Bereits seit einer halben Stunde ziehen wir durch einen scheinbar endlosen Wald. Entweder erstreckt sich dieses Dickicht über unzählige Kilometer, oder die Gesetze der Natur in Elindros sind so fremdartig, dass jede Sekunde neue Bäume aus der Erde sprießen. Die monotone Trostlosigkeit um uns herum ist erdrückend, doch schlimmer noch ist das Schweigen.
Seit unserem Aufbruch aus Solnya sind Mirael und Sylas stumm. Ihre Gesichter sind leere Masken, ihre Augen blicken auf den Boden, als hätten sie aufgehört, wirklich zu sehen. Ihre Schritte wirken mechanisch, fast, als würden ihre Körper einfach funktionieren, ohne dass ihr Verstand wirklich beteiligt ist. Ich kann sie verstehen – oder zumindest erahnen, was in ihnen vorgeht. Frau Strömerts Enthauptung war ein Schock, ein unauslöschliches Bild, das Mirael wahrscheinlich ihr Leben lang verfolgen wird. Der Schmerz eines solchen Verlustes, verbunden mit dem Gefühl von Schuld, ist unvorstellbar.
Auch ich halte mich mit Worten zurück. Nicht, weil ich nichts zu sagen hätte, sondern weil es nichts gibt, das den Moment heilen könnte. Meine eigene Vergangenheit ist von Narben übersät – von der Einsamkeit meiner Kindheit über die gezwungene Ehe mit Lord Louweris bis hin zu unzähligen Momenten des Leids. Doch so tief diese Wunden auch sind, sie verblassen im Vergleich zu dem, was Sylas und Mirael jetzt durchleben.
Der Giftnebel der Cata Sualti – das Mord Vupu – hat uns alle heimgesucht. In den chaotischen Minuten des Angriffs haben die Solniw so viele Geliebte verloren. Wer hat es noch in die Bunker geschafft? Wer wurde von dem tödlichen Nebel verschluckt? Diese Ungewissheit ist wie ein schleichendes Gift, das sich mit jedem Schritt tiefer in uns gräbt. Und obwohl die Welt um uns herum so still ist, hallen diese unbeantworteten Fragen wie ein unaufhörliches Echo in meinen Gedanken wider.
Zudem quält mich die Frage, ob ich überhaupt das Recht habe, mit Mirael über ihre Gefühle zu sprechen. Seitdem sie herausgefunden hat, dass ich der Grund für das Massaker bin, hat sich etwas Unaussprechliches zwischen uns verändert. Früher war ich mir sicher, dass sie mich bloß um meine Nähe zu Sylas beneidete. Doch nun sehe ich in ihren Augen nichts als abgrundtiefen Hass – ein Hass, der brennt wie tausend Sonnen. Ob dieser Hass meiner Herkunft aus Losnat gilt oder allein dem heutigen Abend, kann ich nicht deuten. Doch eines ist sicher: Mirael verabscheut mich.
Ich wollte immer nur akzeptiert werden – von irgendjemandem. Doch selbst hier, in Elindros, finde ich keine Zuflucht. Die Elindine haben ihre Gründe, mich zu hassen, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass selbst König Mukuta mich wohl nie wirklich geliebt hat. Er wusste, dass ich nicht sein leibliches Kind bin. Warum also hat er mich all die Jahre in seiner Nähe behalten? Und Königin Mayyira... ihre Verachtung für mich war niemals subtil. Sie sah mich als den Beweis einer früheren Ehe und behandelte mich wie Ungeziefer, das sie nicht ausrotten konnte.
Ich blicke auf meine Gefährten. Sie laufen stumm vor sich hin, die Last der vergangenen Stunden schwer auf ihren Schultern. Dann bleibt Sylas plötzlich stehen. Sein Seufzen ist so laut, dass es nur wir hören können. Für einen Moment treffen Miraels und meine Blicke aufeinander, bevor sie sich genervt abwendet.
