Am nächsten Morgen erwachte Moreen mit verquollenen Augen und einer triefenden Nase. Zudem hatte sie einen rauen Hals und ihre Ohren fühlten sich an, als wären sie mit Watte zugestopft. Die Unterkühlung vorgestern hatte ihr eine schwere Erkältung eingebrockt.
Baron Eòghann warf ihr während des gemeinsamen Frühstücks finstere Blicke zu, hielt ihr aber zumindest keine Standpauke ob ihres unvorsichtigen Benehmens und der daraus resultierenden Erkrankung.
Moreen schlürfte einen mit Honig gesüßten heißen Kräutertee, der immerhin ihre Halsschmerzen und den Druck in ihren Ohren linderte. Sie hörte aber immer noch alle Geräusche wie durch eine dicke Daunendecke.
Derweil wurde sie von ihrer Mutter aufdringlich, aber irgendwie lieblos umsorgt mit einer Salbe für ihre wunde Nase, einem Fläschchen mit Pfefferminzöl, das die Schwellung ihrer Schleimhäute lindern sollte, einem halben Dutzend spitzenbesetzter Taschentücher. Erst als das kleine Täschchen, das Moreen mitnehmen sollte, kaum noch zu schließen war, setzte sich ihre Mutter ebenfalls an den Tisch und beschränkte sich in ihrer Fürsorge auf einen nicht enden wollenden Strom an guten Ratschlägen, Ermahnungen und dem neuesten Klatsch über das ‚Leben an Hofe‘, wie sie es ausdrückte.
Für heute waren die Registrierung und Einweisung der Kandidaten angesetzt, diese durfte sie auf gar keinen Fall versäumen, sonst könnte sie gleich wieder unverrichteter Dinge abreisen. Und es war eher die Ausnahme, dass Kandidaten noch eine zweite Einladung bekamen, wenn sie die Erste nicht hatten wahrnehmen können.
So fügte Moreen sich in ihr Schicksal, zog ihre zweitbeste Robe an — die Beste war natürlich für den großen Ball reserviert — und versuchte, ihre rot leuchtende Nase unter einer dicken Schicht Puder zu verbergen. Dann trank sie noch eine Tasse Tee und machte sich zu guter Letzt auf zum königlichen Palast und dem großen Ballsaal.
Moreen hatte befürchtet, sich in den Weiten des Palastes zu verlaufen und den Ballsaal nicht rechtzeitig zu finden. Fast nichts wäre peinlicher, als zu spät zu dieser ersten Veranstaltung zu erscheinen. Aber sie hatte sich umsonst gesorgt, ein veritabler Strom junger Adeliger strebte in Richtung Saal, und Moreen ließ sich einfach mit ihnen treiben.
Im kahlen Ballsaal versammelten sich nach und nach die Debütanten des diesjährigen Mittsommerballs und erfüllten den Raum mit Leben und munterem Geplauder. Moreen schätzte, dass sich dieses Jahr mehr als 40 Kandidaten um die begehrten Plätze an der Magierschule streiten würden, deutlich mehr als letztes Jahr mit gerade einmal 22 Bewerbern. Und zu allem Überfluss mussten sie auch noch gegen den übermächtigen Kronprinzen antreten, dem man immense Fähigkeiten nachsagte. Immerhin würde er keinem Mitbewerber einen Platz streitig machen, sondern sie nur alle kläglich neben seinen Glanzleistungen aussehen lassen. Prinz Arlyn wäre zwar die Aufnahme in die Schule sicher, aber er würde natürlich am königlichen Hof bleiben und von Privatdozenten weiter ausgebildet werden.
Zu festlichen Anlässen war der Saal immer reich geschmückt mit wertvollen Wandbehängen und aufwändig gedeckten Tischen beiderseits der zentralen Tanzfläche. Heute war der Saal trist und leer bis auf eine Reihe Banner auf Standarten am anderen Ende, die die Zeichen der verschiedenen magischen Disziplinen zeigten. Ein Banner stach aus der bunten Sammlung heraus und Moreen fragte sich, was die einheitlich weiße Fläche versinnbildlichen sollte.
Moreen gesellte sich zu einer Gruppe junger Mädchen, die wie sie selbst aus entlegeneren Teilen des Königreichs angereist waren und die sie flüchtig von früheren gesellschaftlichen Ereignissen kannte. Sie nickte den anderen kurz zu, beteiligte sich aber nicht an deren oberflächlichen Unterhaltung über die ‚skandalösen‘ Ereignisse auf dem letzten Mittsommerball.
Zu guter Letzt betraten zwei Männer den Ballsaal, die in ihrer äußeren Erscheinung unterschiedlicher nicht hätten sein können. Moreen musterte die beiden verstohlen.
Der eine war herausgeputzt wie ein Pfau und stolzierte mit einem geschnitzten und vergoldeten Stab herein, der ihn als Hofmarschall auswies. Der andere war in eine schlichte mitternachtsblaue Robe gehüllt, einziges Zeichen seines hohen Ranges als Magier waren die verschlungenen Tätowierungen, die sich um seine Augen rankten und so ausgedehnt waren, dass sie beinahe die gesamte obere Hälfte seines Gesichts bedeckten. Dann sah sie genauer hin und bemerkte das aufwändige Muster von Runen und Hieroglyphen, die in den Stoff der Robe eingewebt waren und im wechselnden Licht fast nicht auszumachen waren.
