Novels2Search
Schattenkinder (German)
Der Sprung durch Raum und Zeit

Der Sprung durch Raum und Zeit

Schon wieder diese Stimme! Sie hallt in meinem Kopf wider, doch woher kommt sie? Aus welcher Richtung spricht sie zu mir? Dafür bleibt keine Zeit – das muss warten. Zuerst muss ich diese Soldaten und... meinen Vater loswerden. König Mukuta blickt mich an, doch diesmal ist es anders. Kein Hauch von Verachtung in seinen Augen, wie ich es gewohnt bin. Stattdessen... Angst. Er fürchtet mich. Aber warum? Warum bin ich die Böse in dieser Geschichte? Ich wurde gegen meinen Willen mit Lord Louweris verheiratet! Beinahe hätte ich mich in mein Schicksal ergeben.

„Ich... eine Verräterin?“, meine Stimme zittert vor Unglauben, als ich den Mann ansehe, der mein Vater sein soll. „Du und deine Königin habt mich gezwungen, einen Mann zu heiraten, der älter ist als du selbst!“

„SCHWEIG!“ Seine Stimme peitscht durch die Luft, als er auf mich zuschreitet, voller Zorn.

Ich hebe meine Hand, wie um seine Worte abzuwehren. „Wie lange willst du mich noch zum Schweigen bringen, Vater? Mein ganzes Leben lang hast du versucht, mich loszuwerden! Du hast mich eingesperrt, nur um mich in die Gefangenschaft eines anderen zu geben! War das immer dein Plan?“

Sein Zögern ist unverkennbar, und in diesem flüchtigen Augenblick durchzuckt mich die bittere Wahrheit: Der wahre Verräter steht direkt vor mir. Doch die Wahrheit ist wie der Wind, unsichtbar und ohne Bedeutung für jene, die sie nicht spüren wollen. Um uns herum erstreckt sich der königliche Garten, ein Meer aus blühendem Leben, doch alles wirkt leblos unter der Last des Verrats. Die Höflinge und Soldaten, verteilt zwischen Rosenbüschen und Marmorfiguren, haben längst Partei ergriffen – für die Königsfamilie. Und ich? Ich bin ein zitternder Funke inmitten dieser überwältigenden Stille, ein letzter Schein in der Dunkelheit, der bald verlöschen wird.

„Ergreift die Verräterin“, befiehlt der König, seine Stimme ist seltsam ruhig, fast schon wie ein sanftes Raunen in der warmen Abendluft. „Sperrt sie in den Kerker, bis das Verhör beginnt.“

Schon wieder Ketten, schon wieder die Enge eines Gefängnisses? Wie lange soll ich in der Finsternis leben, während sich die Intrigen um mich her zusammenziehen?

Die Soldaten setzen sich langsam in Bewegung, ihre Schritte knirschen auf dem Kiesweg, als sie sich mir vorsichtig nähern. Der König bleibt hinter ihnen, unbewegt wie eine Statue, das Kinn hoch erhoben, als habe er längst über mein Schicksal entschieden. Im Zwielicht des Gartens entdecke ich die Königin. Sie steht an der Seite von Kronprinz Yula, ihre Augen fest auf das Geschehen gerichtet. Nur einen Moment lang kreuzen sich unsere Blicke, doch dieser Augenblick reicht aus, um mir die grausame Wahrheit zu enthüllen: Das alles hier war ihr Plan, von Anfang an.

War es ihre Absicht, mich in die Ehe mit Lord Louweris zu treiben? Hat sie dafür gesorgt, dass die Haarnadel genau auf dem Nachtkästchen platziert wurde, wo ich sie finden würde? Sie wusste, dass ich – in dem Moment, in dem Louweris seine Absichten verraten würde – aus blinder Verzweiflung genau diese Waffe gegen ihn richten würde. Jeder Schritt, jedes Detail, all das war von ihr gelenkt!

„Bist du jetzt endlich zufrieden?“, schreie ich der Königin entgegen, meine Hand zitternd auf sie gerichtet. „Was hat dir ein zweijähriges Kind jemals angetan, dass du ihm nie auch nur die Chance gelassen hast zu leben?“

Königin Mayyira stößt einen theatralischen Seufzer aus und presst ihre Hand an die Brust, als hätte ich sie persönlich verletzt. „Dieses Mädchen ist wahnsinnig geworden!“, ruft sie empört, ihre Stimme durchtränkt von gespielter Entrüstung. „Wie konnten wir so ein Monster in den Mauern unseres Schlosses dulden?“

Meine Worte prallen an ihr ab wie Pfeile an einer stählernen Rüstung. Meine Trauer, mein Schmerz – nichts davon erreicht sie. Diese Frau, mit ihrem eiskalten, schwarzen Herzen, hat die Unschuld eines Kindes zerstört, ohne einen Moment des Zögerns.

