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Schattenkinder (German)
Kapitel 16: Wer Entscheidet?

Kapitel 16: Wer Entscheidet?

Wir sind schon seit Stunden unterwegs, und langsam fühlt es sich an, als hätten meine Beine längst aufgegeben. Vielleicht schleift Sylas mich unbemerkt hinter sich her, und ich bilde mir bloß ein, noch zu laufen. Jeder Schritt ist schwerer als der letzte, und meine Füße brennen wie Feuer.

„Wir sollten bald eine Pause einlegen“, meint Sylas schließlich, sein Ton nüchtern, aber mit einem Hauch Sorge. Es ist offensichtlich, dass er längst gemerkt hat, wie nah ich an meiner Grenze bin.

Mirael jedoch würdigt mich keines Blickes. Für sie bin ich nicht mehr als ein notwendiges Übel. Dass sie mich an ihrer Seite dulden muss, war keine Wahl, sondern eine Fügung, die sie nur für ihren Rachefeldzug gegen die Sualtier akzeptiert. Seit der Brücke hat sie mich keines einzigen Blickes gewürdigt. Vielleicht wäre ihr selbst ein Sturz in den Abgrund lieber gewesen.

„Wo wäre es am sichersten?“, fragt sie Sylas und sieht ihn erst an, als sie den Satz beendet hat. Ihre Stimme ist kühl, ihre Augen wie Eis. „Oder meinst du, die Sualtier könnten uns noch einholen?“

Sylas seufzt leise. „Das ist nicht auszuschließen. Aber wir sind keine Maschinen. Eine Pause ist notwendig. Dir sieht man es vielleicht nicht an, Mirael, aber Vespera—“

„Die Losniw“, unterbricht sie ihn und lächelt verächtlich. „Natürlich will sie eine Pause. Vielleicht möchte sie ja nur, dass die Feinde uns einholen.“

„Wenn das so wäre, hätte ich nicht mit euch das Dorf verlassen, oder…“, entgegne ich scharf, doch beiße mir sofort auf die Zunge. Meine Worte hätten beinahe mehr verraten, als sie sollten. Die Wahrheit, dass Sylas nie das Anwesen verlassen wollte, dass er bereit war, alles hinter sich zu lassen, nur um mich zu schützen – das war ein Geheimnis, das ich ihm versprochen hatte zu bewahren. Und doch war es mein Drängen, mein verzweifeltes Flehen, das ihn letztendlich auf diesen Weg gezwungen hat.

„Oder?“, wiederholt Mirael und hebt eine Augenbraue. „Was wolltest du sagen?“

„Nichts“, antworte ich und werfe Sylas einen Blick zu. „Wie oft soll ich mich noch bei dir entschuldigen, Mirael? Reicht es nicht irgendwann, damit du mich nicht mehr als deinen Feind ansiehst?“

„Sobald meine Mutter gerächt ist“, erklärt sie mit kalter Entschlossenheit. „Bis dahin werde ich dich ertragen. Aber bilde dir nichts ein – danach werde ich mich um dich kümmern.“

„Ich werde nicht gegen dich kämpfen“, stammele ich, erschrocken von ihrem Hass.

„Dann werde ich einen schnellen Sieg genießen“, erwidert sie, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen. „Wenn du wirklich Reue empfindest, wirst du dich stellen.“

„Hörst du dir eigentlich zu?“, mischt sich Sylas ein. Seine Stimme zittert vor Wut. „Wie kannst du so besessen sein, Mirael? Vespera ist nicht dein Feind! Kannst du dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen?“

Miraels Wut explodiert in einem Schrei, so laut, dass mein Herz einen Schlag aussetzt. Meine Sorge wächst ins Unermessliche. Haben die Sualtier das gehört? Mirael ist das egal – ihr Blick funkelt vor Zorn, mörderisch und unbeherrscht. Sylas reagiert schnell und presst seine Hand auf ihren Mund. Für einen Augenblick bleibt alles still, nur unser rasendes Atmen und das Flüstern des Windes sind zu hören.