„Wir hätten nicht gehen dürfen“, sagt Sylas schließlich, Zweifel in seiner Stimme. „Mein Vater und dein Vater, Mirael – sie werden uns suchen. Das Dorf wurde von den Sualtier überfallen, und wer weiß, wie viele Solniws gestorben sind! Was, wenn dein Vater glaubt, auch du seiest tot? Kannst du mit diesem Gedanken leben?“
Mirael dreht sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm um. „Meine Mutter ist vor meinen Augen gestorben!“, zischt sie und kämpft sichtbar gegen die Tränen an. Dann fällt ihr Blick auf mich – scharf wie eine Klinge. „Und das Gefäß des Sonatius Mortaeda ist daran schuld!“
„Hör auf, sie so zu nennen“, sagt Sylas mit ruhiger Stimme und hebt beschwichtigend die Hände. „Sie wusste bis vor Kurzem nichts von ihrer Bestimmung. Sie hat nicht gewusst, was sie für Elindros bedeutet.“
Mirael lacht bitter. „Wird dieses Wissen meine Mutter zurückholen? Wird es ihren abgetrennten Kopf wieder an ihren Hals fügen?"
Sylas schweigt, unfähig, ihre Fragen zu beantworten. Inmitten ihrer Verzweiflung und Wut fühle ich mich überflüssig – eine bloße Ursache für all das Leid, ohne die geringste Ahnung, wie ich es lindern könnte. Meine Zeit hinter verschlossenen Türen hat mich nicht gelehrt, wie man mit Menschen – geschweige denn mit Elindine – umgeht. Meine einzigen Gefährten waren die Sonne am Tag und der Mond bei Nacht. Sie allein haben gesehen, wie ich die Einsamkeit zu meinem Begleiter machte.
Sylas scheint etwas sagen zu wollen, doch ich komme ihm zuvor. Meine Stimme schneidet durch die Spannung wie ein Dolch. „Mirael, ich verstehe.“
Ihre Augen flammen auf. „Ich habe nicht mit dir geredet!“
Doch ich lasse mich nicht abschrecken. „Wenn du mich für alles verantwortlich machen willst, dann hast du verdammt nochmal auch mit mir zu reden! Ja, die Sualtier waren meinetwegen in Solnya. Natürlich weiß ich das. Und ja, ich bereue, je einen Fuß in euer Dorf gesetzt zu haben. Aber genauso wenig wie du konnte ich ahnen, dass diese Elindine solch einen Anschlag planen würden. Ich wusste nicht einmal von der Existenz der Sualtier! Mach mich verantwortlich, Mirael, und ich werde jede Anschuldigung akzeptieren. Aber wenn du nur versuchst, uns aufzuhalten, dann kehre besser zurück.“
Miraels Wut entlädt sich in einem Ausbruch. Sie stürmt auf mich zu, doch Sylas hält sie im letzten Moment zurück. Ihr Zorn lässt mich innerlich erzittern, doch ich zeige keine Regung.
„Wenn du denkst, du bist etwas Besseres, dann geh doch!“, schreit sie. „Warum bist du noch hier? GEH!“
Ich zucke mit den Schultern, drehe mich um und gehe. Doch bevor ich einen weiteren Schritt machen kann, spüre ich Sylas’ Hand, die mich zurückhält.
