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Schattenkinder (German)
Kapitel 19: Der Wasserfall und Sie

Kapitel 19: Der Wasserfall und Sie

Die Sonne bricht in goldenen Strahlen durch das Fenster und taucht den Raum in ein trügerisches Licht. Ich stütze mich auf den Fenstersims, lehne mich hinaus und betrachte den endlosen, hellblauen Himmel. Mein Herz ist erfüllt von Frieden – und doch lauert tief in mir eine ungreifbare, nagende Unruhe.

Hinter mir klickt das Schloss der Tür. Das Geräusch hallt in meinen Knochen nach, und mein Lächeln erstarrt, noch bevor ich mich umdrehe.

„Meine geliebte Ehefrau“, dringt eine samtige, doch kalte Stimme an mein Ohr. Lord Louweris tritt mit einem breiten Lächeln näher – ein Lächeln, das meine Nackenhaare aufstellt. „Verzeih, dass ich dich weiterhin in unserem Gemach gefangen halten muss. Doch nach deiner versuchten Flucht konnte ich es mir nicht erlauben, eine solch kostbare Perle entwischen zu lassen.“

Flucht? Mein Blick bleibt an seinem Gesicht hängen – an seinem rechten Auge. Eine schwarze Augenklappe verdeckt es nun, verleiht ihm eine noch bedrohlichere Ausstrahlung. Mein Herz schlägt schneller. Was … was ist passiert? Warum bin ich hier? Wo sind Sylas und Mirael?

Ich wende mich wieder dem Fenster zu – dem fremden Land, das sich unter mir erstreckt. Die sanften Hügel, die fernen Berge … Dies ist nicht mein Zuhause. Bin ich in Aschemond? In der Heimat von Lord Louweris? Hat der König mich damals wirklich gefangen nehmen lassen?

Wie viel Zeit ist vergangen? War Elindros … ein Traum? Waren all die Elindine, die ich kannte, nichts als eine Illusion?

„Womöglich habe ich nicht unrecht, dich hier einzusperren“, fährt Lord Louweris mit unheilvoller Ruhe fort. „Meine eigene Ehefrau hat mich nicht einmal zur Begrüßung geküsst. Und doch hast du letzte Nacht vor Freude geschrien.“

Mein Magen krampft sich zusammen.

Letzte Nacht?

Er meint doch nicht etwa …, dass er …?

Aber ich erinnere mich an nichts.

„Hast du deine Zunge verschluckt?“ Seine Stimme wird schärfer, die Ungeduld blitzt in seinen Augen auf. Dann zuckt er mit den Schultern, als hätte er bereits das Interesse verloren. „Nun gut. Eine Frau ohne Stimme ist mir ohnehin am liebsten.“

Etwas in mir zerbricht.

Ich wanke zurück, doch er tritt näher. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr, meine Knie geben nach. Ein verzweifelter Kloß sitzt in meiner Kehle, und doch bringe ich ein Flüstern hervor:

„N-nein … bitte …“ Meine Stimme zittert, meine Hände heben sich abwehrend. „Lord Louweris … bitte.“

Ein zufriedenes Lächeln kräuselt seine Lippen. „In diesem Raum bin ich nicht nur dein Lord.“ Er lehnt sich näher, sein Atem streift meine Wange. „Hast du nicht gelernt, Kind? Ich bin dein Gemahl.“

Meine Augen huschen zurück zu seiner Augenklappe. Ich kann den Blick nicht abwenden.

Er bemerkt es. Seine Finger heben sich, tippen auf den Spiegel an der Wand.

„Ach … das? Das nehme ich dir nicht übel, meine Teuerste.“ Sein Ton trieft vor falscher Sanftmut. „Schließlich habe ich dir auch ein Geschenk gemacht, nachdem du zu mir gebracht wurdest.“

Langsam drehe ich mich zum Spiegel. Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Mein eigenes Spiegelbild starrt mich an – mit einem zugenähten rechten Auge.

Ein erstickter Laut entfährt mir. Meine Finger schnellen nach oben, tasten über die genähte Wunde. Mein Atem stockt.