Dann hören wir es: Schritte. Ganz in der Nähe. Sylas signalisiert, dass wir uns verstecken sollen, und wir folgen ihm auf Zehenspitzen. Durch das dichte Laub spähen wir hinab auf einen unteren Pfad. Zwei Sualtier stehen dort. Der Mann ist gehüllt in eine schwere, einschüchternde Rüstung, deren Metall im fahlen Licht matt schimmert. Sein Gesicht, ebenso wie das der Frau an seiner Seite, wird von einer finsteren Maske verborgen – jener beunruhigend leblosen, starren Maske, die die Sualtier auch während ihrer grausamen Kämpfe tragen. Die anonymen Gesichter verleihen ihnen eine fast übernatürliche Kälte, als wären sie nicht länger Elindine, sondern seelenlose Werkzeuge des Krieges.

Sie reden, scheinbar ahnungslos.

„Diesen Schrei habe ich mir sicherlich nicht eingebildet…“, murmelt der Mann mit irritierter Stimme, während er sich die schwere Maske vom Gesicht reißt. „Dieses verdammte Ding raubt mir noch den letzten Nerv. Selbst hier draußen, wo die Luft frisch ist, erstickt es uns beinahe.“ Er schüttelt den Kopf, seine Worte tragen einen Unterton von Frustration, als er die Maske betrachtet, als sei sie ein Symbol all der Lasten, die er trägt.

Die Frau an seiner Seite folgt seinem Beispiel. Mit einem leichten Seufzen zieht auch sie die Maske ab und schiebt ihre Kapuze zurück. Ein Fluss von feuerroten Haaren fällt über ihre Schultern, glänzend und wild im schwachen Licht. Sie wirft einen prüfenden Blick in die Ferne, ihre scharfen Augen scheinen nach etwas zu suchen.

„Ist sie noch hinten und hält Wache?“ Seine Stimme ist ruhig, aber ein Anflug von Sorge schwingt mit, als hätte er einen leisen Verdacht, dass etwas nicht stimmt.

„Ich sehe mal nach“, sagt die Frau und geht den tiefergelegenen Pfad entlang, ihre Haltung vollkommen aufrecht und selbstsicher.

Obwohl der dichte Bewuchs den unteren Weg wie einen Tunnel erscheinen lässt, scheint sie sich mühelos darin zu bewegen. Die Zweige und Blätter streifen ihre Schultern, doch sie schreitet gleichmäßig, als hätte sie keinen Grund zur Eile oder Vorsicht. Von unserem erhöhten Standpunkt aus wirkt sie wie ein Schatten, der ruhig durch das Unterholz gleitet – von der Vegetation teils verdeckt, teils enthüllt. Ihr Gang ist klar und entschlossen, die Geräusche ihrer Schritte verschwinden im gedämpften Summen des Waldes.

Ich folge ihr vorsichtig, das Herz bis zum Hals schlagend. Durch das dichte Geäst der Bäume hindurch kann ich sehen, wie sie sich einer weiteren Gestalt nähert – einem anderen Sualtier, dessen Statur deutlich kleiner ist. Es ist kaum zu glauben, dass auch diese Person zu den grausamen Kriegern gehört.

„Bist du bereit?“, fragt die Frau mit einer überraschend liebevollen Stimme. Ihre Worte klingen sanft, fast fürsorglich, und in diesem Moment frage ich mich, was für eine Beziehung zwischen den beiden bestehen mag.

Die unbekannte Gestalt zieht ebenfalls ihre Maske ab, und das, was sich dahinter verbirgt, ist ein Gesicht, das keineswegs zu den kriegerischen Sualtier passt. Es ist das eines Kindes – eines jungen Mädchens, das kaum älter als zehn Jahre sein dürfte. Zwei große, ängstliche Augen blicken auf die Frau, die sie liebevoll anspricht, und für einen Moment scheint die Welt um uns herum stillzustehen. Ihre Furcht ist so deutlich in ihrem Blick, dass es fast zu schmerzen scheint.

Das Mädchen nickt, zögernd. „Mama, bist du sicher, dass wir das schaffen? Ich will das alles nicht mehr. Anderl hat all diese Kinder getötet…, er hat dabei gelacht…! Papa… Papa hat doch gesagt, wir gehen bald fort. Warum dauert das so lange?“

Die Frau umarmt sie. Es ist eine Szene, die mich innehalten lässt. Diese Elindine… sind auch nur Opfer. Familien in einem endlosen Krieg. Mein Atem wird ruhiger, und ich beschließe, diese Information Mirael und Sylas mitzuteilen.

Ich husche zu den beiden rüber. Doch Mirael sieht das Szenario aus einer anderen Perspektive.