„Lass es gut sein“, sage ich leise, erschöpft. „Bleib bei ihr. Ihr gehört zusammen, ihr kennt euch seit Jahren. Verschwende das nicht für eine Fremde wie mich. Eine Losniw. Das Gefäß des Sonatius Mortaeda. Ich bringe nur Unglück.“
„Ich werde dich nicht allein lassen, Vespera“, sagt Sylas mit fester Stimme. Er spricht meinen Namen vollständig aus, ohne Abkürzung, und zeigt mir den Halbkreis in seiner Handfläche. „Du weißt, dass uns das Schicksal verbindet. Ich habe geschworen, dich für immer zu beschützen, und daran wird sich nichts ändern!“
Mirael, verwirrt und wütend, stellt sich zwischen uns. „Was soll dieses Versprechen bedeuten? Warum bist du an sie gebunden? Warum riskierst du dein Leben für eine Losniw?“
Sylas seufzt erneut, ein tiefes, müdes Geräusch, das in der Stille des Waldes widerhallt. Sein Gesicht bleibt undurchsichtig, schwer zu lesen, selbst für jemanden, der ihn besser kennen würde. Aber ich? Ich kenne die beiden Solniw kaum zwei Tage. Wie soll ich das Labyrinth ihrer Gefühle durchdringen, wenn sie nicht einmal Worte finden, um sie mir zu erklären?
„Vespera ist von großer Bedeutung für Elindros“, beginnt Sylas schließlich und richtet seinen festen Blick auf Mirael. „Aber du bist mir genauso wichtig. Wir sind zusammen aufgewachsen, Mirael. Deine Mutter – Frau Strömert – war nach dem Verschwinden meiner eigenen Mutter immer für mich da. Ihr Verlust hat auch mich getroffen. Vielleicht nicht so tief wie dich, aber es tut mir weh. Trotzdem verspreche ich dir eines: Vespera kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden.“
Erneut hat er seine Mutter erwähnt. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt auf dieses Thema einzugehen. Mirael hält seinem Blick stand, schweigt aber. Sekunden verstreichen, in denen die Welt um uns herum still zu atmen scheint. Weder sie noch Sylas scheinen sich daran zu erinnern, dass wir gejagt werden könnten. Jeder Moment, den wir hier verweilen, ist ein Moment näher an der Gefahr. Doch auch ich sage nichts, warte ab, wie ein Zuschauer in einem Spiel, dessen Regeln ich nicht verstehe.
Schließlich nickt Mirael. Ihre Schultern sacken herab, als hätte sie die Last des Hasses für einen Augenblick abgelegt. Sie wendet sich mir zu, ihr Blick bleibt jedoch kühl. „Das bedeutet nicht, dass ich dir verzeihe – und erst recht nicht, dass wir Freunde sind. Aber… ich brauche deine Hilfe, um die Sualtier zu finden.“
Verwirrt ziehe ich die Augenbraue hoch. „Warum?“
„Hast du vergessen, wer sie sind?“ Ihr Ton ist scharf, fast beleidigend. „Die Sualtier verschmelzen mit dem Nebel. Ihre Bewegungen sind lautlos, ihre Angriffe unerwartet. Glaubst du, eine Elindine wie ich könnte sie allein aufspüren?“
Ich antworte nicht. Stattdessen schleicht sich ein Gedanke in meinen Kopf: Ich habe Miraels Kräfte noch nicht gesehen. Ob sie wie Sylas das Wasser beherrscht? Oder wie Zyar durch die Lüfte gleitet? Vielleicht wird sich ihre wahre Natur noch offenbaren.
„Ich möchte nur Frieden bringen“, sage ich schließlich und spüre, wie meine Worte schwerer wiegen als je zuvor. „Ich weiß nicht, wohin meine Reise mich führen wird, aber ich verspreche dir eines: Ich werde nicht morden, um mein Ziel zu erreichen. Auch den Tod deiner Mutter habe ich nicht gewollt – oder den eines anderen Solniw.“
Mirael nickt knapp, ein unbestätigtes Zugeständnis. Sylas atmet hörbar auf, dreht sich um und führt uns schweigend weiter. Für einen Moment finde auch ich Ruhe. Doch nur für einen Moment.
Seit unserer Flucht aus Solnya haben wir diesen Wald durchquert – ein Labyrinth aus fremdartigen Bäumen, die so hoch sind, dass ihre Spitzen in der Dunkelheit verschwinden. Ihre Stämme glühen schwach in einem silbrigen Blau, als würden sie Leben aus der Erde selbst saugen. Sie sind nicht glatt, sondern mit Wucherungen überzogen, die wie Augen wirken, die uns beobachten. Der Wald ist lebendig. Nicht im metaphorischen Sinne, sondern im wahren Sinn des Wortes.