Dann bricht das Lachen von Lord Louweris über mich herein – ein dunkles, genüssliches Lachen, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Mein Körper bebt.

Ein Schrei entweicht mir, hallt durch das Zimmer – durch die Mauern, die mich gefangen halten.

Und niemand wird ihn hören.

„Vespera, Vespera!“ Eine vertraute männliche Stimme hallt an mein Ohr. „Bei Rhovan Ardelon! Sie schwitzt wie verrückt in dieser Kälte!“

Benommen blinzle ich und kämpfe gegen das Gewicht meiner schweren Lider an. Mein Körper fühlt sich bleiern an, als würde er mich zu Boden drücken – dorthin, wo ich offenbar die ganze Zeit gelegen habe.

Über mir beugt sich Sylas, seine Hand liegt warm auf meiner Wange. Ich blinzle erneut und erkenne Mirael hinter ihm, die mit verschränkten Armen das Geschehen beobachtet. Moment… Sylas? Mirael?

Mein Herz macht einen Sprung. Plötzlich weicht die Kraftlosigkeit aus meinen Gliedern. Ohne zu zögern, falle ich Sylas in die Arme, spüre, wie mein Herz rast – doch dieses Mal nicht aus Angst, sondern aus Erleichterung. Mein Leben bis jetzt war kein Traum! Ich habe es mir nicht eingebildet!

„Ich bin so froh, euch zu sehen“, murmele ich mit immer noch zitternder Stimme. Doch selbst jetzt hallen die Worte von Lord Louweris in meinem Kopf wider. Sie waren bloß eine Einbildung… und dennoch haben sie mich tief erschüttert.

„Du hattest einen Albtraum…“, sagt Sylas leise. Besorgt legt er seine Hand auf meine Stirn, eine angenehme Kühle breitet sich auf meiner Haut aus. „Du hast viel geschwitzt. Verzeih, dass ich dich berühren muss. Ich werde mich beeilen.“

„Schon in Ordnung“, erwidere ich und merke erst jetzt, dass mich selbst die Umarmung eigentlich gar nicht gestört hat. „Es war nur ein Traum.“

„Ich weiß…“, seufzt Sylas, während er irgendetwas mit meiner Stirn macht. Ich kann nicht sagen, was genau – aber mein Herzschlag beruhigt sich allmählich. „Ich habe mich schon gewundert, warum dein Körper nicht auf die Ereignisse in der Menschenwelt reagiert hat. Nicht, dass ich es mir gewünscht hätte… aber es war seltsam.“

„Aber… woher?“ Verwirrt blicke ich ihn an. Wie kann Sylas wissen, dass ich von Lord Louweris geträumt habe? „Wie hast du das gewusst?“

Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter zu Mirael. Auch sie – die mich sonst mit Abscheu mustert – hat einen Hauch von Mitleid in den Augen.

„Ich bin mir nicht sicher…“ Sylas runzelt die Stirn. „Aber ich glaube, es liegt am Gedankenweben.“ Er sieht nachdenklich ins Leere. „Hast du in dem Buch, das du von meinem Vater bekommen hast, etwas über die verschiedenen Stufen dieser Fähigkeit gelesen? Wie verstehen die Losniw das Gedankenweben?“

Unsicher zucke ich mit den Schultern. „Nun, es gab einen Abschnitt über die Übertragung eigener Erinnerungen auf andere. Aber das soll nur den fortgeschrittenen Losniw gelingen.“

Sylas schüttelt kaum merklich den Kopf. „Vespera, du kannst dich nicht mit normalen Losniw vergleichen. Du bist das neunte Gefäß…“

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„Die Areni sagten doch, dass sie das zehnte Gefäß ist“, fällt ihm Mirael ins Wort.

Er schüttelt erneut den Kopf. „Die Areni kennen die Vorgeschichte von Vespera und dem früheren Gefäß nicht. Lassen wir sie in ihrem Glauben. Wenn wir den Roten Gefäßen nicht trauen können, sind wir ihnen wenigstens einen Schritt voraus.“

Miraels Miene verfinstert sich. „Wer war das neunte Gefäß?“ Seit ihrer Auseinandersetzung mit Sylas scheint sie sich verändert zu haben.