„Worauf wartet ihr?!“, brüllt der König mit wachsender Ungeduld. „Ergreift die Verräterin! Oder wagt es etwa jemand, meinen Befehlen zu widersprechen?“

Die Soldaten rücken unaufhaltsam näher, ihre Schritte schwer und bedrohlich auf dem Kies unter meinen Füßen. In Sekunden bin ich umzingelt, ein Kreis aus Klingen und Rüstungen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Hinter mir erhebt sich der hohe Zaun, der das Land vom Wasser trennt – eine unüberwindbare Barriere. Klettern ist unmöglich, und selbst wenn ich das Meer durchschwimmen könnte, würden mich die Soldaten am anderen Ufer bereits erwarten.

Der Wind trägt das Salzwasser des nahen Ozeans zu mir, und ich begreife: Dies könnte mein letzter Atemzug in Freiheit sein.

Doch wie soll ich das jemals schaffen? Meine Gedanken treiben unaufhaltsam zurück zu jener Gestalt der letzten Nacht. Frei schwebte sie inmitten des Sturms, sorglos wie ein Schatten, und in diesem Moment spürte ich nur eins: Neid. Wie sehr wünschte ich, an ihrer Stelle zu sein, weit fort von all diesen unsichtbaren Ketten, die mich binden.

Doch weder sie noch die geheimnisvolle Stimme sind jetzt an meiner Seite. Es war der brennende Wunsch nach Freiheit, der mich hierher geführt hat – zurück in die kalten Hände des Königs, der bereit ist, das Glück seiner eigenen Tochter zu opfern, nur um seiner Königin ein Lächeln zu schenken.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, erstarren die Soldaten. Ihre Gesichter verzerren sich vor Angst, die Augen weit aufgerissen, als hätten sie etwas Unbegreifliches gesehen. Fast schon wie von einem unsichtbaren Schrecken ergriffen, der ihre Herzen packt und ihren Mut wie feines Glas zerbricht, bleiben sie regungslos stehen.

Ich spüre eine Hand, eisig und unerwartet, die sich auf meine Schulter legt. Der Schock fährt mir durch den Körper, und ich drehe mich abrupt um. Hinter mir steht eine Gestalt, gehüllt in einen schwarzen Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es unmöglich ist, die Züge dieser Person zu erkennen. Doch allein ihre Präsenz lässt die Luft um mich schwer und bedrohlich werden. Wer immer es ist – diese Gestalt bringt die Angst mit sich wie einen Schatten, der jede Hoffnung verschlingt.

Die fremde Gestalt reißt sich nach hinten und packt dabei fest meine Schulter, zieht mich mit einem Ruck aus dem Gleichgewicht. Der Boden unter mir schwankt, und der Zaun rückt bedrohlich nahe an mein Gesicht heran. Für einen quälenden Moment bin ich sicher, dass der nächste Atemzug mein letzter sein wird, denn der Aufprall scheint unausweichlich. Doch dann passiert das Unmögliche: Mein Körper gleitet durch den Zaun hindurch, als wäre er aus Luft. Plötzlich schwebe ich über dem Wasser, die Welt kippt unter mir, während der kalte Ozean sich direkt unter meinen Füßen ausbreitet.

„Wo ist sie hin?!“ Der König brüllt vor Zorn, seine Stimme zerschneidet die Luft. „Kennt jemand diesen Fremden? Wer ist er, und wie hat er das vollbracht?“

Doch keine Antwort kommt. Verwirrung spiegelt sich auf den Gesichtern der Soldaten, die Köpfe schütteln sich ratlos. Ich wage einen Blick nach vorne. Der Unbekannte starrt mich an, seine Augen unter der tief gezogenen Kapuze kaum zu erkennen. Wer ist er? Freund oder Feind? Meine Lippen bleiben stumm, denn die Wahrheit entzieht sich mir in diesem Moment. Obwohl ich nicht sicher bin, drängt sich das Gefühl auf, dass er derjenige aus der letzten Nacht sein muss. Aber die Angst zwingt mich, kühlen Verstand zu bewahren.

Ohne ein Wort zieht er mich über die Wasseroberfläche, als wäre es fester Boden. Die Kälte des Wassers dringt durch meine Füße, ein Schock für meinen Körper – und doch... es fühlt sich wunderbar an. All die Jahre wurde mir diese Freiheit verweigert. Das Wasser, das mich jetzt sanft berührt, ist anders als die kalten Bäder des Palastes. Es ist lebendig, es ist Freiheit.