Der Boden unter unseren Füßen fühlt sich weich und federnd an, wie ein dichtes Moos, das uns vor dem Gewicht des Hasses und der Schuld bewahren will, die wir mit uns tragen. Doch dieses Gefühl von Sanftheit wird durchbrochen von knorrigen Wurzeln, die wie Klauen aus der Erde ragen, als wollten sie uns stolpern lassen. Zwischen den Wurzeln kriechen phosphoreszierende Pflanzen, ihre Lichter pulsieren wie Herzschläge, ihr Leuchten taucht die Umgebung in ein immerwährendes Zwielicht.
Wir wandern durch schmale Pfade, die sich ständig zu verändern scheinen. Manchmal wachsen die Bäume so eng zusammen, dass wir uns hindurchzwängen müssen, ihre Äste kratzen an unseren Armen wie knorrige Finger. Dann öffnet sich der Wald plötzlich, und wir stehen in weiten Lichtungen, die in einem mystischen, goldenen Schein erstrahlen – als ob die Sterne selbst vom Himmel gefallen wären und nun zwischen den Blättern gefangen sind.
Die Luft ist dick, schwer von einer feuchten Wärme, die fast erstickend wirkt. Ein fremdartiger Duft hängt in der Luft, süß und metallisch zugleich, als würde der Wald uns locken – oder warnen. Über uns spannt sich ein gewaltiges Netz aus Ästen und Blättern, so dicht, dass der Himmel verborgen bleibt. Doch manchmal blitzt ein silbriges Leuchten hindurch, ein flüssiges Licht, das mehr wie ein Traum als wie ein Teil dieser Welt erscheint.
Hier und da sickern Nebelschwaden durch die Bäume, schimmernd und fast greifbar. Sie scheinen lebendig, wie Geister, die zwischen den Schatten wandern. Das Knacken von Ästen begleitet uns, ein leises, unaufhörliches Flüstern in der Ferne. Es ist unmöglich zu sagen, ob wir verfolgt werden oder ob der Wald selbst uns beobachtet, eine unsichtbare Macht, die uns auf Schritt und Tritt begleitet.
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Ein plötzlicher Windstoß bringt Bewegung in die Umgebung. Die Bäume ächzen und stöhnen, ihre Äste strecken sich wie Arme, die nach uns greifen. Der Wald atmet, sein Puls wird in der feuchten Luft spürbar. Und wir? Wir sind nichts weiter als Eindringlinge in einer Welt, die nicht für uns gemacht wurde.
„Wie weit erstreckt sich dieser Wald noch?“, frage ich erschöpft, während ich meinen Blick durch das unendliche Dickicht schweifen lasse. Die Schatten der Bäume scheinen sich zu bewegen, und ein kalter Schauer kriecht meinen Rücken hinauf. „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass er uns beobachtet?“
Sylas hält inne, seine Augen glimmen im Halbdunkel. „Erinnerst du dich an deine Begegnung mit Aetherion?“ Seine Stimme ist ruhig, doch in ihr schwingt eine Schwere mit, die mich innehalten lässt. Ich nicke zögerlich. „Vor der Vereinbarung, die Eldralith mit dem Sonatius Mortaeda einging, war Aetherion eine Wächterin. Sie bewachte unsere Wälder. Das Wesen, das dich heute als seine Meisterin ansieht, war einst frei. Bevor sie ihr Leben dem Astralis verschrieb, streute sie einen Teil ihrer Kraft über Elindros, um sicherzustellen, dass die Natur in ihrer Abwesenheit weiterbesteht.“
„Aber Aetherion hat mir nie davon erzählt“, murmle ich und blicke mit neuen Augen auf die alten Bäume, die Erde unter meinen Füßen und die knorrigen Wurzeln, die sich wie Adern durch den Boden ziehen. „Sie sagte nur, sie sei meine Begleiterin durch Raum und Zeit.“
„Das ist sie – jetzt“, erklärt Sylas, seine Stimme gedämpft und voller Bedacht. „Seit sie Teil des Astralis wurde, ist das ihre Bestimmung. Aber denk einmal darüber nach, wie sehr die Natur mit uns und Elindros verwoben ist. Es ist in der Menschenwelt nicht anders – das kann ich bezeugen. Ich habe mit meinem Vater lange genug dort nach dir gesucht. Der Sonatius Mortaeda, so uralt und rätselhaft, wie er ist, scheint mit Aetherion verbunden. Und nicht nur er. Alle Wesen, denen du bisher begegnet bist, sind Teil eines größeren Netzes. Eines Netzes, das wir nicht begreifen können.“
Meine Gedanken wirbeln durcheinander, während ich erneut die uralten Bäume betrachte. „Das bedeutet also…“, beginne ich, doch Sylas beendet meinen Satz.
