Meister Cedrik führte sie durch verwinkelte Gänge und Korridore. »Wir nehmen ein paar Abkürzungen, dann sind wir schneller in den Räumen der Akademie.«
Moreen hatte schon bald völlig die Orientierung verloren, während Prinz Arlyn sich offensichtlich einigermaßen zurecht fand. Er beäugte allerdings interessiert einige der unscheinbaren Türen und Durchgänge, die Cedrik wählte.
»Meister Cedrik, Ihr kennt das Schloss wie Eure eigene Westentasche«, bemerkte Arlyn bewundernd, »obwohl Ihr nur ein paar Wochen im Jahr in Taboron weilt. Wie kommt das?«
Cedrik schmunzelte. »Euer werter Vater hat mir vor vielen Jahren einmal Einsicht in die Baupläne von Greifenhorst gewährt, und ich habe ein gutes Gedächtnis. Aber ich muss hin und wieder feststellen, dass mich entweder meine Erinnerung trügt oder dass die Pläne nicht ganz mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmen — oder Eure Baumeister haben noch ein paar Änderungen vorgenommen seit meinem letzten Aufenthalt hier.
So, hier sind wir!« Cedrik öffnete eine weitere unscheinbare Tür, und sie fanden sich im weiten Korridor der Akademie der magischen Künste wieder. Moreen konnte sich an den lichtdurchfluteten, von marmornen Büsten gesäumten Gang gut von ihrer gestrigen Führung durch das Schloss erinnern.
Cedrik steuerte auf eine Türe schräg gegenüber zu, an der ein kunstvolles Schild mit goldenen Lettern prangte.
Moreen benötigte einige Augenblicke, um die verschlungenen Buchstaben zu entziffern. ‚Meister Cedrik, Dekan‘ stand dort geschrieben. Moreen hielt erschrocken die Luft an und verkrampfte sich wie vom Donner gerührt. Sie sollte vom Leiter der berühmten Magierschule höchstpersönlich geschult und geprüft werden? Und mit niemandem geringeren als dem Kronprinzen als einzigem Mitbewerber in der Gruppe? Das konnte ja heiter werden. Vor allem würde sie niemanden haben, mit dem sie sich unterhalten könnte — die Ablehnung aller anderen Kandidaten hatte sie ja schon beim Frühstück gerade eben zu spüren bekommen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit Prinz Arlyn ins Gespräch käme, auch wenn er beim Frühstück ganz umgänglich gewirkt hatte. Ganz abgesehen davon, dass sie sich mit ihm nicht über ihre Probleme unterhalten könnte, ohne sich in Grund und Boden zu schämen…
Cedrik öffnete die Türe zu seinen Räumen mit einem Schlüssel, den er nach längerem Suchen aus einer der vielen verborgenen Taschen in seiner Magierrobe zog. »Entschuldigt bitte die Umstände, aber ich würde euch beide gerne etwas abseits des allgemeinen Trubels ein paar Fragen stellen.«
Moreen sah Meister Cedrik beunruhigt an. »Werden etwa nicht alle Kandidaten gleich behandelt und den gleichen Prüfungen unterzogen?«, fragte sie schon fast vorwurfsvoll.
»Immer mit der Ruhe, meine Liebe. Natürlich werden nicht alle Probanden das selbe Rigorosum durchlaufen. Schließlich verfügt jeder einzelne von euch über individuelle Fähigkeiten und Begabungen, und es wäre eine Schande, diese nicht optimal — für den Probanden und für die Gemeinschaft — zu fördern und zu nutzen.
