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Schattenkinder (German)
Das Mädchen am Ufer

Das Mädchen am Ufer

„Vespera...”

Eine Stimme dringt in mein Bewusstsein und reißt mich abrupt aus dem Schlaf. Benommen schaue ich mich um, überzeugt davon, dass jemand in meiner Nähe sein muss. Doch zu meinem Erstaunen bin ich allein. Schlaftrunken reibe ich mir die Augen und betrachte meine Hände, die mir fremd vorkommen. Mein Blick wandert schließlich zum glühenden Abendhimmel, der den Anbruch der Nacht verkündet.

Wo bin ich? Das ist der königliche Garten, den ich zuletzt als kleines Kind betreten habe. Wie kann es sein, dass ich hier aufwache? Es ist mir doch strengstens untersagt, mein Zimmer zu verlassen. Verwirrt strecke ich meine Beine aus und bemerke plötzlich, dass sie viel kürzer sind. Mit einer Vorahnung springe ich auf, komme aber nur knapp vom Boden los.

„Ich bin wieder ein Kind”, flüstere ich fassungslos.

Kein Spiegel, keine Reflexion, die mir Gewissheit verschaffen könnte. Die hohen Bäume des königlichen Gartens schirmen mich von der Außenwelt ab, als wäre ich in einem Traum gefangen. In den letzten Jahren habe ich diesen Ort nie wieder betreten, und die geheimnisvolle Stimme, die ich gerade hörte, blieb mir ebenso fern. Diese Frauenstimme, die Wärme ausstrahlt, obwohl sie mir Angst einjagen sollte.

Erschöpft sinke ich zu Boden und stütze mich mit den Händen ab, während aus der Ferne die fröhlichen Stimmen der Stadtbewohner zu mir dringen. Sie alle verehren meinen Vater, als wäre er mehr als nur ein Mensch—als wäre er unantastbar. In ihren Augen ist der König gütig und selbstlos, stets bemüht, das Beste für sein Volk zu tun. Doch keiner von ihnen weiß, dass dieser gleiche Mann eine Tochter hinter Schlossmauern versteckt hält. Man hat ihnen vorgegaukelt, dass die Prinzessin zusammen mit meiner Mutter, der verstorbenen Königin, ums Leben gekommen ist. Sie haben um meinen Tod getrauert, während ich weiterhin lebe, unsichtbar und vergessen.

Aber warum bin ich hier? Wieso genau an diesem Ort? Die Welt außerhalb der Schlossmauern habe ich nie kennengelernt, und dennoch kenne ich fast jeden Winkel des Schlosses. Was will mir mein Unterbewusstsein damit sagen?

„Vespera... es wird Zeit.”

Diese Stimme. Schon wieder. Ich hörte sie zum ersten Mal, als mein Vater erneut heiratete. Königin Mayyira, meine Stiefmutter, scheint der Grund für das Auftauchen dieser Stimme zu sein. König Mukuta, mein Vater, hat sich nie um mich gekümmert. An meine Mutter erinnere ich mich kaum, um zu wissen, ob sie mich je geliebt hat. Sie starb, als ich zwei Jahre alt war, und kurz darauf heiratete mein Vater wieder. Mit dieser neuen Ehe wurde mein Halbbruder, Kronprinz Yula, geboren—und mit ihm verlor ich meinen Anspruch auf den Thron. Nun bin ich nichts weiter als eine Spielfigur, die eines Tages an einen fremden Prinzen verheiratet wird, um weitere Erben zu zeugen.

Wusste ich das schon als Kind? War mir damals bewusst, dass mein Leben vorherbestimmt ist und ich nichts daran ändern kann?

„Vespera, du musst ausbrechen.”

Die Stimme fordert mich auf zu fliehen. Aber wie soll das gelingen? Meine Tür ist immer verschlossen, und ohne Begleitung darf ich keinen Fuß aus meinem Zimmer setzen. Seit der Hochzeit hat Königin Mayyira all diese Regeln erlassen, die mich in jeder Hinsicht einschränken. Sie will mich leiden sehen, da bin ich mir sicher. Für meinen Vater ist sie jedoch das Ebenbild einer fürsorglichen Mutter. Für das Königreich existiert nur mein Bruder, und selbst die Dienerschaft darf nicht preisgeben, dass ich noch am Leben bin.

Plötzlich schlägt ein Blitz direkt vor mir ein, und ich erstarre. Als ich die Augen öffne, finde ich mich zurück in meinem Zimmer. Der Traum ist vorbei, doch der Blitz war real—er hat mich in die Gegenwart zurückgeholt, in das Leben, dem ich so verzweifelt zu entkommen versuche. Doch immer wieder lande ich am gleichen Punkt.

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Ich setze mich auf und schaue zum Fenster hinaus, wo ein bevorstehendes Unwetter aufzieht. Neben meinem Bett stehen die Pantoffeln, die ich auf Befehl der Königin immer tragen muss. Aber jetzt will ich den kalten Boden unter meinen Füßen spüren, wie das nasse Gras in den frühen Morgenstunden, das ich zuletzt in meiner Kindheit gefühlt habe.

Barfuß trete ich ans Fenster und lehne mich hinaus, um die Ferne zu betrachten. Der Lärm des Donners übertönt die Stille, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Was würde geschehen, wenn ich springen würde? Was, wenn ich falle? Doch was, wenn ich fliegen könnte? Diese Stimme in meiner Kindheit—es kann keine bloße Fantasie gewesen sein. Und nun habe ich sie wieder in meinem Traum gehört. Trotzdem bleibt eine Leere in mir.