„Dieses Atmen, welches du spürst, gehört ihr. Die Natur selbst ist der letzte Beweis dafür, dass Aetherion einst ein Teil unserer Welt war.“
Ein Frösteln überkommt mich. Gibt es in jeder Dimension ein Wesen wie Aetherion? Oder ist Elindros das einzige Land, das von solchen Wundern gesegnet wurde?
Die Minuten verstreichen, ohne dass einer von uns spricht. Die Stille ist schwer, beinahe erdrückend. Mirael, die uns still begleitet, hat in all der Zeit kein Wort gesagt. Ihr Blick verliert sich in der Ferne, ihre Augen scheinen mehr zu sehen als nur die vor uns liegende Welt. Körperlich ist sie hier, doch ihr Geist wandert an unbekannte Orte.
Ich breche die Stille schließlich. „Wohin führt unser Weg als Erstes?“, frage ich, wissbegierig wie ein Kind, denn die Geografie von Elindros ist mir nach wie vor fremd.
Sylas schaut mich an, seine Augen ernst, aber voller Wärme. „Wie du weißt, sind Solnya und Losnat die beiden Dörfer an den Enden von Elindros“, beginnt er. „Beide werden von uralten, schier undurchdringlichen Wäldern umgeben. Diese Wälder trennen sie von den anderen Dörfern und verbinden sie doch miteinander. Mein Vater sagt, dass Aetherion diese Wälder einst als Zeichen ihres Bündnisses mit Elindros geschaffen hat. Solniw und Losniw, die Bewohner dieser Orte, sind Gegenpole – Licht und Schatten. Das wirst du auch an den Bäumen in Losnat erkennen.“
Er verstummt. Etwas in seiner Miene hält mich davon ab, nachzufragen. Doch mein Inneres ist ein Sturm aus Fragen. Was ist mit dem Wald von Losnat? Sind die Unterschiede so gewaltig? Ich weiß, dass mich mein Weg dorthin führen wird. Es scheint, als gäbe es keinen anderen Pfad.
Und vielleicht… ist das auch gut so. Denn dort, zwischen den Wurzeln dieses fremden Landes, liegen die Antworten, die ich suche: meine Herkunft, meine Bestimmung – und die Wahrheit über meine Eltern.
„Das bedeutet also, dass Losnat am anderen Ende von Elindros liegt?“, frage ich, und mein Blick bleibt an den immer dichter werdenden Bäumen hängen. Es ist, als ob der Wald auf meine Worte wartet. Wieder nickt Sylas, doch seine Miene verfinstert sich.
„Wie kommt es, dass die Gründer der beiden Dörfer – Rhovan Ardelon und Keldor Entium – einst Verbündete waren, wenn zwischen ihren Heimatorten eine solche Entfernung liegt?“, frage ich weiter, während die Frage wie ein Schatten über mir schwebt.
