Die nächsten Tage verbrachte Moreen damit, sich heimlich in ihrer seltsamen magische Gabe zu üben. Wann immer sich die Gelegenheit bot, richtete sie ihr ‚inneres Auge‘ auf ihre Mitmenschen und versuchte, deren Gemütszustand zu erraten oder deren körperliches Wohlbefinden zu ermitteln. Leider konnte sie ihre Gabe nicht zuverlässig anwenden, manchmal sah sie nur einen vagen Umriss der Person. Frustriert ließ sie von ihren Versuchen wieder ab. Ihre Übungen konnten eben doch nicht eine fundierte magische Ausbildung ersetzen, wie sie andere junge Adelige aus wohlhabenderen Familien genossen.
Schließlich war der Tag der Abreise gekommen, die schier endlose Zeit der Vorbereitungen — und vor allem der verhassten Arbeiten an der Ballrobe — hatte ein Ende. Die geplante Heirat mit Graf Gerling war mit keinem weiteren Wort erwähnt worden, Moreen wagte aber nicht zu hoffen, dass ihr diese damit nicht mehr drohte.
Moreen hatte die ganze Nacht über kaum geschlafen vor Aufregung. Bereits im ersten Morgengrauen war sie aufgestanden, hatte sich ihre bequemste Reithose und eine weite Bluse angezogen und hatte nach Feòrag gesehen.
Ihre Stute hatte sich von ihrer Aufregung anstecken lassen und tänzelte unruhig hin und her, während Moreen sie ausgiebig bürstete und striegelte. Zu guter Letzt hängte Moreen ihr einen großzügig mit Hafer gefüllten Futterbeutel um.
Anschließend erst fand sich Moreen zum gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern ein.
Ihr Vater musterte sie missbilligend. »Was ist das für ein Aufzug, Tochter?«, schnauzte er sie an.
»Ich werde auf Feòrag reiten, dann habt Ihr mehr Platz in der Karosse«, entgegnete Moreen mit ruhiger Stimme. Sie wollte eine Konfrontation mit ihrem Vater vermeiden, sonst würden sie während der ganzen Reise streiten.
Murrend willigte Baron Eòghann ein. Tatsächlich wäre es zu dritt in der Kutsche auf Dauer recht unbequem geworden auf der langen Strecke, die ihnen bis Taboron bevorstand. »Aber du steigst zu uns ein, sobald wir in Sichtweite der Stadt sind! Ich will nicht, dass sich die Leute über uns den Mund zerreißen, noch bevor die Prüfungen stattgefunden haben!«
Moreen beugte sich tief über ihren Teller, damit ihr Vater nicht sah, dass sie über das ganze Gesicht strahlte. Sie hatte schon befürchtet, dass sie ohne ihre geliebte Stute würde reisen müssen, damit sie gar nicht erst in Versuchung käme, sich unsittlich auf deren Rücken zu schwingen. Verstohlen warf sie Collyn einen Blick zu.
Dieser zwinkerte ihr zu. Offenbar freute er sich auf den Ritt nach Taboron, wo er seine Ausbildung zum Ritter am königlichen Hof fortsetzen würde. Baron Eòghann konnte sich diese wegen der damit verbundenen hohen Kosten nicht leisten.
Das weitere Frühstück wurde schweigend eingenommen. Moreen hing dunklen Gedanken nach und malte sich aus, wie unwohl sie sich in der Enge der alten Königsstadt fühlen würde.
Nach dem hastig beendeten Mahl schnallten Collyn und der betagte Pferdeknecht die letzten Gepäckstücke auf das Dach der Karosse und spannten die beiden Zugpferde ein. Moreen band eine Decke und ein wenig Proviant hinter ihrem Sattel fest. In der Decke hatte sie ihr Schwert versteckt, das ihr von ihrem Vater zu ihrem 16. Geburtstag geschenkt worden war. Sie wunderte sich immer noch, was ihn dazu bewogen hatte, stand er ihren kämpferischen Neigungen doch sonst recht abweisend gegenüber und hörte in dieser Hinsicht auf die Einwände ihrer Mutter.
