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Schattenkinder (German)
Das Gedankenweben: Die Findung

Das Gedankenweben: Die Findung

Zyars Auftreten lässt keinen Zweifel daran, dass er diesen Moment seit Langem herbeigesehnt hat. Es ist fast unmöglich, dass er nicht wusste, dass meine Mutter die Kraft des Sonatius Mortaeda an mich weitergegeben hat. Doch warum, um alles in der Welt, hat er dann siebzehn Jahre gewartet, um mich zurückzuholen? Ihn jetzt zur Rede zu stellen, wäre vergeblich. Früher dachte ich, er würde Mitleid mit mir haben, als König Mukuta mich mit Lord Louweris vermählen wollte. Aber jetzt weiß ich es besser: Er hat es nicht aus Mitgefühl verhindert, sondern um seine eigenen Pläne voranzutreiben.

„Der erste Schritt, das Gedankenweben zu meistern“, erklärt Zyar mit ruhiger Stimme. „Besteht darin, die Herrin deines inneren Ichs zu werden. Jedes Wesen, ganz gleich in welcher Dimension es lebt, ist ein Gefangener seiner eigenen Ängste, Wünsche und Träume. Unter uns Elindine sind die Losniws diejenigen, die frei von dieser Schwäche sind. Du hast das bestimmt im Buch gelesen, das ich dir gestern gegeben habe.“

„Wenn die Losniws so mächtig sind“, sage ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen, „Warum haben sie nicht längst vor dem Bündnis mit dem Sonatius Mortaeda den Thron erobert? Wenn das Gedankenweben wirklich eine so gewaltige Gabe ist, sollten sie unaufhaltsam sein.“

Zyar nickt bedächtig und verschränkt die Arme vor der Brust. „Das sollte logischerweise möglich sein“, entgegnet er, „Doch wie du selbst herausgefunden hast, verkürzt die Nutzung der höheren Fähigkeiten die Lebenszeit des Anwenders erheblich. Nur eine Handvoll Losniws hatten jemals die Ausdauer, es zu vollenden. Eldralith und Keldor waren zwei von ihnen.“

Mein Blick wandert zu den Kairon. Können sie uns hören? In der Ferne sitzt Sylas an einem Gartentisch, ganz versunken in das Buch in seinen Händen. Aus dieser Entfernung kann ich den Titel nicht entziffern.

„Um das Gedankenweben zu erlernen, musst du zuerst deinen inneren Konflikt in Einklang bringen“, spricht Zyar ruhig, aber seine Worte haben das Gewicht eines Befehls. Verdutzt starre ich ihn an. „Setz dich vor die Kairon, auf den Boden, und schließe deine Augen.“

Ich tue, was er verlangt, lasse mich ins feuchte Gras sinken. Die Kälte dringt durch den Stoff meiner Hose, und eine Gänsehaut jagt über meine Haut. Noch einmal gleitet mein Blick zu den Kairon, die ruhig im Wasser treiben, bevor ich die Augen schließe und die Welt in Dunkelheit gehüllt wird.

„Und was jetzt?“, frage ich, bemüht, dem Drang zu widerstehen, meine Augen wieder zu öffnen und mich zu vergewissern, dass nichts Bedrohliches geschieht.

„Lass die Kairon deine Seele berühren“, entgegnet er. „Lenke deine gesamte Aufmerksamkeit auf sie. Sie sind dein Wegweiser.“

Ich fokussiere mich auf die Kairon, die im Kreis schwimmen, als würde ihnen die Stille selbst gehören. Obwohl meine Augen geschlossen sind, sehe ich sie glasklar vor mir. Die Welt wird still, und in dieser Stille höre ich leise Wassertropfen, die in gleichmäßigem Rhythmus auf die Oberfläche des Wassers fallen. Das sanfte Plätschern trägt eine tiefe Ruhe in mein Inneres.

