»Moreen!«, brüllte Baron Eòghann zur Krähenburg erbost und übertönte damit das Klirren und Klappern der stumpfen Übungsschwerter.
Moreen gab vor, ihren Vater nicht gehört zu haben, und griff ihren Cousin Collyn mit einem weit ausholenden Hieb an. Ihre blauvioletten Augen blitzen spitzbübisch in der morgendlichen Junisonne. Sie sprühte vor zappeliger Energie, angetrieben von der Vorfreude auf die Reise nach Taboron in ein paar Tagen — und der Angst vor den dort stattfindenden Prüfungen.
Collyn wich hastig ein paar Schritte zurück, um nicht parieren zu müssen, und senkte sein Schwert.
»Moreen!« Eòghann erreichte den provisorischen Übungsplatz im Winkel des Burghofs und baute sich drohend vor seiner Tochter auf.
Moreen strich sich eine rotblonde Locke aus der Stirn und ließ die Schultern hängen. Um den Kopf ihres Vaters nahm sie mit ihrem ‚inneren Auge‘ ein rot-violettes Leuchten wahr. Das verhieß nichts Gutes, ihrer Erfahrung nach plagten ihn stechende Kopfschmerzen.
»Dieses Benehmen gehört sich nicht für eine Dame!«, donnerte Eòghann und verzog gequält das Gesicht. Er rieb sich den Nacken und fuhr dann in gemäßigterem Ton fort. »Du bist jetzt 18 Jahre alt und solltest endlich damit aufhören, dich wie ein junger Haudegen zu benehmen. Zieh dir sofort etwas Anständiges an, und dann ab mit dir ins Nähzimmer. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du deine häuslichen Pflichten in letzter Zeit arg vernachlässigt hast.«
»Vater, Ihr habt mir doch selbst vor zwei Jahren ein Schwert zum Geburtstag geschenkt. Soll ich das etwa zur Zierde über meine Bettstatt hängen, weil ich nicht damit umgehen kann?«, entrüstete sich Moreen.
Baron Eòghann runzelte die Stirn und starrte seine Tochter missmutig an. »Ich weiß nur zu gut, dass ich dir dieses altehrwürdige Familienerbstück überreicht habe. Deine Mutter erinnert mich ja auch ständig daran, was für eine unziemliche Gabe dies war.« Er seufzte. »Ich verstehe ja, dass du deine Freiheit und Unabhängigkeit bewahren möchtest. Aber wir alle haben unsere Pflichten zu erfüllen, so unangenehm diese auch sein mögen. Und dazu gehört auch, dass du dich an die gesellschaftlichen Normen und Regeln hältst, die dir als Mitglied dieser Familie auferlegt wurden.«
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»Aber eben diese Regeln lassen mir doch keinerlei Freiheiten!«, begehrte Moreen auf.
Eòghann hob abwehrend die Hände. »Schluss mit den Widerworten. Du musst endlich lernen, dich an die Regeln halten und den begrenzten Freiraum nutzen, den diese dir lassen. Es geht nicht an, dass du dich im Namen der Freiheit über alle Regeln hinwegsetzt und nur machst, was dir gerade in den Sinn kommt. Und jetzt fort mit dir!«
Ihr Vater machte auf dem Absatz kehrt und schritt erhobenen Hauptes zurück in Richtung des Wohnturms. Er stolperte über eine Unebenheit im ausgetretenen Pflaster und musste sich am Torbogen abfangen, um nicht zu stürzen.
Moreen blickte ihrem Vater nach und stöhnte. Nun glühten auch sein linker Fuß und die Hand rötlich, die er sich am rauen Mauerwerk aufgeschürft hatte. Seine Laune würde sicherlich nicht besser davon, dass er so schmerzhaft an den fortschreitenden Verfall seiner Burg erinnert worden war. Seit dem unerklärlichen Schwinden seiner magischen Fähigkeiten vor ein paar Jahren und dem damit verbundenen Verlust seiner einflussreichen und lukrativen Position als persönlicher Berater des Königs stand es schlecht um die Finanzen der Familie.
Niedergeschlagen ging Moreen zu Collyn und legte ihm ihr Schwert in die ausgestreckte Hand.
»Gib mir auch noch deine Lederrüstung, ich räume die Sachen schon weg. Besser, du beeilst dich.« Collyn lächelte gequält. »Hoffentlich vergisst dein Vater, dass du mit mir gefochten hast. Das letzte Mal musste ich dafür eine Woche lang die Ställe ausmisten.«
»Danke, du bist ein Schatz!« Moreen hauchte einen Kuss auf seine Wange und rannte in den Dienstboteneingang. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete sie die steile, unebene Stiege hinauf in den zweiten Stock.
In ihrem Zimmer zog sich Moreen Wams und Hose aus, die sie aus der abgelegten Garderobe ihrer älteren Brüder entwendet hatte. Sie frischte sich rasch mit kaltem Wasser ab und warf sich ihr Lieblingskleid aus weichem, beigefarbenem Leinen über, das angenehm weit geschnitten war und ihr gestatten würde, trotz der frühsommerlichen Wärme noch ein wenig abzukühlen.
Dann machte sie sich schweren Herzens auf den Weg ins Nähzimmer am Ende des Flurs.