„Das ist unsere Chance“, flüstert sie, ihre Stimme vor Adrenalin vibrierend.

Noch bevor ich reagieren kann, formt sich ein Blitz über ihrem Zeigefinger. Panik überkommt mich, ich packe ihren Arm – zu spät. Der Blitz durchbohrt die Rüstung des Mannes und trifft ihn direkt in die Brust. Sein Körper krümmt sich, seine Schreie hallen durch den Wald. Sekunden verstreichen wie Stunden, bis er schließlich regungslos liegen bleibt.

„Papa?“, ruft das Mädchen, ihre Stimme zerbricht.

Die Frau stürzt zu ihm, ihre Hände zittern, als sie sein Gesicht hält. „Nein… Morrik! Warum?“

„Warum?“, flüstert Sylas an Mirael gewandt. „Warum tust du das? Siehst du nicht, dass sie genauso leiden wie wir?“

Mirael reagiert nicht. Stattdessen springt sie hinab, direkt zu der Frau und dem weinenden Mädchen. „Warum?“, zischt sie, ihre Stimme voller Hass. „Ich frage mich auch, warum ihr Sualtier-Abschaum so vielen Solniw das Leben genommen habt!“

Die Frau sieht sie an, ihre Augen voll Zorn und Tränen. „Ich werde dich töten!“

Ein wilder Kampf entfacht in der Stille des Waldes. Miraels Augen blitzen vor Entschlossenheit, als sie ihre Hände hebt, um ihre Kräfte freizusetzen. Blitze zucken über ihre Finger, und die Luft um uns herum knistert vor Energie. Doch die Frau reagiert schneller, als ich es erwartet hätte. Mit einer geschmeidigen Bewegung weicht sie den Blitzen aus, die nur haarscharf an ihr vorbeiziehen und sich in die Bäume hinter ihr verfangen.

In dem Moment, als der Nebel aus ihren Händen entweicht, wird mir klar, was sie vorhat. Der Nebel umhüllt sie wie eine lebendige Wolke, und plötzlich schießen dutzende Messer aus der undurchsichtigen Dämmerung. Sie fliegen in geschwungenen Bahnen, als wären sie eine Verlängerung ihres eigenen Körpers, als ob die Frau ihre eigene Aura in tödliche Klingen verwandeln könnte. Die Messer rasen durch die Luft, ihre Klingen glitzern im fahlen Licht, das durch die Baumkronen bricht, und jedes von ihnen scheint Mirael direkt anzugreifen.

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Doch Mirael ist vorbereitet. Sie weicht in einem fließenden, fast tänzerischen Bewegungsfluss aus, ihre Blitze knistern erneut und zerschneiden die Luft. Ein Messer trifft sie knapp am Arm, doch sie ignoriert die Wunde, während sie mit einer flinken Bewegung den nächsten Blitz entfesselt, der wie ein gezielter Pfeil auf die Frau zuschießt.

Der Kampf ist grausam, schnell und erbarmungslos. In einem Wirbel aus Blitzen und fliegenden Klingen geht es Schlag auf Schlag. Die Luft ist gesättigt mit einer elektrischen Spannung, die den Boden vibrieren lässt. Mirael, wie ein Sturm aus reiner Wut, entfaltet ihre Kräfte in einer Explosion aus Energie, die die Frau immer weiter zurückdrängt. Doch die Sualtier weicht geschickt aus, ihre Messer singen durch die Luft, und der Kampf erreicht seinen Höhepunkt.

Dann, mit einer letzten, blitzschnellen Bewegung, überwältigt Mirael die Frau. Sie greift sie am Arm, und ich sehe zu, wie die Spannung in Miraels Körper zu einem explosiven Höhepunkt ansteigt. In diesem Moment wird der Körper der Sualtier wie eine Schnur geradegezogen. Die Elektrizität, die in Mirael fließt, verlagert sich mit einer schmerzhaften Intensität in den Körper der Frau. Sie kann es nicht aushalten, während die Stromstöße sie zu durchzucken beginnen. Ihre Muskeln verkrampfen, sie wird förmlich von der Energie zerfetzt.