Sekunden vergehen, bevor das Festland nur noch ein ferner Schatten am Horizont ist. Erst jetzt wird mir die unheimliche Stille bewusst – eine Stille, die mich zum allerersten Mal nicht beruhigt. Sie drückt schwer auf meine Brust, als würde sie mich mit einer unsichtbaren Last erdrücken.

Der Fremde mit der Kapuze bleibt plötzlich stehen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als eine weitere Gestalt hinter ihm auftaucht – als wäre sie aus dem Nichts materialisiert. Vor wenigen Millisekunden war dieser zweite Fremde noch nicht dort. Er ist größer, massiver. Seit wann ist er hier? Wie lange hat er uns schon beobachtet?

Beide Männer stellen sich nebeneinander, wortlos, ihre Bewegungen synchron, als hätten sie dies unzählige Male geübt. In einem einzigen, fließenden Moment ziehen sie ihre Kapuzen zurück. Mein Atem stockt, meine Augen weiten sich vor Unglauben, und ich beginne zu stottern, unfähig, das Offensichtliche zu begreifen.

„Es tut uns leid, dass wir Euch nicht früher aufgeklärt haben, Prinzessin“, spricht Lord Velqorin, seine Stimme schwer von Schuld. Er wagt kaum, mir in die Augen zu sehen.

„Wir wollten lediglich Eure Sicherheit garantieren“, fügt Sylas leise hinzu, seine Worte fast im Wind verloren.

Meine Finger zittern, als ich unsicher auf die beiden Männer deute, die mir bis vor kurzem als bloße Sterbliche erschienen. Jetzt scheint alles, was ich zu wissen glaubte, zu zerfallen.

„Aber... wie?“ frage ich, meine Stimme brüchig und von Verwirrung durchdrungen. Mein Verstand sucht verzweifelt nach einer logischen Erklärung, nach irgendeiner Spur von Normalität in diesem Chaos.

Doch die Wahrheit ist unerträglich. Die Stimme, die mich seit meiner Kindheit begleitet, kann nicht die ihre sein. Aber woher wussten sie, dass sie mich genau hier finden würden?

„Dies ist nicht der richtige Ort“, gesteht Velqorin leise, während seine Hand in die Manteltasche gleitet und eine kleine, schimmernde Kugel zum Vorschein bringt. Ihr sanftes Glühen bricht die Dunkelheit. „Es wird Zeit, dass ihr nach Hause zurückkehrt.“

„Lord Velqorin, Ihr...“ setze ich an, doch er hebt ruhig die Hand, seine Augen scharf und unerbittlich.

„Ich bin kein Lord“, korrigiert er mich mit einer kühlen Festigkeit. „Und Ihr seid keine Prinzessin mehr. An dem Ort, an den wir Euch bringen, dürft Ihr nichts von der Menschenwelt berichten.“

Die Menschenwelt? Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Was meint er damit? Wird er mich in eine andere Dimension führen? Ein Strudel aus Fragen schießt durch meinen Kopf, meine Gedanken taumeln. Kann ich diesen beiden Männern trauen? Was, wenn sie mich zu etwas Gefährlichem führen?

„Wie kann ich sicher sein, dass ihr auf meiner Seite steht?“ frage ich, der Zweifel schwer in meiner Stimme.

Doch tief in mir weiß ich, dass mein Misstrauen keine Bedeutung hat. Diese Männer tragen Kräfte in sich, die meine Vorstellungskraft übersteigen. Ein einziger Fingerzeig, und ich könnte gezwungen sein, ihnen blind zu folgen – oder noch schlimmer, mein Leben könnte augenblicklich enden. Und doch lassen sie mich am Leben. Warum?

Da kniet Sylas plötzlich vor mir nieder, seine Stimme ernst, durchdringend: „Ich schwöre Euch meine ewige Treue.“ Seine Augen funkeln im Schatten, seine Worte tragen das Gewicht eines Versprechens, das tiefer reicht. „Prinzessin Vespera, ich, Sylas Velqorin, Sohn des Großmagiers Zyar Velqorin, schwöre hiermit, Euch zu dienen und Euch mit meinem Leben zu beschützen, bis mein letzter Atemzug erklingt.“

Noch bevor ich reagieren kann, geschieht etwas Unbegreifliches. Aus seiner Brust strömen blutrote Fäden hervor, pulsierend und lebendig, als würden sie direkt aus seinem Herzen quellen. Dornen, die wie Blutranken aussehen, winden sich über den Boden, und an manchen Stellen tropft Blut ins Wasser, das darunter still dahin fließt. Sylas bleibt regungslos, wie versteinert, als würde sein Körper unter dem Bann dieser dunklen Magie erstarren.

