Xirlannon saß auf der hölzernen Bank an der Längsseite der Waffenkammer und wischte sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Tuch den Schweiß von der Stirn. Hinter ihm lag eine weitere aufreibende Übungsstunde mit seinem Zögling, dem Kronprinzen Arlyn.
Normalerweise war das Arsenal unter der königlichen Burg von Taboron auch im Sommer angenehm kühl und einer der begehrtesten Aufenthaltsorte, wenn die ganze Stadt inmitten der Glut der weiten Ebene ringsum schwelte. Aber die ungewöhnlich lange anhaltende frühsommerliche Hitze hatte die dicken Mauern aufgeheizt und die Luft im Raum war warm und stickig. Die schmalen, hoch gelegenen Fenster ließen bei Weitem nicht genügend frische Luft herein.
Seit mehr als zwanzig Jahren stand er nun schon im Dienste des Königs, bildete dessen Soldaten und Gardisten aus kümmerte sich um deren Bewaffnung. Und auch wenn Xirlannon dies nicht wahrhaben wollte, spürte er so langsam seine Jahre. Er war doch nicht mehr so gelenkig wie früher und konnte so mancher Attacke des Kronprinzen nur noch mit List und Tücke standhalten. Aber weitaus mehr strengten Xirlannon die emotionalen Aspekte an. Mehr als einmal war das Temperament mit Arlyn durchgegangen und dieser hatte sich nach einem Treffer zu einem wutentbrannten Gegenangriff hinreißen lassen.
Wenn Xirlannon sich vor Augen führte, dass der Prinz demnächst zum Herrscher über Samelurn gekrönt werden könnte… Arlyn war in vielerlei Hinsicht noch nicht reif für diese verantwortungsvolle Aufgabe. Aber sein Vater, König Anghus lag im Sterben, wenn man dem Hofklatsch Glauben schenken mochte. Er selbst hatte den König erst vor ein paar Tagen gesehen und war von dessen körperlichem Verfall entsetzt gewesen. Tatsächlich hatten die Regierungsgeschäfte in den letzten Jahren vermehrt die Ratsherren geführt. Sie sollten zwar den Kronprinzen mit einbeziehen, aber Xirlannon hatte den begründeten Verdacht, dass sie dies absichtlich langweilig und wenig abwechslungsreich gestalteten, damit Arlyn nach seiner Krönung die Regierungsmacht in ihren Händen belassen würde.
Xirlannon wurde vom lauten Knarzen der Hintertür aus seinen Betrachtungen gerissen. Er blickte überrascht auf. Normalerweise kam niemand ohne persönliche Aufforderung in sein Domizil, sah man einmal von den beiden Knappen ab, die sich regelmäßig um die Waffen und sonstige Ausrüstung zu kümmern hatten.
Vollständig wurde er allerdings aus der Fassung gebracht, als er erkannte, wer ihm da einen unerwarteten Besuch abstattete. Er rappelte sich von der Bank auf und wischte sich ein letztes Mal mit seinem Lappen über die Stirn. Dann versuchte er mehr oder weniger erfolglos, auch noch seine Hände damit abzutrocknen, bevor er den Lumpen angewidert auf die Bank warf.
Als er sich wieder umdrehte, sah er sich einer zierlichen Frau unbestimmbaren Alters gegenüber.
Sie musterte ihn von oben herab, ungeachtet der Tatsache, dass er sie um einen halben Kopf überragte.
»Arielle, was für eine Überraschung!«, flüsterte er und breitete die Arme aus. Durch eine Verletzung am Hals hatte er vor vielen Jahren seine Stimmkraft und beinahe auch sein Leben verloren.
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»Xirlannon, schön dich zu sehen«, entgegnete diese kühl, schritt langsam einmal um Xirlannon herum und musterte ihn eingehend. »Du siehst etwas mitgenommen aus«, fügte sie hinzu, als sie wieder vor ihm angekommen war.
Xirlannon seufzte. »Die alten Geschichten stehen also immer noch zwischen uns«, stellte er resigniert fest.
Arielle ging nicht darauf ein. »Ich kann mich in der nächsten Zeit leider nicht um Gorlinnon kümmern.« In ihrem Tonfall schwang keinerlei Bedauern mit. »Ich muss Taboron für eine Weile verlassen. Du müsstest den Jungen für die nächsten Wochen bei dir aufnehmen.«
Xirlannon lächelte verschmitzt. »Gerne. Ich habe in der Tat schon eine Idee, was wir unternehmen werden.« Mit diesen Worten wandte er sich endlich seinem zweiten Besucher zu, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
»Gorlinnon! Du bist groß geworden, Junge! Was machen deine Kampfkünste?«
»Ich warne dich!«, fauchte Arielle. »Falls dem Jungen etwas zustößt…«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen, Großmutter!«, versicherte dieser und baute sich breitbeinig vor Xirlannon auf. Besonders glaubhaft klang diese Aussage allerdings nicht von einem schmächtigen Vierzehnjährigen, der über und über zerschrammt war.
Xirlannon schmunzelte amüsiert. »Den ein oder anderen Trick kann ich dir sicher noch beibringen, Kleiner!«, flüsterte er heiser.
Gorlinnon stemmte mit nur zum Teil gespielter Entrüstung die Fäuste in die Hüften. »Kleiner, ha!«
Arielle verdrehte die Augen. »Genau das wollte ich vermeiden, dass ihr wieder nur mit Waffen herumspielt.«
»Damit verdiene ich nun einmal mein Brot, Arielle!«, erwiderte Xirlannon heftig. »Ich wünschte auch, das wäre anders.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Arielle. Sie sah Xirlannon melancholisch an. »Auch meine Pläne entwickeln sich in letzter Zeit nicht nach meinem Geschmack.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Passt auf euch auf!«, sagte sie unvermittelt, umarmte die beiden kurz und verschwand ohne ein weiteres Wort durch die Hintertür.
Xirlannon sah seinen Großneffen fragend an. »Welche Laus ist denn deiner Großmutter über die Leber gelaufen?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete dieser. »Seit ein paar Tagen ist sie so komisch und macht seltsame Andeutungen.«
»Was für Andeutungen? Sag schon, Junge!«
»Ach, irgendwelchen Unsinn über Tore, die besser verschlossen geblieben wären, und noch was mit ihrer ‚Decke‘ das ich nicht verstehe.«
»Verdammt!«, knurrte Xirlannon, wollte sich aber nicht weiter dazu äußern. »Wenn deine Großmutter darauf nicht näher eingeht, darf ich auch nicht mehr verraten«, wies er den neugierigen Jungen zurecht. »Komm mit, wir richten dich erst einmal ein. Wo sind deine Sachen?«
»An der Türe steht mein Beutel. Viel habe ich nicht dabei.« Gorlinnon war sichtlich enttäuscht, nicht mehr von seinem Großonkel zu erfahren. Normalerweise plauderte dieser gerne über die ‚guten alten Zeiten‘ und die Abenteuer, die er mit seinen Gefährten erlebt hatte. Gorlinnon wurde den Verdacht nicht los, dass die ‚Tore‘ seiner Großmutter irgendwie damit zu tun hatten.