„Es war der damalige König Dareth Feroy, der sie zu sich rief, als er von ihren Kräften erfuhr“, erklärt Sylas, seine Stimme tief und nachdenklich. „Er erkannte ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und wusste, dass sie Schicksalsträger waren. Während der eine das Gedankenweben perfektionierte, erlangte der andere die Kontrolle über all die Elemente, die ihm zugänglich waren. Rhovan Ardelon jedoch war der Einzige, dem es gelang, mehrere Elemente gleichzeitig zu beherrschen. Ein Kunststück, das bis heute keinem anderen Solniw gelungen ist.“
Mehrere Elemente gleichzeitig? Die Vorstellung lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Ich stelle mir Rhovan Ardelon vor, einem Drachen gleich, der mit einem mächtigen Feuerstrahl seine Feinde niederbrennt, während er mit einer Hand Luftstöße freigibt und mit der anderen eisiges Wasser sprudeln lässt, als könnte er die Elemente nach seinem Willen formen. Vielleicht ist es eine überzogene Vorstellung, aber es hilft mir, dem Moment für einen Augenblick zu entfliehen.
„Jedenfalls waren sie von Anfang an wie Feuer und Flamme“, fährt Sylas fort, und ein leises Lächeln spielt um seine Lippen, als hätte er selbst eine Erinnerung an diese Zeit. „Du fragst dich bestimmt, woher sie stammten, bevor Solnya und Losnat überhaupt existierten. Es ist einfach: Sie gehörten dem Königreich an. Es gibt immer wieder Kinder, deren Eltern keine Bindung zu ihnen aufbauen können. Sie entwickeln tatsächlich ein solches Gefühl, dass sie ihre eigenen Säuglinge loswerden wollen. Diese Kinder werden im Königreich abgesetzt und von speziellen Elindine betreut, die ihr Wachstum und ihre Entwicklung genauestens überwachen. Die Bindung zu ihren Familien wird gekappt und bis heute ist es ein großes Geheimnis, welches nur den Königen anvertraut wird. Niemand kennt die tatsächliche Herkunft der Gründer aller Dörfer von Elindros.“
„Aber Keldor Entium hatte doch eine Schwester!“, entgegne ich, verwirrt. Ich versuche mir das Bild dieser Frau vorzustellen, die ich nie kennenlernen werde.
„Eine Zwillingsschwester“, korrigiert Sylas ruhig. „Damals waren die drei unzertrennlich. Legenden erzählen sogar, dass Velris und Rhovan einander geliebt haben.“
„Und warum dann dieser Verrat?“, frage ich, entsetzt. Die Vorstellung, dass Velris ihren eigenen Bruder ermordet haben soll, lässt mich frösteln.
Sylas schaut mich mit einer Mischung aus Bedauern und Verständnis an. „Du verstehst noch nicht viel von Elindros, das weiß ich“, sagt er leise. „Aber um dir all das zu erklären, fehlt uns einfach die Zeit.“
Ein flimmerndes Gefühl der Verzweiflung überkommt mich. Ich kann nicht einfach warten, bis ich mehr erfahre, nicht, wenn so viele Fragen in mir brennen. Doch bevor ich etwas sagen kann, mischt sich Mirael ein.
„Wenn du wirklich eine Losniw bist, solltest du in der Lage sein, in die Vergangenheit zu reisen“, zischt sie. „Oder ist das nicht das, was das Gedankenweben bewirken kann? Meiner Meinung nach ist diese Fähigkeit viel zu mächtig, um dessen Nutzer unbewacht zu lassen.“
Die Worte treffen mich wie ein Schlag, doch etwas in mir erwacht. Das Gedankenweben… Natürlich! Wenn ich meine Fähigkeit weiterentwickeln kann, könnte ich in die Vergangenheit blicken, die Ereignisse selbst erleben und all die Geheimnisse lüften, die sich um die Geschichte von Elindros ranken.