„Er bietet Euch ein Blutsband an“, erklärt Zyar mit ruhiger Stimme, die ein uraltes Wissen trägt. „Wenn Ihr ihn als euren Beschützer akzeptiert, müsst Ihr nur mit einem Ja antworten. Dann wird er mit seinem Leben für Euch einstehen.“

Ich blicke auf Sylas, der vor mir kniet, die Hand an seine Brust gepresst, als würde er den Schwur aus seinem Herzen herausreißen. Er hat mich belogen, von Anfang an, wusste genau, wer ich bin, als die Königin meinen wahren Namen aussprach. Und doch... da ist etwas in ihm, etwas Vertrautes, das ich nicht ignorieren kann.

„Ich, Prinzessin Vespera Valdyris, Tochter von König Mukuta Valdyris...“, setze ich an, doch plötzlich zucken Blitze entlang der Dornenranken, und die Luft knistert bedrohlich. Die Energie kriecht durch die Luft, als würde sie jeden Moment in Flammen ausbrechen.

„Ihr müsst Euren wahren Namen sprechen“, unterbricht Zyar, seine Stimme fast unheilvoll. Ich blinzle, schaue zu ihm auf, meine Augen verengt. „Ihr seid Vespera Entium, Tochter von Isilyn Entium, aus dem Reich Losniw, rechtmäßige Anwärterin auf den Thron von Elindros.“

Die Worte hallen in der Luft nach, während die Wahrheit wie ein Sturm auf mich herabfällt, mein Herz schneller schlägt und das Gewicht meiner wahren Identität über mir schwebt.

Ich soll die rechtmäßige Anwärterin auf den Thron von Elindros sein?

Die Worte hallen in meinem Kopf wider, schwer wie eine Last, die ich kaum begreifen kann. Zyar beobachtet mich mit kühler Gelassenheit, seine Stimme gedämpft, aber ernst.

If you stumble upon this tale on Amazon, it's taken without the author's consent. Report it.

„Für den Anfang sind das sehr schwerwiegende Informationen“, gibt er zu und wirft einen schnellen Blick zu Sylas. „Aber mein Sohn wartet auf deine Entscheidung. Die Schmerzen dieses Blutsbandes sind unermesslich. Lass ihn nicht unnötig leiden.“

Ich nicke, doch mein Inneres ist ein Chaos aus Zweifel und Angst. Meine Augen ruhen auf Sylas. Dieser junge Mann, den ich erst vor wenigen Stunden kennengelernt habe, und doch… fühlt sich diese Verbindung so tief an, so unvermeidlich. Irgendetwas in mir weiß, dass es mit Elindros zusammenhängt. Mein Herz hat die Wahrheit längst erkannt: Ich gehörte nie wirklich in diese Welt.

Mit zittriger Stimme spreche ich die Worte aus, die alles verändern werden. „Ich, Vespera Entium, Tochter von Isilyn Entium, aus dem Reich Losniw, rechtmäßige Anwärterin auf den Thron von Elindros, akzeptiere.“

Kaum habe ich das letzte Wort ausgesprochen, spüre ich, wie die Dornen sich tief in meine Brust bohren. Ein Keuchen entweicht mir, als meine Augen sich weit aufreißen vor Schock und Schmerz. Ich schaue hilfesuchend zu Zyar, aber sein Blick bleibt kalt, ungerührt. Für ihn ist dieses Ritual Routine. In seinen Augen sehe ich nichts als stille Neugierde, keine Überraschung, keine Sorge. Soll ich das als beruhigend empfinden?

Doch bevor ich länger darüber nachdenken kann, explodiert der Schmerz in meinem Körper. Die Dornen beginnen zu pulsieren, als ob sie Leben in sich tragen. Plötzlich durchzuckt mich eine Welle aus elektrischen Schlägen, tief und gnadenlos, als würden sie mein Innerstes zerreißen. Mein Atem stockt, und ich kämpfe gegen das Bedürfnis, zu schreien. Jeder Herzschlag fühlt sich an, als würde er mich näher an den Abgrund treiben.

Sylas hingegen bleibt still. Keine Regung, kein Zucken. Entweder spürt er keinen Schmerz – oder er erträgt ihn mit einer Stärke, die ich nicht begreifen kann.

„DAS SOLL AUFHÖREN!“, schreie ich verzweifelt in meinem Inneren, doch mein Körper bleibt wie gelähmt.