„Du verdammtes…“, zischt die Frau, ihre Zähne fletschend, und blickt ein letztes Mal zu ihrer Tochter, die ihr mit weit aufgerissenen Augen und panischer Angst entgegen sieht. „Lyara…“

Mirael lässt ihr keine weitere Sekunde. Mit einer schnellen Bewegung greift sie mit der anderen Hand das Gesicht der Sualtier und drückt es brutal gegen den Boden. Die Frau beginnt panisch zu kreischen, ihre Beine zappeln in einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu befreien, doch Mirael hält sie fest. Die Schreie der Frau hallen durch den Wald, ein unaufhörlicher, quälender Klang, der mit jedem Moment verzweifelter wird.

Lyara, die Tochter, steht daneben. Ihre Hände ruhen auf dem kalten Brustpanzer ihres Vaters, der leblos am Boden liegt. In ihren Augen spiegeln sich Tränen, und ein Ausdruck von purem Entsetzen verzerrt ihr junges Gesicht. Sie hat den Tod unzähliger Solniw miterleben müssen, doch der Tod ihrer Eltern – ihrer Mutter, die jetzt in Miraels Griff liegt – trifft sie mit einer unerträglichen Wucht. Das Mädchen steht starr, ihre kleinen Finger zittern, als sie in die verzweifelte Szene vor ihr starrt. Der Schmerz in ihren Augen ist ein Spiegelbild des Verlusts, den sie bereits erlitten hat.

„Mama…“, flüstert Lyara, ihre Stimme zittert, kaum mehr als ein Hauch in der dichten Stille des Waldes.

Mirael, noch geblendet von der Euphorie des Sieges, lässt den Griff um die Frau langsam los. Sie springt auf ihre Beine, doch für einen Augenblick bleiben ihre Augen auf dem Gesicht der Sualtier haften. Die Blitze, die sie durchflossen haben, haben die Haut der Frau wie Wachs geschmolzen, ihre Züge sind entstellt, ihr Gesicht eine groteske Maske aus verbranntem Fleisch. Der Anblick ist so entsetzlich, dass es mir den Magen umdreht. Ein Würgereiz überkommt mich, und kurz darauf kann ich den Widerstand nicht mehr halten. Ich übergebe mich, mein Magen verkrampft sich vor Ekel und Entsetzen.

„Keine Sorge, Kleine“, spricht Mirael schließlich mit überraschend ruhiger Stimme. Ihre Worte klingen seltsam leer, fast so, als hätte sie vergessen, dass sie gerade eben noch voller Zorn war. „Ich bin eine Solniw, weißt du? Wir töten keine Ki…“

Doch die Worte erreichen Lyara nicht. In ihrem Blick ist nichts mehr als Verzweiflung. Mit einem schnellen, panischen Griff zieht das Mädchen ein Messer aus ihrer Tasche. Die Klinge ist fein poliert, makellos, als wäre sie nie benutzt worden. Ihre kleinen Hände zittern, doch ihre Entschlossenheit ist deutlich. Der Ausdruck in ihren Augen spricht von einer grausamen Klarheit, einem Entschluss, der keine Umkehr kennt.

Bevor jemand reagieren kann, sticht Lyara sich das Messer in die Kehle. Ein scharfer, kaum hörbarer Laut begleitet den tödlichen Stoß, der den letzten Atemzug des Kindes abrupt zum Stillstand bringt. Miraels Augen weiten sich, ihre Hand zuckt in die Richtung des Mädchens, doch es ist zu spät. Lyara sinkt zu Boden, der Tod sofort. Sie fällt mit einem leisen Geräusch in die Arme ihres Vaters, dessen lebloser Körper sie nun endgültig umhüllt.

Der Moment scheint sich zu dehnen, als ob die Zeit selbst für einen Augenblick innehält. Mirael starrt auf das Kind, das in den Armen des Vaters liegt, eine Leiche unter einer Leiche. Ihre Augen sind leer, fassungslos. Ihr Blick geht zwischen den Toten hin und her, als könne sie es nicht begreifen, was sie gerade getan hat.

Es ist ein grausamer, schmerzlicher Augenblick, der alles verändert. Lyara, das Kind, das noch so viel Leben vor sich hatte, ist jetzt nichts mehr als ein Schatten in den Händen der Toten.

„Was… habe ich getan?“, flüstert sie, ihre Knie geben nach. Der Hass, der sie so lange angetrieben hat, ist verschwunden, und an seiner Stelle bleibt nur Leere.

Sylas und ich bleiben stumm. Was könnte man in einem Moment wie diesem noch sagen?