„Vespera ist noch nicht versiert im Gedankenweben“, erklärt Sylas, ohne sich von Miraels verbittertem Ton beeinflussen zu lassen. „Und du weißt, wie riskant es ist, in die Vergangenheit zu reisen. Das birgt Gefahren, die niemand unterschätzen sollte.“
„Das Gedankenweben ist eine der mächtigsten, wenn nicht die mächtigste Fähigkeit in Elindros“, sagt Mirael leise, ein Hauch von Schadenfreude in ihrer Stimme. „Doch ihre Nutzung ist nicht ohne Preis. Die Losniw zahlen für die Sünden ihrer Vorfahren – und sie werden noch lange dafür büßen.“
Ich starre sie an, ihr Gesicht von einer dunklen Miene verhangen. „Warum hasst du die Losniw so sehr?“, frage ich, die Worte aus mir herausdrängend. „Ich verstehe, dass deine Vorfahren den Verrat von Velris Entium nie vergessen konnten. Aber was ist mit dir? Was haben die Kinder von heute damit zu tun? Haben sie deinen Hass verdient, nur wegen ihrer Herkunft?“
Miraels Augen verengen sich, und ihre Lippen pressen sich zu einer schmalen Linie. Sie öffnet den Mund, doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken.
„Du verstehst nichts!“, zischt sie schließlich, doch ihr Blick verrät, dass sie von meinen Worten erschüttert ist. „Du bist noch zu naiv, Vespera. Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, für die Sünden der Vergangenheit zu bezahlen.“ Ihre Stimme wird leiser, fast unhörbar. „Und eines Tages wirst du verstehen, dass der Hass, den du gerade nicht begreifen kannst, der einzige Schutz ist, den wir noch haben.“
In dieser Stille, die auf Miraels Worte folgt, bleibt mir nur ein Gefühl der Beklemmung. Die Luft um uns wird schwerer, die Schatten des Waldes tiefer, und ich kann nicht anders, als mich zu fragen: Wie sehr muss den Solniw diese Sichtweise eingetrichtert worden sein, dass sie alle anderen Blickwinkel ausschließen? Wie tief muss der Schmerz sitzen, den der Verrat von Velris Entium hinterlassen hat, dass er ganze Generationen dazu zwingt, in einem ewigen Kreis der Bitterkeit und des Hasses gefangen zu bleiben? Was ist aus all dem geworden, was uns einst verbunden hat?
Mein Blick wandert unruhig zu Sylas, doch auch er scheint in Gedanken versunken. Vielleicht stellt er sich die gleiche Frage – oder vielleicht hat er die Antworten längst für sich selbst gefunden. Die Zwillingsschwester von Keldor, Velris’ Verrat, die Dunkelheit, die mit der Geschichte von Losnat und Solnya verbunden ist – all das scheint sich zu einem unlösbaren Knoten zusammenzuziehen, der uns festhält.
„Vielleicht ist es nicht nur der Hass, der uns bindet“, sage ich schließlich, fast mehr zu mir selbst als zu den anderen. „Vielleicht ist es auch die Angst vor der Wahrheit. Vor dem, was passieren würde, wenn wir anfangen würden, die Vergangenheit zu hinterfragen, statt sie zu verdammen.“
Mirael schnaubt nur verächtlich, doch ihre Augen blitzen kurz auf, als ob sie die Wahrheit in meinen Worten spürt. Sylas jedoch schaut mich ernst an, als würde er in mir nach einer Antwort suchen, die er selbst nie aussprechen konnte. Die Wahrheit. Die Wahrheit, die in all den Geheimnissen von Elindros verborgen liegt.
„Die Wahrheit ist nicht immer das, was wir uns wünschen“, sagt Sylas leise, fast wie ein warnender Flüsterton im Wind. „Und manchmal ist der größte Akt der Stärke, sie nicht zu suchen. Doch du hast recht, Vespera. Wir müssen lernen, jenseits der Schmerzen der Vergangenheit zu sehen. Nur so können wir uns eine Zukunft aufbauen, die nicht von alten Gräben bestimmt wird.“
Ich nicke langsam, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich diesen Weg wirklich gehen will. Wenn die Losniw tatsächlich so grausam sind, wie mir berichtet wird, werde ich womöglich meine eigene Existenz verabscheuen. Vor diesem Szenario fürchte ich mich am meisten.