Ein Schrei drängt an meine Lippen, doch nichts als Stille entweicht. Die Qualen, die mich zerreißen, fühlen sich wie eine Ewigkeit an, doch kaum Sekunden sind vergangen. Die Dornen ziehen sich schließlich zurück, zurück in die Brust von Sylas, und er erhebt sich in schweigender Ruhe. Sein Blick ist ernst, durchdringend, als würde er mein Innerstes erfassen. Ohne ein Wort legt er seine Hand in meine, und automatisch wandern meine Augen auf unsere ineinander gelegten Handflächen.

„Als dein Beschützer trage ich das Halbkreis-Symbol“, sagt er, sein Blick ruht auf meiner Handfläche. „Es steht für meine Unvollkommenheit. Dein Symbol, Prinzessin, ist ein vollendeter Kreis – es repräsentiert deine Vollkommenheit. Mein Leben gehört nun dir.“

Seine Worte klingen wie ein feierlicher Eid, und in seinen Augen liegt etwas, das ich nicht begreifen kann. Ein Blick, der von Stolz spricht, wo Angst sein sollte. Warum sollte ein Fremder sein Leben für mich opfern, für mich sterben, für mich leben?

„Eure Verbindung geht tiefer, als ihr ahnt, sie reicht in eine ferne Vergangenheit“, erklärt Zyar Velqorin, seine Stimme ruhig und wissend. Er hebt die kleine Kugel in seiner Hand, das mysteriöse Objekt, das er zuvor hervorgeholt hat. „Das Astralis wird uns den Weg weisen zu unserem ersten Ziel: Das Dorf Solnya.“

Das Dorf Solnya? Astralis? Die Begriffe schwirren in meinem Kopf herum, drohen mich zu überwältigen. Alles ist neu, fremd, und mein Verstand kämpft, die Flut von Informationen zu verarbeiten. Dann lässt Zyar die Kugel los, einfach so – sie gleitet aus seiner Hand. Für einen Moment denke ich, sie würde zerbrechen, und ich eile unwillkürlich nach vorne. Doch zu meinem Erstaunen schwebt sie, schwebt über dem Wasser wie von unsichtbaren Kräften gehalten.

„Was ist das…?“ flüstere ich, meine Stimme kaum hörbar vor Verwunderung.

Doch bevor ich weiterfragen kann, beginnt das Astralis plötzlich hell zu strahlen, ein blendendes Licht, das mich zwingt, den Blick abzuwenden. Auch wenn meine Augen nichts sehen, nehmen meine Ohren alles wahr. Unter meinen Füßen beginnt der Boden zu beben – nein, nicht der Boden. Das Wasser! Ich spüre, wie die Wellen sich aufbäumen, salzige Tropfen spritzen gegen meine Beine, durchnässen meine Hose bis zu den Knien.

Das Licht verblasst allmählich, und als ich wieder nach vorne blicke, sehe ich es: Ein gigantisches, metallenes Tor, aus dem Nichts heraus erschienen, steht vor mir. Es ist gewaltig, so groß, dass ich meterweit zurückweichen müsste, um es in seiner ganzen Pracht zu erfassen. Verschiedene Symbole zieren es, jedes scheint eine eigene Geschichte zu erzählen – Geschichten, die ich unbedingt kennenlernen möchte. Dahinter liegt eine Welt, die mir bestimmt ist, eine Welt, in der ich vielleicht endlich meinen Platz finden werde.

„Bevor wir eintreten“, sagt Zyar und lässt das Astralis wieder in seine Hand sinken. „In Elindros gibt es eine Macht, eine gewaltige Kraft. Viele Elindine fürchten sie, während einige nach ihr streben.“

Seine Worte tragen eine Schwere, die ich kaum fassen kann.

„Warum sagt ihr mir das?“ frage ich, mein Kopf schwirrt von Fragen.

Was soll ich mit dieser Information anfangen? Wer könnte stärker sein als Sylas und sein Vater, der mächtige Großmagier? Der Gedanke allein erscheint mir absurd, und doch – warum spricht er von dieser Kraft, wenn ich keine Ahnung habe, was sie bedeutet? Will er mich warnen? Mich davon abhalten, durch das Tor zu gehen? Aber warum hat er mich dann überhaupt hierhergeführt?

Zyars Blick bleibt unergründlich, doch sein Schweigen spricht Bände.

Ob er selbst wenig darüber weiß? Was ist der wahre Grund für sein Schweigen? Ich hätte niemals gedacht, dass ein Mann, der eine ganze Armee im Alleingang bezwang, solch eine Zurückhaltung zeigen könnte. War er wirklich so feige, oder verbirgt sich hinter seinem Schweigen eine noch tiefere Wahrheit?