„Isilyn Entium…“ Der Name meiner Mutter verlässt meine Lippen kaum hörbar. Mirael runzelt die Stirn. „Meine Mutter… sie hat mir das Gefäß des Sonatius Mortaeda übertragen.“

„Welche Mutter würde ihrem eigenen Kind so etwas antun?“ Miraels Stimme bebt vor Entsetzen. „Aber…, wenn ich an die Elindine in Losnat denke, sollte mich das wohl nicht überraschen.“

Da ist er wieder – ihr tiefsitzender Hass. Sie hat ihn nie wirklich ablegen können. Doch etwas hat sich verändert. Noch vor wenigen Stunden hätte sie mir ihre Verachtung ins Gesicht geschleudert, mich mit abfälligen Kommentaren überhäuft. Jetzt schweigt sie. Haben Sylas’ Worte sie doch erreicht?

Benommen reibe ich mir die Stirn. „Ich erinnere mich nicht daran, wann ich eingeschlafen bin… Meine Erinnerungen sind lückenhaft.“

Sylas erklärt, dass wir nach unserer Flucht aus Arenath fast zwei Tage ohne längere Pause marschiert sind. Er wollte nicht rasten, aus Angst, dass uns die Sualtier einholen könnten. Schließlich passierten wir eine hohe Klippe, an deren Seite ein gewaltiger Wasserfall tobt. Dort, so sagt er, habe mich die Erschöpfung eingeholt – ich verlor das Bewusstsein… und mit ihm das Gleichgewicht. Ich stürzte ins Wasser.

„Dann musste ich minutenlang das Wasser aus deinen Kleidern ziehen, damit du in dieser Kälte nicht erfrierst“, beendet Sylas seine Erzählung. Seine Stimme ist ruhig, doch seine Augen verraten sein Bedauern. „Mirael hat ein Feuer gemacht. Manchmal bin ich froh, ein Solniw zu sein. Die Elemente zu beherrschen, war selbst in der Menschenwelt von Vorteil.“ Er hält inne, dann sieht er mich an. „Vespera, es tut mir leid, dass dir das wegen mir passiert ist.“

Mirael schweigt. Doch ihr Blick verfinstert sich, als hätte sie etwas an seinen Worten gestört. Vielleicht missfällt ihr, dass er sich für so etwas „Kleines“ entschuldigt, während ich doch für das Massaker in Solnya verantwortlich bin.

„Ist schon in Ordnung“, sage ich leise. „Wo sind wir jetzt?“

„In der Nähe von Velsoth.“ Sylas lässt seinen Blick durch die Umgebung schweifen. „Bis jetzt sind wir keinem Sualtier begegnet.“

„Dann sollten wir weiter.“ Ich springe auf die Füße. „Ich will nicht, dass diese Wahnsinnigen uns einholen.“

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Sylas’ Stimme ist voller Sorge. Ich nicke entschlossen.

Also setzen wir unseren Weg fort. Direkt neben dem Wasserfall, in den ich gestürzt bin und zwei Stunden bewusstlos lag, hatten wir unser Lager aufgeschlagen. Vielleicht hat das gleichmäßige Rauschen des Wassers verhindert, dass mich mein Traum ganz verschlingt.

Die Kälte ist erbarmungslos. Bei diesem eisigen Wind sehne ich mich nach der Wärme von Arenath – nach der Wärme, die ich für einen kurzen Moment spüren durfte.

Wir sind vor fast zwei Tagen um die Mittagszeit aus dem Dorf der Sandmagier geflohen. Seitdem ich das Bewusstsein verloren habe, sind weitere zwei Stunden vergangen. Das bedeutet, dass Velsoth noch mindestens einen halben Tagesmarsch entfernt liegt.

Die Velsothier sind Elindine mit der Gabe, die Schatten zu beherrschen. Laut Sylas herrscht in Velsoth vollkommene Dunkelheit. Wie sollen wir uns dort zurechtfinden? Können Fremde wie wir sich in dieser Finsternis überhaupt orientieren?