„Wir sollten diesen Weg nicht nehmen, Sylas“, sagt Mirael plötzlich, und der Klang ihrer Worte lässt uns stocken. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, während ich in die Dunkelheit des Waldes vor uns blicke. Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Wir haben den Wald gerade erst hinter uns gelassen, doch auf der anderen Seite des Fjords breitet sich der dichte Wald weiter aus – unheimlich, unerreichbar, solange wir nicht die Brücke betreten.
„Du hast recht, verzeih mir“, murmelt Sylas erschrocken und dreht sich um. Mirael folgt ihm sofort, doch ich bleibe wie erstarrt stehen, mein Blick fest auf dem anderen Waldstück verankert. Die Schatten dort scheinen mich zu rufen.
„Vespera, kommst du?“
„Warum wollt ihr diesen Weg nicht nehmen?“, frage ich, die Neugier in meiner Stimme deutlich spürbar. „Ist dort etwas, das uns gefährlich werden könnte?“
„Nein, also…“, beginnt er, doch Mirael unterbricht ihn mit schneidender Schärfe.
„Ich habe nicht vor zu sterben, bevor ich meine Mutter gerächt habe“, zischt sie, und ihre Augen, die das fremde Waldstück fixieren, flackern mit einer düsteren Entschlossenheit. „Ungeachtet dessen, wie sehr ich dich verachte, Vespera, werde ich nicht zulassen, dass du diese Brücke überquerst.“
Welche Gefahr verbirgt sich auf der anderen Seite, dass selbst Mirael mich nicht durchlassen will? Trotz meiner brennenden Neugier, die vor allem in Elindros wie ein Feuer entfacht wurde, löchere ich nicht weiter nach. In der Menschenwelt, in der ich aufgewachsen bin, konnte ich diesen unstillbaren Wissensdurst nie wirklich befriedigen. Die Bücher, die ich hin und wieder bekam, öffneten mir nur einen Hauch der Welt, in der ich siebzehn Jahre meines Lebens verbracht habe. Doch die Wahrheit ist, dass ich nie in der Lage war, alleine von einem Ort zum anderen zu reisen. Die strengen Einschränkungen des Königs und der Königin hielten mich immer an einem unsichtbaren Band fest, als ob die Welt außerhalb meiner Reichweite lag.
Doch jetzt ist der Moment gekommen, den ich nicht länger aufschieben kann. Um unsere Reise fortzusetzen und keine Zeit zu verlieren, wende ich mich meinen Gefährten zu. Gemeinsam setzen wir unseren Weg fort. Zurück in den tiefen Wald, der nun in meinen Augen eine völlig andere Bedeutung hat. Der vertraute Duft der Erde, das Rauschen der Blätter – es fühlt sich an, als ob Aetherion mir etwas zuflüstert.
Mit einem kurzen Griff ziehe ich das Astralis aus meiner Jackentasche, das ich zu meinem Glück nie woanders verstaut habe. In Anbetracht der plötzlichen Entscheidung, Solnya zu verlassen, hätte ich es leicht vergessen können. Sylas und Mirael gehen nebeneinander, schweigend, und ich folge ihnen, mein Blick in die Dunkelheit des Waldes gerichtet. Aetherion liegt fest in meiner Hand, als würde ich sie damit beschützen können.
Vielleicht ist es nicht nur meine Aufgabe, Elindros zu befreien, sondern auch diejenigen, die durch diese alte Vereinbarung an eine endlose Bestimmung gefesselt sind? Es ist, als ob das Schicksal von mehr als nur einem Elindine in meinen Händen liegt – und ich beginne zu begreifen, dass die wahre Reise vielleicht erst beginnt.