„Sobald wir das Dorf der Solniw erreichen, werde ich Euch alles enthüllen“, verspricht Zyar schließlich und hebt das Astralis in Richtung des Tores. Seine Stimme klingt bestimmt, doch die Geheimnisse wiegen schwer auf uns. „Bis dahin müsst Ihr uns blind vertrauen. Das Nexari wird Euch auf die Probe stellen.“

„Das Nexari?“ Meine Augen folgen dem Blick des Großmagiers zum Tor, das sich wie ein drohender Abgrund vor mir aufbaut.

„Die Zwischendimension“, antwortet Sylas, seine Worte sind leise, aber sie hallen in mir nach. „Kein Elindine kennt den Anfang oder das Ende des Nexari. Dort herrschen uralte Gesetze. Mein Vater und ich haben die Synnx getroffen – Wesen, die jenseits unseres Verständnisses existieren.“

„Synnx?“ Der Name klingt fremd und dunkel. „Sind sie Elindine?“

„Niemand weiß, woher die Bewohner des Nexari stammen“, sagt Sylas und zuckt leicht mit den Schultern, als ob diese Unwissenheit ihn selbst beunruhigt. „Aber eines müsst Ihr wissen: Vermeidet jeden Augenkontakt. Länger als nötig dürft Ihr ihnen nicht in die Augen sehen.“

„Warum sollte ich mich überhaupt auf solch fremde Wesen einlassen?“ frage ich, spüre, wie sich meine Unsicherheit verstärkt.

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, während ich versuche, diesen neuen Informationen einen Sinn zu geben.

„Es wird eine Prüfung sein“, sagt Sylas. „Vertraut mir – widersteht dem Drang.“

„Es ist Zeit“, unterbricht Zyar, das Gespräch rasch beendend, als das Astralis zu leuchten beginnt.

Diesmal ist das Licht sanft, wie ein Versprechen, das tief in meinen Knochen vibriert. Die massiven Tore öffnen sich mit einem donnernden Geräusch, das in der Stille widerhallt und das Schicksal besiegelt, das jenseits ihrer Schwelle auf mich wartet.

Ich blicke mit offenen Augen auf das Spektakel, meine Kehle trocken, mein Herz rast. Sylas streckt mir seine Hand entgegen, sein Lächeln ein Hauch von etwas, das ich nicht benennen kann.

„Sobald wir diese Tore durchschreiten, werdet Ihr nicht mehr Prinzessin Vespera sein“, sagt er ruhig, seine Worte voll ungesagter Bedeutung. „Von diesem Moment an werden alle Titel fallen. Ihr werdet nur noch Ves sein.“

„Ves...“ Ich wiederhole das Wort, als würde es mich in eine neue Existenz tragen. „Das gefällt mir besser.“ Ich nehme seine Hand, spüre die Wärme, die von ihm ausgeht. „Ich schulde euch mein Leben. Ihr habt mich aus der Dunkelheit befreit.“

Sylas sinkt erneut vor mir auf ein Knie, als hätte er es nie anders gekannt. „Es ist unsere Pflicht, mein Leben gehört Euch. Ich werde an Eurer Seite stehen, bis der letzte Atemzug mein Körper verlässt.“

Ein seltsames Kribbeln erfasst mich, als seine Worte in die Tiefe meines Wesens dringen. Doch ich spüre, dass dies keine romantischen Schwüre sind. Sylas fühlt sich mir gegenüber gebunden – durch etwas, das älter ist als wir beide.

Das Wissen, dass Sylas mich an diesem ihm wohlvertrauten Ort um jeden Preis beschützen wird, erleichtert mir den Übergang in eine andere Dimension – in das Nexari. Ein Hauch von Zuversicht durchströmt mich, als Zyar als Erster das Tor durchschreitet. Von außen bleibt das, was dahinter liegt, verborgen. Mein Herz pocht, und ich wünschte, ich könnte sehen, was mich jenseits dieser Schwelle erwartet. Doch stattdessen erfasst mein Blick nur ein schillerndes Farbenspiel, das den Anschein von Sicherheit erweckt, als wäre das Nexari ein Zufluchtsort.

„Ich verstehe eure Furcht”, ertönt Sylas’ Stimme und reißt mich aus der Tiefe meiner Gedanken. „Doch all die Jahre hat die Freiheit nach euch gerufen. Dieses Tor ist der erste Schritt in die richtige Richtung.”