Miraels Schrei zerschneidet die Stille des Waldes wie ein durchdringender, wild verzweifelter Klang, der die Luft mit Schmerz und Unglauben füllt. Ihre Hände fahren mit rasender Wut durch ihr Haar, ihre Finger verkrampfen sich, als könnte sie den unerträglichen Schmerz, der sie überflutet, auf diese Weise abstreifen. Mit einem letzten, erschütternden Aufschrei wirft sie sich auf die Erde, ihre Ellbogen treffen hart auf die weiche, feuchte Erde, die sich sofort mit Blut und Tränen vermischt.

Ihre Schreie hören nicht auf, sie brechen aus ihr heraus, als wäre sie ein Tier in den letzten Zügen. Der Schmerz in ihrer Stimme, die Verzweiflung in jedem Ton, ist unerträglich. Mirael, die die Rache über alles gestellt hatte, zerbricht unter der Last dessen, was sie gerade getan hat.

„Das war nicht das Ende!“, brüllt sie, als könne sie die Realität mit ihren Worten verändern. „Ich wollte nicht, dass es so endet! Nicht so!“

Ihre Stimme zerbricht, wird fast zu einem Flüstern, das in der Luft verhallt. Die Worte kommen nicht mehr mit der Wut, die sie so lange getragen hatte. Jetzt sind sie nur noch eine leere Erinnerung an das, was sie verloren hat – ihre Kontrolle, ihre Überzeugung, ihr Ziel.

Aber was hat sie sich erhofft? Was hat sie wirklich erwartet? Dass der Tod, den sie über all diese Elindine gebracht hat, plötzlich die Erlösung für sie bringen würde? Dass sie von all dem Schmerz, der sie über Jahre hinweg geprägt hat, befreit wird, sobald sie die Sualtier vernichtet?

Die Kälte, die nun in ihr wütet, ist nichts im Vergleich zu der heißen Flut von Emotionen, die sie erdrückt. Ihre Handflächen graben sich in den Boden, als könnte sie sich durch den Dreck hindurch in eine andere Welt ziehen, weit weg von dem Chaos, das sie selbst entfesselt hat.

Doch auch jetzt, in ihrem Schmerz, weiß Mirael, dass es kein Zurück mehr gibt. Die Entscheidung, die sie getroffen hat, ist unwiderruflich. Ihre Rache hat den Preis des Unschuldigen gefordert. Und dieser Preis wird sie für immer verfolgen.

„Warum?“, murmelt sie, als ihre Finger in den Boden krallen. „Warum musste es so sein?“

Während ich Mirael stumm beobachte, spüre ich, wie sich Sylas’ Körper neben mir anspannt.

„Verdammt“, flüstert er, und ohne ein weiteres Wort springt er zu Mirael.

Ich begreife zu spät, was passiert, und kann nur wieder hilflos zusehen. In der Ferne entdecke ich zwei Männer, die ebenfalls Masken tragen – genau wie die der Sualtier. Noch mehr von ihnen? Wie haben sie uns so schnell eingeholt?

„Wir müssen diesen Bastard Morrik finden“, zischt einer der beiden, seine Stimme wie ein Knurren.

„Und seine Hurenfrau“, fügt der andere hinzu, seine Stimme schrill und unangenehm. „Die Tochter scheint auch weg zu sein.“

„Ich wusste, dass er uns verraten wird“, zischelt der Erste wütend. „Seit er mit dieser Tira gefickt hat, ist er nicht mehr derselbe! Früher hat er Elindine mit Leidenschaft den Kopf abgehackt, aber in Solnya hat er sich nicht mal getraut, einem Solniw ein Haar zu krümmen!“

„Können wir diesen Gerüchten wirklich vertrauen?“ fragt der Zweite und klingt unsicher, als wolle er sich selbst davon überzeugen. „Morrik ist unser bester Krieger. Wenn wir ihn finden, können wir ihn doch nicht einfach umbringen!“

„Drakhan Vathar hat es angeordnet“, erklärt der Erste und spuckt mit verächtlichem Blick auf den Boden. „Eine Scheide kann selbst das stärkste Schwert brechen.“

Als Sylas sich Mirael nähert, knistert die Luft um ihn herum mit Energie. Ein leises Knacken ertönt, während seine wasserbasierten Kräfte zum Leben erwachen, und die Feuchtigkeit in der Luft verzerrt sich für einen Moment, als ob er das Wasser selbst manipuliert. Er landet neben ihr, bewegt sich mit solcher Geschwindigkeit und Eleganz, dass es fast so wirkt, als gleite er durch Wasser.