Bitte, tretet ein!« Cedrik schloss die Türe hinter ihnen und geleitete sie zu seinem Schreibtisch, auf dem sich Schriftrollen und Bücher türmten. Vor dem Tisch standen zwei Stühle, deren Sitzflächen aber ebenfalls von Bücherstapeln belegt waren. Hastig räumte Cedrik die Bücher weg und türmte sie auf dem Boden neben dem Schreibtisch auf, wo sich bereits etliche Dutzend Bände angehäuft hatten und das Durchkommen schier unmöglich machten. Cedrik räusperte sich und lächelte fast ein wenig verlegen. »Bitte, nehmt Platz. Wie ihr sicherlich bemerkt habt, habe ich nicht allzu oft Gäste hier.«
Er schaffte es, sich zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch hindurchzuzwängen, ohne einen der gefährlich schiefen Büchertürme umzureißen, und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer hineinfallen. Er stützte die Ellbogen auf den Armlehnen auf und faltete die Hände unter seinem Kinn.
Moreen setzte sich und wand unter Meister Cedriks stechendem Blick nervös die Hände in ihrem Schoss. Unter ihren langen Wimpern hervor musterte sie den Magier verstohlen.
Neben ihr nahm Prinz Arlyn Platz, schlug die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Er schien der Befragung gelassen entgegenzusehen, wahrscheinlich hatte er all die Fragen bereits zigfach beantwortet.
Cedrik wandte sich zu Moreens Erleichterung dem Prinzen zu. »Nun, Hoheit, über Euch weiß ich natürlich schon alles — zumindest, was Eure magischen Fähigkeiten anbelangt. Bitte schildert mir dennoch kurz, was Ihr Euch von den nächsten beiden Wochen erwartet.«
Arlyn antwortete ohne zu zögern. »Ich werde mich mit Eurer Hilfe auf die Prüfungen vorbereiten und dann meine magischen Fähigkeiten bestätigen lassen, insbesondere das Ausmaß meiner Gabe als Seher.«
»Gut.« Cedrik nickte bedächtig. »Nun zu dir, meine Liebe. Über dich wissen wir so gut wie gar nichts, außer dass auch in dir magische Fähigkeiten schlummern. Wahrscheinlich weißt du aber selbst nicht so genau, welche Disziplin dir am meisten liegt. Auch aus diesem Grunde bist du jetzt hier.
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Bitte beschreibe mir kurz, welcher Art deine Begabung ist.«
Moreen zögerte. Sie hatte wiederholt versucht, ihren Eltern ihre sonderbare Gabe zu beschreiben, aber diese hatten ihre Äußerungen immer als Unfug oder Hirngespinste abgetan. Nun wagte sie nicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie wollte nicht wieder als Spinnerin abgetan werden. Aber sie hatte keine andere Wahl, Meister Cedrik würde sicherlich bemerken, wenn sie die Unwahrheit sagte. Unglücklich und wortlos starrte sie den Magier an.
»Keine Angst, meine Liebe«, versuchte Cedrik sie zu trösten. »Dies ist nur ein vorbereitendes Gespräch, damit wir dich und deine Begabung besser einschätzen und fördern können.« Er nickte ihr ermutigend zu.