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Der Hofmarschall baute sich vor den Probanden auf und stieß mit seinem Stab dreimal auf den Boden, um die Versammlung zur Ruhe zu bringen. Er verharrte einige Augenblicke, bis im ganzen Saal ehrfürchtige Totenstille eingekehrt war, dann verkündete er mit weit tragender Stimme: »Ich bin Hofmarschall Ohlrich und für alle höfischen Belange hier zuständig, unter anderem Ihre Unterbringung und Verpflegung sowie für die Organisation der diversen Unterweisungen und Prüfungen, denen Sie sich unterziehen werden.
Hier neben mir steht der weithin bekannte und angesehene Leiter der Magierschule, Meister Cedrik. Er wird Ihnen alles weitere erläutern.« Ohlrich wies mit ausladender Geste auf den Magier und zog sich ein paar Schritte zurück.
Meister Cedrik trat mit vor der Brust verschränkten Armen nach vorne und räusperte sich umständlich. »Meine jungen Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, Sie als potentielle Kandidaten für eine Ausbildung an unserer Schule begrüßen zu dürfen.
Wie Sie sicherlich bereits wissen, dienen die anstehenden Prüfungen nicht nur dem Zweck, den Umfang Ihrer magischen Fähigkeiten festzustellen und damit Ihre zukünftige Laufbahn und Ihren Platz in der Hierarchie der Adelsfamilien zu bestimmen, sondern aus Ihrer Mitte werden auch besonders vielversprechende Talente für eine Ausbildung zum Magier oder zur Magierin ausgewählt.«
Meister Cedrik machte eine kurze Pause und blickte erwartungsvoll in die Runde.
Alle Probanden hingen gebannt an seinen Lippen. Ihnen war die Bedeutung ihres Abschneidens bei den Prüfungen für die finanzielle und politische Zukunft ihrer Familien nur zu bewusst.
Moreen wischte wiederholt ihre Nase an dem Spitzentüchlein ab, dass sie eigens für diesen Zweck in einem der weiten Ärmel versteckt bei sich trug. Das Tüchlein war mittlerweile völlig durchgeweicht und weitgehend nutzlos. Mit Entsetzen sah sie, dass wohl das meiste von dem Puder auf dem Tuch verschmiert war und ihre Nase dementsprechend wieder ungetrübt rot leuchten musste. Rasch ließ sie das Tüchlein wieder in ihrem Ärmel verschwinden und blickte auf zu dem Magier.
»Während der kommenden Woche werden Sie — soweit erforderlich — in einigen grundlegenden Techniken der Magie unterwiesen«, fuhr Cedrik schließlich fort. »Während dieser Zeit werden die Instruktoren sich bereits ein Bild Ihrer Fähigkeiten und Neigungen machen können, so dass die eigentlichen Prüfungen nur noch eine Bestätigung dieser ersten Eindrücke sind.«
Cedrik hob die Hand, um dem einsetzenden erleichterten Gemurmel der Versammelten Einhalt zu gebieten. »Dennoch sind diese Prüfungen von essentieller Bedeutung, da erst dann das Ausmaß Ihrer Begabung objektiv ermittelt wird und somit Ihre zukünftige Laufbahn festgelegt wird. Sie sollten diese also nicht auf die leichte Schulter nehmen und sich so gut darauf vorbereiten, wie Ihnen dies in der kurzen Zeit bis dahin möglich ist.«
Moreen ließ bedrückt den Kopf hängen. Naturgemäß hatten die Söhne und Töchter der einflussreicheren und wohlhabenderen Familien bereits seit geraumer Zeit Unterricht im Gebrauch ihrer Magie erhalten, zum Teil schon seit vielen Jahren. Dies war zwar seitens der Magierschule nicht gerne gesehen, deren Leiter hatte aber keine Handhabe gegen die Privatdozenten. Die so privilegierten Zöglinge hatten hierdurch einen entscheidenden Vorteil gegenüber denjenigen, die keine derartige Förderung ihrer magischen Talente genossen hatten.
Ihre Eltern hatten nicht einmal die Mittel für einen ‚normalen‘ Lehrer aufbringen können, geschweige denn für einen weitaus kostspieligeren Tutor für eine Ausbildung in Sachen Magie. Statt dessen hatte Moreens Mutter ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Später hatte Moreen sich mit Duldung ihres Vater durch die bescheidene Hausbibliothek gelesen und begierig alles aufgesaugt, was sie über Politik, Geschichte und sogar Kriegskunst erfahren konnte. Aber all dies war kein Ersatz für das umfangreiche Training ihrer Fähigkeiten, das die Kandidaten aus der Oberschicht erhalten hatten.
»Hofmarschall Ohlrich wird jetzt eine Liste verlesen mit Ihren Namen. Wenn Sie aufgerufen werden, treten Sie bitte vor und legen Ihre beiden Hände um den Elbenstein hier.« Er hielt einen milchig-weißen Stein von der Größe eines Hühnereis hoch. »Dies wird mir eine vorläufige Einteilung nach Fähigkeiten und Neigungen in den magischen Disziplinen ermöglichen.« Meister Cedrik legte den Elbenstein auf einen kleinen Tisch. Dann trat er zurück und überließ Ohlrich das Wort.