Meine Augen folgen seinem ausgestreckten Finger, der auf das geheimnisvolle Portal zeigt – das Tor zum Nexari, jener Zwischenwelt, die Menschenwelt und Elindros trennt. Und obwohl ein Schauder meinen Rücken hinunterläuft, erkenne ich die Wahrheit in seinen Worten. Die Freiheit, nach der ich mich so lange gesehnt habe, liegt nun greifbar nahe. Meine Ängste dürfen mich nicht länger davon abhalten, das Mysterium meiner eigenen Existenz zu ergründen.

Mit einem tiefen Atemzug betrete ich das Nexari, Seite an Seite mit Sylas. Seine Hand ruht fest, aber sanft auf meiner Schulter, ein Zeichen seines ewigen Schutzes, bereit, jeden feindlichen Angriff abzuwehren. In seiner Nähe fühle ich mich nicht so entweiht, wie es in der Gegenwart von Lord Louweris stets der Fall war.

Kaum haben wir die Schwelle überschritten, schlägt uns eine eisige Kälte entgegen, wie Peitschenhiebe, die sich unbarmherzig auf meiner Haut entladen. Der unerwartete Duft von Magnolien mischt sich mit der frostigen Luft und bringt inmitten dieser bizarren Szenerie ein merkwürdiges Gefühl von Ruhe – ein Widerspruch, der meine Sinne verwirrt, aber auch seltsam tröstlich wirkt.

“Endlich…”

Die Stimme, die mich in die königlichen Gärten geführt hat, klingt hier im Nexari stärker, intensiver, als ob sie von den tiefsten Wurzeln dieses geheimen Ortes genährt wird. Ihre Präsenz dringt in meine Gedanken ein, so vertraut und doch so fremd, wie ein Echo, das aus einer Welt jenseits meiner Wahrnehmung stammt. Wenn sie mich bis hierher verfolgt, dann muss sie in Verbindung mit Elindros stehen. Da bin ich sicher. Aber außer mir scheint niemand sie zu hören, niemand spürt ihre Nähe. Also schweige ich. Noch.

Denn ich weiß, die Zeit wird mich bald zurück an diesen Moment führen, zurück zu der Wahrheit, die tief unter der Oberfläche schlummert. Etwas in mir spürt eine unsichtbare Linie, die mich zu dieser Stimme und zu Sylas zieht, als ob beide Schicksalsfäden miteinander verwoben wären. Ob sie es wirklich sind, das bleibt dem Lauf der Zeit überlassen.

„Vergiss meine Worte nicht... Ves”, sagt Sylas leise und zögert bei meinem Namen, als wäre er schwer wie ein Fluch.

Dass ihm mein Titel so wichtig ist, überrascht mich. Er kennt mich erst seit wenigen Stunden, doch schon scheint ihm die richtige Anrede von unermesslicher Bedeutung zu sein. Aber er gehört nicht in die Welt der Menschen. Er ist kein Untertan meines Vaters, und ich bin nicht seine Prinzessin. Doch das Band des Blutes, das mich an Sylas bindet, hat jede Verwandtschaft zu meinem Vater abgelehnt.

Diese Gedanken dürfen im Augenblick meine Aufmerksamkeit nicht vom Wichtigen ablenken. Laut Sylas birgt das Nexari eine große Gefahr. Zudem ist von einer Prüfung die Rede gewesen. Das muss bedeuten, dass dieser Ort jeden Reisenden auf die Probe stellt. Doch zu welchem Zweck?

Als ich das Nexari zum ersten Mal betrete, werde ich von einem Anblick überwältigt, den ich nicht in Worte fassen kann. Alles um mich herum ist... anders. Der Himmel – falls man ihn so nennen kann – spannt sich wie ein gewaltiger Schimmer aus übernatürlichen Farben über mir. Er ist nicht blau oder grau, sondern ein pulsierendes Band aus flüssigem Gold, tiefem Violett und einem Grün, das beinahe lebendig wirkt. Es bewegt sich, als ob es atmet, als ob der Himmel selbst eine Art Wesen ist. Wolken gibt es keine, nur flüchtige Formen, die durch das Licht treiben, verzerrt und nie beständig.

Der Boden unter meinen Füßen ist weder fest noch weich – er fühlt sich an, als würde er ständig zwischen flüssigem Glas und einem dichten Nebel wechseln. Bei jedem Schritt tauchen feine Wellen auf, die in alle Richtungen schießen, um dann lautlos zu verschwinden. Die Farben dort unten sind nicht wie auf der Erde: tiefe, glühende Töne von Rot, die in ein lebhaftes Türkis übergehen, als ob sie sich weigern, starr zu bleiben.