Mit einer fließenden Bewegung greift er nach Mirael. Seine Finger leuchten mit der Macht des Wassers, das sanft und geschmeidig um seine Hände wirbelt. Ohne Mühe hebt er sie in die Luft, wobei die Strömungen, die er kontrolliert, den Auftrieb erzeugen, der sie leicht wie eine Feder macht. Durch seine Wasserbeherrschung kann er die Schwerkraft überwinden, und Mirael wird scheinbar mühelos emporgehoben, als ob er unsichtbare Kräfte benutzt, die sie sanft anheben.

Kaum hat er Mirael sicher in der Luft, lässt er sie wieder sanft zu Boden gleiten, während sich die Feuchtigkeit in der Luft wieder beruhigt. Sylas’ Kontrolle über das Wasser ermöglicht ihm, all dies mit Leichtigkeit zu tun, und in einem Augenblick stehen sie beide wieder fest auf dem Boden. Mit seinen Kräften als stabile Grundlage steht er ruhig neben Mirael, jeder seiner Bewegungen zeigend, wie effektiv und präzise seine Wasserkraft ist.

„Was ist ein Drakhan?“ flüstere ich, völlig verwirrt.

„Drakhan ist ein Titel, mit dem die Sualtier ihre Anführer ansprechen“, erklärt Sylas ruhig, aber die Schwere seiner Worte lässt einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. „Wenn das stimmt, und Korrik Vathar ist hier, dann wird er wohl derjenige gewesen sein, der meinen Vater so zugerichtet hat.“

Zyar hat gegen den Anführer der Cata Sualti gekämpft?

Die beiden Männer erreichen schließlich den Ort, an dem Mirael noch vor kurzem gekämpft hat. Der Erste schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge, seine Verachtung ist deutlich zu spüren.

„Tja, das Enthaupten dieser alten Frau war ja nichts im Vergleich“, meint der Zweite mit einem grausamen Lächeln.

Mirael blickt zu den beiden Männern. Ihr Zittern hat aufgehört, aber der Blick in ihren Augen ist jetzt nur noch voller Verwirrung und Zorn.

„Stimmt es, dass dieser Rasha Vane eine alte Frau brutal vor ihrer Tochter ermordet haben soll?“ fragt der Erste, seine Stimme voller Unglauben. Der Zweite nickt zustimmend und dann lacht der Erste höhnisch. „Dieser Kerl ist ein echtes Vorbild.“

„Vorbild…“, flüstert Mirael und ballt die Fäuste. Der Zorn in ihren Augen ist so wild, dass ich fürchte, sie könnte gleich explodieren.

Doch bevor sie etwas unternehmen kann, hält Sylas sie zurück, seine Blicke sind eisern. „Dieser Kampf wäre dein sicherer Tod“, sagt er leise. „Vergiss nicht, warum du deine Kräfte eigentlich nicht einsetzen solltest.“

Was meint er damit? Warum darf sie ihre Kräfte nicht nutzen?

Mirael lässt ihre Schultern sinken, und ein seufzendes Nicken verrät, dass sie die Wahrheit kennt, auch wenn es sie innerlich zerreißt. Meine Blicke wandern wieder zu den Sualtier. Der Zweite, dessen Stimme immer noch unangenehm schrill klingt, richtet seinen Blick auf Lyara.

„Sogar das Kind haben sie nicht verschont“, sagt er mit einem widerlichen Grinsen. „Tot ist sie immer noch gut zu gebrauchen.“

Der Erste antwortet knapp: „Beeil dich. Wir haben nicht den ganzen Tag.“

Der andere winkt ab und geht auf Lyara zu. Mit einem gleichgültigen Ruck packt er den leblosen Körper des Kindes an den Haaren und schleift ihn aus den Armen ihres Vaters.

„Das können wir nicht zulassen“, flüstere ich, die Worte stocken mir im Hals. „Er wird sie…“

„Was sollen wir tun?“ Sylas’ Worte sind kühl, während er ruhig spricht. „Sie ist tot. Was auch immer er mit ihrem Leichnam anstellt, es wird nichts an ihrem Tod ändern. Lasst uns verschwinden. Wir haben die Informationen, die wir brauchen.“