Mit dem Kopf an die Wand gelehnt blicke ich nachdenklich zum Himmel, der alle paar Sekunden vom Licht der Blitze durchzuckt wird. Im Chaos der Gewitterwolken zeichnet sich plötzlich eine Silhouette ab, die in der Luft zu schweben scheint. Ist das ein Mensch? Aber das kann nicht sein—Menschen können nicht fliegen. Wir haben Heiler und Alchemisten, aber keine Magier. Wer oder was ist das?

Die Gestalt hebt die Arme in den Himmel, und plötzlich schlagen mehrere Blitze gleichzeitig ein. Erschrocken springe ich zurück, doch meine Neugier treibt mich wieder ans Fenster. Ich schiebe meinen Kopf hinaus und ignoriere dabei, wie hoch mein Zimmer im Schloss liegt. Der Tod kümmert mich in diesem Moment nicht. Es ist diese unerklärliche Verbindung zu der Gestalt, die mich antreibt. Sie ist wegen mir hier.

Sie wendet langsam den Kopf zur Seite, als wolle sie mich ansehen. Doch bevor ich ihren Blick erhaschen kann, spüre ich, wie jemand mich am Nachtkleid packt und gewaltsam zurück in den Raum zieht. Unsanft lande ich auf dem Boden, Schmerz durchzuckt meinen Rücken, und ich sehe in das wütende Gesicht meines Vaters.

„Du kannst froh sein, dass du nur auf dem Boden gelandet bist!“, donnert seine Stimme. „Wolltest du dich etwa umbringen? Sind dir alle Sinne abhandengekommen? Soll ich jetzt auch noch Wachen in dein Zimmer stellen, um dich vor deiner eigenen Dummheit zu schützen?”

Wann ist er hereingekommen? Und warum? Normalerweise kreuzen sich unsere Wege kaum, und selbst dann ignoriert er mich.

Meine Gedanken kehren zu der Gestalt im Gewitter zurück. Rasch eile ich ans Fenster und schaue hinaus. Das Unwetter tobt weiter, doch die Gestalt ist verschwunden. Mein Vater packt mich fest an den Schultern und zerrt mich gewaltsam zurück in den Raum.

„Vor wenigen Sekunden habe ich dich vor dem sicheren Tod gerettet, und nun begehst du denselben Fehler!“, schreit König Mukuta wütend, seine Stimme zornig durch den Raum hallend. Der Lärm hat die Diener angelockt, die sich nun besorgt versammeln, um nach dem Wohl des Königs zu sehen. Während er mich mit harschen Worten überschüttet, richten die Anwesenden ihren Blick stumm zur Seite. Ob sie Mitleid empfinden oder verächtlich auf mich herabschauen, kann ich nicht sagen. Es spielt keine Rolle—ihre Augen meiden mich, als würde meine bloße Existenz sie beschämen.

Nachdem der König seinen Zorn an mir ausgelassen hat, betritt schließlich auch die Königin den Raum. Sie mustert mich kurz und hebt kaum merklich einen Mundwinkel, ein Zeichen ihrer stillen Genugtuung. Nur ich nehme diese flüchtige Geste wahr. Niemand sonst.

„Steh auf, Vespera”, befiehlt der König mit schneidender Stimme, und ohne zu zögern komme ich seinem Befehl nach. Was bleibt mir anderes übrig? „Du wirst bald achtzehn Jahre alt, und zu diesem Anlass veranstalte ich morgen Abend eine Feier. Wichtige Gäste werden eintreffen, um die Prinzessin zu sehen.”

Die Prinzessin, von der alle glauben, sie sei vor Jahren gestorben. Wie will er das erklären?

„Soweit ich weiß, hält man mich für tot, gemeinsam mit meiner Mutter”, wage ich zu sagen und schaue meinen Vater verwirrt an. „Wie wird das Königreich auf meine plötzliche Rückkehr reagieren?”

„Deine Mutter ist hier bei uns, Vespera”, zischt er und funkelt mich voller Hass an. „Den Außenstehenden wird erklärt, dass du all die Jahre bei deiner Großmutter Gaina gelebt hast, fernab vom Hof, um nichts von deiner Herkunft zu wissen. Man wollte, dass du eine gute Prinzessin wirst, die eines Tages ihrem Gemahl treu dient.”

Meine „Großmutter” Gaina? Sie ist die Mutter von Königin Mayyira, ohne jede Blutsverwandtschaft zu mir. Mein Vater tut alles, um die Existenz meiner leiblichen Mutter auszulöschen.

„Morgen wirst du dich angemessen auf den Abend vorbereiten”, fährt er fort und legt seine Hand schwer auf meine Schulter. „Es ist ein bedeutender Moment im Leben einer Prinzessin.”

Ein warmes, beinahe sanftes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus, und mir wird mulmig zumute. Niemals zuvor habe ich ihn so lächeln sehen—nicht mir gegenüber. Trotzdem zwinge ich mich, sein Lächeln zu erwidern.

„In Ordnung, Vater”, sage ich fest, mit einem Hauch von Entschlossenheit in der Stimme. „Ich werde dich stolz machen.”

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