Der Winter in Elindros unterscheidet sich kaum von dem der Menschenwelt. Auch hier lässt die Kälte meine Zähne klappern und meine Zehen taub werden. Fast sehne ich mich nach der Wärme Arenaths – und das, obwohl ich den Winter immer geliebt habe. Doch damals war ich in meinem warmen Zimmer eingesperrt und konnte dem Schnee nur durch das Fenster zusehen, ohne ihn je selbst spüren zu müssen. Ist das der Preis der Freiheit? Seit meiner Flucht kämpfe ich unaufhörlich ums Überleben. Hinter den Mauern des Schlosses, unter der Kontrolle der Königin, besaß ich keinen freien Willen – und doch wurde ich nicht gejagt. Wie nennt man dieses Paradoxon?

Zwischen Arenath und Velsoth gibt es keine weiteren Dörfer. Nur die endlose Natur begleitet uns auf unserem Weg. Nicht einmal andere Elindine sind uns bisher begegnet. Laut Sylas wird zu dieser Jahreszeit kaum Handel an diesem Ort betrieben, weshalb die Wege selten genutzt werden. Dennoch – ist es nicht zu riskant, den offiziellen Handelsweg zu nehmen? Würden die Sualtier nicht genau das von uns erwarten?

Die Stunden vergehen wie im Flug. Meine kurze Rast nach dem Sturz hat meinem Körper die dringend benötigte Ruhe verschafft – und doch bleibt dieses unerträgliche Stechen in meinem Kopf! Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer in den Nacken rammen. Liegt es am Sturz? Es wird sicher bald vergehen…

Leider ist dem nicht so. Stunden um Stunden sind wir gewandert, und nun hat die Nacht ihr samtenes Tuch über die Welt gebreitet. Unzählige Sterne flackern am Firmament, leuchten uns den Weg – und rauben mir zugleich den Atem. Unter diesem endlosen Himmel zu wandern ist eine gänzlich andere Erfahrung als das gestrige Voranschreiten durch den Wald. Allein der Gedanke an die knorrigen Wurzeln, die im Zwielicht lauerten, lässt meine Knöchel schmerzen.

Vor mir gehen Mirael und Sylas. Sonst klebt die Solniw an seinem Arm, doch heute umgibt sie ein Schweigen, das selbst den Wind übertönt. Sie sieht ihn nicht an, wendet ihm nicht einmal den Kopf zu. Ist mehr geschehen, seit ihre Stimmen sich noch scharf, wie Klingen begegneten?

Mein Blick verliert sich in der Landschaft – die Schatten der Bäume, das in Mondlicht getauchte, schneebedeckte Gras, das mit jedem Schritt sanft unter meinen Füßen knirscht. Wenn der Preis für die Freiheit der Kampf ums Überleben ist … dann bin ich bereit, ihn zu zahlen.

Wie weit reichen meine Fähigkeiten wirklich? War es ein schleichender Wandel, seit die Kairon meine Blockade gelöst haben? Ob Aetherion mir Antworten geben kann? Doch wie finde ich den Weg zurück in ihre Dimension?

Mein Blick gleitet hinab zu meiner Jackentasche, in der das Astralis ruht – ein zerbrechlicher Schatz, den ich mit größter Vorsicht bewahre. Sylas und Mirael haben meine Träume gesehen, jede Szene, jede Angst. Auch jene Furcht, die mich in der Gegenwart von Lord Louweris gefangen hielt. Schwäche zu zeigen, war für mich stets ein großes Problem – besonders vor Mirael, die jede Gelegenheit nutzt, mich niederzumachen.

„Hier schlagen wir unser Lager auf“, bestimmt Sylas mit ruhiger Stimme, während sein prüfender Blick durch die Düsternis streift. „Mirael, entfach ein Feuer. Ich werde nach Nahrung suchen. Die Vorräte von Neriselle sind großzügig, doch wir sollten sie nicht schon jetzt erschöpfen. Bleibt beisammen – und wenn Gefahr droht, sucht ein Versteck.“

Stumm nicken wir. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Sylas im nahen Wald, der uns seit Stunden begleitet und doch nie betreten wurde, da der Handelsweg eine leichtere Route bot. Mirael setzt sich auf einen Baumstamm, den sie mit Mühe an unser Lager gerollt hat, und beginnt, das Feuer vorzubereiten. Mit einer Technik, die die Flammen bändigt, damit sie uns wärmen, doch nicht den Himmel erhellen – ein Schutz vor Blicken, die uns nicht wohlgesonnen sind.