Vor mir erheben sich seltsame Gebilde, die in ihrer Form Bäumen ähneln könnten, doch das sind sie nicht. Ihre Stämme winden sich spiralförmig nach oben, aus einem Material, das wie geschmolzener Stein wirkt, zugleich aber durchscheinend ist. Die Äste erstrecken sich nicht gerade, sondern fließen wie tropfendes Wasser, und ihre Blätter – wenn es überhaupt Blätter sind – bestehen aus unzähligen, schwebenden Lichtsplittern, die sich bei der geringsten Bewegung der Luft neu anordnen. Sie schimmern in einem Licht, das so intensiv ist, dass es fast schmerzt, doch ich kann meinen Blick nicht abwenden.

In der Ferne sehe ich Strukturen, die wie Berge wirken, doch sie sind weder steil noch massiv. Sie scheinen eher wie riesige Wellen, eingefroren in der Bewegung, als hätten sie sich vor Ewigkeiten aus dem Boden erhoben und dann in einem seltsamen Stillstand verharrt. Ihr Material ist nicht Stein, sondern etwas, das wie kristallines Licht wirkt, das jede Farbe des Himmels reflektiert.

Es gibt keinen klaren Horizont. Die Weite verschmilzt mit dem Himmel und den Formen, und alles scheint sich miteinander zu verbinden. Nichts bleibt konstant – alles verändert sich, als ob es in einem ewigen Fluss ist, doch auf eine Art und Weise, die nicht chaotisch wirkt, sondern... gewollt. Die Zeit fühlt sich hier anders an, als ob sie langsamer fließt oder gar stillsteht.

Ein Gefühl von Ehrfurcht überkommt mich, als mir bewusst wird: Dies ist kein Ort, den man begreifen kann. Es ist lebendig, sich ständig wandelnd, und es gibt keinen Punkt, an dem ich sagen könnte: „Hier beginnt oder endet es.“ Das Nexari ist keine Welt wie unsere – es ist eine Existenz, die sich jeder Logik entzieht.

„Atemberaubend…“, flüstere ich ehrfürchtig. „Wie schön das Nexari doch ist.“

Alles um mich herum ist eine perfekte Harmonie aus Unmöglichkeiten, ein Zusammenspiel von Dingen, die den Gesetzen der Natur trotzen und doch in dieser Zwischendimension eine verstörende Logik finden. Und trotzdem – oder gerade deshalb – umfängt mich ein seltsames Gefühl von Vertrautheit, als gehöre ich hierher, als würde das Nexari mich willkommen heißen.

„Lass dich nicht von ihrer Schönheit täuschen“, unterbricht Zyar meine Gedanken, seine Augen aufmerksam, jede Regung um uns herum verfolgend. „Das Nexari zeigt jedem Reisenden ein anderes Gesicht. Dass wir alle diesen Anblick im Moment teilen, bedeutet nur eines: Dieser Ort will dich beeindrucken.“

„Das Nexari… will mich beeindrucken?“ Verwirrung durchzieht meine Stimme. Wie könnte ein Ort, der nicht lebt, bewusst versuchen, mir zu gefallen?

Zyars Blick verengt sich. „Weil dieser Ort lebt“, sagt er leise, fast beschwörend. „Das Astralis weist uns den Weg, doch das Nexari ist ein Wesen, das denkt, das fühlt. Du darfst dich keinesfalls von seiner Schönheit blenden lassen. Es ist trügerisch. Und die, die hier wohnen…“ Er hält inne, sein Blick gleitet in die Ferne. „… sind keine Verbündeten. Vertraue ihnen nicht.“

Ein Schauder fährt mir über den Rücken. Zyars Worte nisten sich in meinem Inneren ein und legen eine leise Unruhe in mein Herz. Was, wenn das, was ich sehe, nur eine Illusion ist? Ein Konstrukt, das mich in Sicherheit wiegen soll? Wenn das Nexari sich für jeden anders zeigt, was ist dann seine wahre Gestalt?

Noch während ich darüber nachdenke, pralle ich plötzlich gegen etwas Hartes, eine unsichtbare Barriere. Benommen reibe ich mir den Kopf, völlig verwirrt.

Ehe ich reagieren kann, tritt Sylas an meine Seite, seine Hand packt meinen Arm und zieht mich ruckartig zurück. Mit einer fließenden Bewegung holt er ein seltsames Objekt hervor, das sich in seiner Hand zu einem Schwert formt, schimmernd und gefährlich.

„Bleib nah bei mir“, murmelt er. Seine Augen sind scharf, als würde er etwas sehen, das sich mir entzieht. Und in diesem Moment wird mir klar: Hier, in dieser Dimension, ist nichts so, wie es scheint.