja, das geschah nun in der Tat. Wenzel fuhr fort, ihm über seine Magie und das Amulett zu erzählen. Der Hauptgrund dafür war ganz einfach, weil er Peter vertraute. Unbewusst in seinem Hinterkopf dazu beigetragen hatte natürlich auch sein Bewusstsein, dass Peter anscheinend keine Abneigung gegenüber der Heiligenverehrung, also der Verehrung von Magiern, hatte. Zu sagen, dass Peter davon überrascht war, was er nun erfahren hatte, wäre wohl eine massive Untertreibung. Dennoch, er glaubte Wenzel nicht zur Gänze! Jedoch gab er ihm einen Vertrauensvorschuss und behandelte alles, was Wenzel sagte als ob es wahr wäre. Außerdem versprach er es niemandem weiter zu verraten.
„Also, deine Magie ist in einem Amulett?“
„Ja.“
„Und warum willst du es nicht einfach zurückstehlen, zumindest, wenn es nicht auffällt?“
„Ich …..das konnte ich bisher nicht. Ich habe sogar schon mal eine Wette mit Aurel gemacht, dass ich es dauerhaft zurückbekomme, wenn ich ihn im Weitwurf besiegen kann.
„Im Ernst? Warum hast du sie dann nicht angenommen?“
„Hab ich doch! Ich hab sie sogar gewonnen. Obwohl, ich mir sicher bin, dass Aurel mich nur gewinnen hat lassen. Als ich den Stein dann bekam, bin ich, so wie immer aus den Latschen gekippt und, als ich nicht geistig anwesend war, hat Aurel mir den Stein wieder weggenommen!“
„Also hast du gar keine Kontrolle?“
„Doch, die hab ich! Zumindest jetzt. Ich war es halt nicht gewohnt in meinem „normalen“ Zustand zu sein. Aber ich hab jetzt schon lange Zeit geübt und kann mich jetzt zusammenreißen.“
Peter überlegte einen Augenblick, gab Wenzel dann aber die Empfehlung das Amulett nicht zu stehlen. Er würde damit nämlich nur Probleme mit allen Leuten, die er um sich hatte, erzeugen.
„Wenn du nicht vorhast wegzulaufen, dann würde ich es sein lassen. Du bekommst sonst nur Ärger.“
Wenzel hatte nicht vor davonzulaufen. Er wüsste ja nicht mal wohin. „Ja, du hast recht“, bescheinigte er seinem besten Freund.
Den Test, den sie zwei Tage später hatten bestand Wenzel! Er war nur haarscharf nicht durchgefallen, doch hatten die paar Orte in Ordanien und Camenia, die er richtig benennen konnte den Unterschied ausgemacht! Sein Lehrer in dem Fach war zwar auch Herr Albrecht, der ihn (höchstwahrscheinlich) gnädigerweise bestehen hatte lassen, doch es war ein kleiner Sieg für ihn, nichtsdestotrotz. Wenzel nahm, was er kriegen konnte.
Bald schon aber würde Wenzel tatsächlich das Amulett von Aurel entwenden! Nein, er würde es nicht dauerhaft stehlen und er hatte nicht vor wegzulaufen, obwohl er es hier hasste. Es war spät in der Nacht und Aurel war so tief am Schlafen, dass er einen ganzen Wald mit seinem Schnarchen umsägte. Wenzel, schlich langsam zu ihm hinüber und stahl seine Seele aus der obersten Schublade dessen Nachtkästchens. Er wollte nur die Entspannung, wieder ganz zu sein, wenigstens für ein paar Stunden haben. Das war definitiv riskant! Wenn er einschlafen würde, was sehr gut möglich war, weil es finsterste Nacht war, würde ihn Aurel am nächsten Morgen mit dem Stein in Händen auf frischer Tat ertappen. Das durfte ihm auf keinen Fall passieren! Somit strengte sich Wenzel sehr an, nicht einzuschlafen. Er war hundeelendsmüde, doch konnte sich mit großer Anstrengung wachhalten. Den Effekt, dass seine üblichen Kopfschmerzen und Kraftlosigkeit verschwanden, erreichte er trotzdem.
Dann fühlte sich Wenzel plötzlich federleicht. Über dem Boden schwebend blickte er um sich: Er war umgeben von schwarzen Scherben, unzählbar vielen. Wenzel drehte sich herum und schaute neben sich und hinter sich. Ein riesiges Meer an Scherben befand sich rings um ihn herum. Egal wohin er blickte ein endloses Scherbenmeer erstreckte sich in alle Richtungen. Auf einigen der großen Scherben, die mannshoch waren, hingen purpurne Fetzen. Wenzel kam näher zu einem heran, um ihn genauer zu betrachten. Eine leichte Brise erfasste den Fetzen, der wie von einem Umhang aussah, und verwehte ihn. In diesem Moment verwandelten sich die Scherben plötzlich zu Stein, aber nicht irgendeine Art von Stein. Es waren ein Haufen Ziegel und andere Steine, Holzbalken, Stäbe Werkzeuge, Möbel und andere Dinge die plötzlich überall verstreut lagen. Wenzel stand inmitten von Häuserruinen. In der Ferne waren Schreie und Wimmern zu hören. Mit seinem linken Fuß trat Wenzel, als er sich umdrehte, um sich umzuschauen, in eine Pfütze. Überall um ihn herum war nur Zerstörung. Wenzel hatte ein sehr übles Gefühl. Diese Szene war so real, als wäre er wahrhaftig an diesem Ort gestanden.
Doch plötzlich riss es ihn heraus aus dem Moment und er öffnete seine Augen. Wenzel blickte auf die dunkle Decke seines Zimmers. Als er hinüberblickte, sah er Aurel im Nachbarbett schlafen. Dieser schnarchte immer noch. Ja, Wenzel hatte wieder sein Bewusstsein verloren, aber er war anscheinend nur kurz weggewesen. Eines war er sich sicher: Dies war eine Zukunftsvision gewesen. Was er mit diesem Wissen anfangen sollte, wusste er nicht. Somit verbrachte er dann noch eine weitere Stunde mit seiner Seele, hatte aber keine weitere Vision mehr. Dann gab er das Amulett unbemerkt zurück.