Moreen atmete tief durch und schilderte ihre ersten Erfahrungen mit ihren magischen Fähigkeiten. »Ich konnte schon immer sehr gut erkennen, in welcher Stimmung meine Eltern und die anderen Bewohner der Burg waren. Aber meine Mutter hat das immer als besondere Einfühlsamkeit abgetan, und mein Vater hat mir gar nicht zugehört, wenn ich meine Fähigkeiten zur Sprache brachte. Er hat entweder das Thema gewechselt oder mich komplett ignoriert und den Raum verlassen.«
Cedrik nickte bestätigend. »Das ist eine häufige Reaktion von Menschen, die selbst über keinerlei Fähigkeiten verfügen. Sie können einfach nicht verstehen, wie die Dinge möglich sind, die jemand mit magischer Begabung vollbringen kann. Und das versetzt sie in Furcht. Ihre Ablehnung ist einfach eine Art Selbstverteidigung. Aber deine Eltern verfügen beide über zumindest rudimentäre magische Fähigkeiten, daher ist ihre Reaktion eigentlich verwunderlich. Obwohl dein werter Herr Vater zugegebenermaßen ein besonderer Fall ist…«
Moreen war erleichtert. Endlich konnte sie jemandem von ihren Erlebnissen erzählen, der ihr zur Abwechslung einmal zuhörte und auch zu verstehen suchte, was ihr widerfahren war. »Im Alter von etwa zehn Jahren konnte ich erkennen, wenn jemand sich eine Verletzung zugezogen hatte.«
Cedrik richtete sich alarmiert in seinem Lehnstuhl auf. »Wie das? Konntest du seine oder ihre Schmerzen spüren? Dann wärst du eine Telepathin, das ist eine sehr seltene — und gefährliche — Begabung.«
Moreen zuckte erschrocken zusammen. »Nein, nichts dergleichen. Ich sah nur den verletzten Körperteil in einem rötlichen Licht schimmern, sonst nichts. Aber ich konnte sogar innere Verletzungen erkennen, einen verstauchten Knöchel etwa, noch bevor eine Schwellung oder Verfärbung auf der Haut zu sehen war.«
Cedrik rieb sich nachdenklich das Kinn, blickte zur Decke und murmelte halblaut vor sich hin. »Das ist sonderbar. Mir ist keine derartige Fähigkeit bekannt, aber am ehesten gehört das in den Bereich der Heiler. Ich muss morgen unbedingt mit Sheridan sprechen und eine Sitzung mit ihm vereinbaren.«
Er wandte sich wieder Moreen zu. »Welche magischen Fähigkeiten hast du sonst noch? Kannst du Dinge bewegen, ohne sie zu berühren?«
Moreen schüttelte den Kopf.
»Feuer entfachen? Feuerbälle schleudern? Das Wetter beeinflussen? Wind? Blitze? Kälte oder Eis erzeugen?«
Moreen verneinte wiederholt.
Cedrik dachte kurz nach. »Tiere beschwören? Ihre Sprache verstehen? Hmm…
Tote — ahem — mit Toten in Kontakt treten? Sie gar wieder zum Leben erwecken?«
Moreen schüttelte entsetzt den Kopf. »Das ist doch verboten!«, stammelte sie und blickte fragend zu Prinz Arlyn hinüber.
Dieser lümmelte weiter bequem in seinem Stuhl und verfolgte die Unterhaltung eher gelangweilt.
»Und mit gutem Grund!«, entgegnete Cedrik. »Bisher haben noch alle, die sich auf Nekromantie eingelassen haben, ein schlechtes und furchtbares Ende gefunden. Weiter…
Wie steht es mit Illusionen? Auch nicht.
Beschwörungen?«
Moreen sah ihn verständnislos an.
»Ich meine damit, kannst du Geister herbeirufen oder gar Dämonen?«
»Nein!« Moreen sank bei jeder genannten Disziplin, die sie verleugnen musste, weiter in sich zusammen. Ihre eigene Gabe war also doch unbekannt, und von den nützlichen Fähigkeiten hatte sie keine einzige.
Cedrik wirkte nun auch ein wenig enttäuscht. »Dann verfügst du über eine recht ausgefallene Gabe. Ich hoffe, Meister Sheridan kann morgen mehr damit anfangen. Er wird sich weiter um dich kümmern. An sich würde ich dich ja liebend gerne selbst weiter untersuchen, aber leider sind mir andere Verpflichtungen dazwischen gekommen.« Mit diesen Worten erhob er sich, umrundete vorsichtig seinen überbordenden Tisch und geleitete die beiden Probanden zur Tür.
»Darf ich fragen, wer Meister Sheridan ist?«, erkundigte sich Moreen zaghaft.
Arlyn runzelte missbilligend die Stirn. »Der königliche Heiler«, knurrte er.
»Und gelinde gesagt ein wenig sonderbar. Aber er ist ein sehr fähiger Mann«, fügte Cedrik hinzu, bevor er die Türe hinter ihnen schloss.