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Dann schlang sie sich ihren Jagdbogen und den Köcher um, den ihr Collyn zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hoffte, während der fünf Tage währenden Reise den ansonsten eintönigen Speiseplan aus Marschverpflegung um ein paar Hasen oder gar einen Fasan zu bereichern.
Mittlerweile war es später Vormittag geworden, und die Junisonne brannte unbarmherzig auf den Burghof herab. Alle waren heilfroh, als der Tross aus Kutsche gefolgt von Collyn sowie Moreen hoch zu Ross endlich aufbrach.
Moreen ritt schweigend und in Gedanken versunken neben Collyn durch das Burgtor hinaus. Ihre Gefühle waren zwiespältig. Jeder Augenblick brachte sie näher an die unvermeidliche Herausforderung, sich der Heirat mit Graf Gerling zu fügen oder die Prüfungen zu bestehen und diesem Schicksal zu entrinnen.
Sie folgten der Straße nach Süden und ließen schon bald die vertraute Umgebung der um die Krähenburg liegenden Felder und Weiden hinter sich. Endlich breiteten die ausladenden Bäume des Waldes ihre Schatten spendenden Zweige über ihnen aus und sie entkamen den sengenden Strahlen der Mittagssonne.
Sie kamen gut voran, das trockene Wetter der letzten Tage hatte die Wege abtrocknen lassen, und die Strecke war in gutem Zustand. Selbst die Schäden an den Furten, die durch das alljährliche Hochwasser zur Schneeschmelze verursacht worden waren, waren größtenteils beseitigt und die Flüsse führten wieder weniger Wasser, so dass sie problemlos durchquert werden konnten.
Das gute Wetter hielt jedoch nur drei Tage lang an. Am vorletzten Reisetag wurden sie von einem Unwetter erwischt, das von der Ebene heraufzog und sich an den letzten Ausläufern der Donnerberge verfing. Sie waren noch eine gute Stunde von der nächsten Ansiedlung entfernt und dem herabprasselnden Regen schutzlos ausgeliefert.
Moreen und Collyn kauerten zusammengesunken auf ihren Pferden. Sie hatten die Kapuzen ihrer Umhänge tief in die Stirn gezogen, aber der ihnen entgegen fauchende Wind trieb ihnen den eisigen Regen dennoch ins Gesicht. Schon nach kürzester Zeit waren sie völlig durchnässt.
In diesem Zustand wollte Moreen nicht zu ihren Eltern in die Kutsche steigen. Vor allem fürchtete sie, sich dann den Rest der Etappe hämische Tiraden ihrer Mutter anhören zu müssen. So blieb sie mit klappernden Zähnen im Sattel sitzen und trotzte weiter den Unbilden des Wetters.
Zumindest war die Straße trotz des sintflutartigen Regens in passablem Zustand, hier in der Nähe der Stadt war sie gepflastert und hatte eine leichte Wölbung, so dass das Wasser gut abfließen konnte. Moreen wagte nicht daran zu denken, wie sie auf den aufgeweichten Lehmpisten in der heimatlichen Grafschaft vorangekommen wären. Insbesondere die schwer beladene Karosse wäre sicherlich früher oder später im Schlamm stecken geblieben.
Der Regen ließ aber auch die Flüsse anschwellen, und ausgerechnet der Fahrdamm durch die letzte breit Furt vor der Ortschaft wurde von reißenden Fluten überspült. Der Fuhrmann ließ die Karosse anhalten, stieg von seinem Kutschbock herunter und blickte prüfend über die schlammigen Wassermassen zum anderen Ufer hinüber. Sollte er es riskieren, mit der schweren Karosse die Durchquerung zu wagen?