„Beeindruckend“, entfährt es mir, bevor ich es zurückhalten kann. Sofort weiten sich meine Augen – Mist. Ich hatte nicht vor, mit Mirael zu sprechen.

Sie mustert mich aus dem Augenwinkel, runzelt nachdenklich die Stirn. „Die Feuerfangmethode?“

„Interessante Bezeichnung“, gebe ich zu und nicke. „Ja. Wie kann diese obere Schicht das Feuer dämpfen und uns gleichzeitig wärmen?“

Mit einem Finger berührt sie die glatte Oberfläche, und ein feiner Funken zuckt zwischen ihrer Haut und der Schicht.

„Du webst Gedanken, ich webe Blitze“, sagt sie. Ein Wortspiel? Hat die Solniw tatsächlich einen Witz gemacht? Wollte sie mich zum Lachen bringen? „Diese Technik hat mir mein Schwiegervater beigebracht – also Zyar.“

„Hätte ich mir denken können“, murmle ich, ein Lächeln auf den Lippen. „Zyar kann wirklich anstrengend sein, wenn er etwas lehren will.“

Miraels Augen weiten sich. „Bei solchen Dingen ist er ein furchtbarer Besserwisser!“ Zum ersten Mal seit unserer Begegnung teilen wir ein Lächeln. „Er mag der Legat der Elemente sein, aber Blitze beherrscht er nicht. Ganz so unfehlbar ist er also doch nicht.“

Wir genießen den seltenen Moment der Einigkeit – ein stilles Bündnis im Spott über denselben Mann. Doch kaum wird uns bewusst, dass die Spannung zwischen uns für einen Moment verflogen ist, erstarrt Miraels Miene. Schnell senkt sie die Mundwinkel, wendet sich ab. Auch ich wende den Blick. Stille kehrt zurück, nur unterbrochen vom Knistern des wachsenden Feuers.

Ich habe nichts zu tun. Keine Gabe, die ich in diesem Moment nutzen könnte, um unser aller Leben zu erleichtern. Also denke ich nach.

Dann, plötzlich, eine Stimme, die die Stille zerreißt:

„Ich habe nicht viel finden können.“ Sylas tritt aus der Dunkelheit, und Mirael und ich atmen beinahe gleichzeitig erleichtert auf. Wir tauschen einen kurzen Blick.

„Aber mit diesen Zutaten kann ich uns Flammenkartoffeln mit Nebelwurzeln und Mondbutter zubereiten.“ Er hebt eine weiße, spiralförmige Wurzel in die Höhe. „Nebelwurzeln. Sie sind in fast jedem Gericht – Suppen, Salate, Beilagen. Eine würzige Note, die unverwechselbar ist.“

„Sylas ist seit seiner Kindheit verrückt nach diesen Dingern“, merkt Mirael an, ohne den Blick vom Feuer zu heben.

„Meine Kindheit?“ Sylas runzelt die Stirn. „Woher willst du das wissen? Uns trennen sechs Jahre.“

Mirael zuckt mit den Schultern. „Ich erinnere mich an vieles. Dank deiner Vorliebe hat meine Mutter immer Gerichte mit Nebelwurzeln gekocht. Früher konnte ich den Geschmack nicht ausstehen, doch mit der Zeit … habe ich mich daran gewöhnt.“

Sylas schmunzelt, rollt einen weiteren Baumstamm ans Feuer und klopft auf die leere Stelle neben sich. Ich geselle mich zu ihm. „Dann sollte ich deiner Mutter wohl danken.“

Mirael schießt ihm einen zornigen Blick zu – doch nur für einen Moment. Dann weicht ihr Trotz einem Lächeln, und plötzlich kullern Tränen über ihre Wangen.

Zu lange war sie tapfer.

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