Dann, plötzlich, tauchen zwei Gestalten in der Dunkelheit auf: Noctalis und Solaria. Die Zeichen auf ihren Stirnen beginnen, in einem langsamen, hypnotischen Tanz zu verschmelzen, bis aus zwei eins wird. Rasend schnell weicht die Dunkelheit und ein gleißendes Licht bricht hervor, das mich vollständig umgibt und Wärme in die kühle Leere bringt. Der kleine Teich, in dem die Kairon schwammen, hat sich in ein endloses Meer verwandelt.

„Atemberaubend“, flüstere ich ehrfürchtig und blicke nach unten, erstaunt, dass ich erneut auf der Oberfläche des Meeres stehe.

Über mir entfaltet sich ein fantastisches Farbenspiel – ein Kaleidoskop von Tönen, die ineinanderfließen, harmonisch und lebendig. Doch die Kairon … wo sind sie hin?

Ein plötzliches Zittern durchfährt die Wasseroberfläche. Das Meer beginnt zu vibrieren, und Panik überkommt mich, als ich vergeblich nach Halt suche in diesem unendlichen, tiefen Ozean. Meine Knie zittern, und eine Welle der Furcht kriecht in mir hoch – Furcht vor dem Unbekannten, das vor mir liegt, das ich weder greifen noch verstehen kann.

Mit einem donnernden Krachen durchbricht ein gewaltiges Wesen die Oberfläche. Noctalis erhebt sich, die Manifestation der Dunkelheit, so weiß und endlos wie die Nacht selbst, mit Flossen, die sich wie Schwingen in die Höhe strecken. Sein Körper schimmert in den Tiefen des Dunkelblau und Violett, und seine scharfen, leuchtenden Augen funkeln wie kalte Sterne. Salzwasser spritzt in alle Richtungen, riesige Tropfen fallen wie Regen zurück ins Meer, während Noctalis mit einem mächtigen Schlag seines Schwanzes in die Höhe schießt. Er schwebt für einen Moment, wie eingefroren in der Luft, bevor er mit einem dumpfen, grollenden Knall zurück in die Fluten stürzt.

Kaum ist Noctalis verschwunden, da leuchtet das Wasser in einem warmen, goldenen Schein. Ein neuer Riss öffnet sich in den Wellen, und Solaria steigt auf, die Manifestation des Lichts. Ihr Körper strahlt in einem hellen Gold und Rot, als wäre sie aus purem Sonnenlicht geformt. Ihre schuppige Haut glüht, als fiele das Licht selbst aus ihren Adern in die Dunkelheit der See. Solaria hebt ihren Kopf und stößt einen klaren, melodischen Ruf aus, der wie ein ferner Donner über das Wasser rollt, hell und furchtlos, ein Echo in der stillen Weite.

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Für einen atemlosen Moment stehen sie einander gegenüber — Noctalis und Solaria, Dunkelheit und Licht, zwei uralte Kräfte, geboren aus der Tiefe des Ozeans.

„Vespera“, donnert Noctalis’ Stimme und hallt wie ein dunkler Sturm durch die Luft. Seine Augen, schneeweiß und tief wie Abgründe, bohren sich in meine.

„Tochter des Gefäßes“, fährt Solaria sanft, beinahe wie eine Melodie, fort. Ihre schwarzen Augen funkeln unergründlich, als würde sie bereits die Antworten kennen. „Warum betrittst du unsere Welt? Nenne den Grund.“

Die Worte bleiben mir im Halse stecken. Vor mir ragen die Kairon auf – Wesen von gewaltiger Präsenz, die ich mir kaum vorstellen konnte. Einst klein und unscheinbar in meinen Händen, sind sie nun wie gewaltige Berge, die auf mich herabblicken, eindringlich und unbeweglich.

Mit zittriger Stimme antworte ich: „Ich… ich muss das Gedankenweben erlernen.“ Die Wahrheit brennt auf meiner Zunge, doch ich spüre, dass sie es bereits wissen. „Der Sonatius Mortaeda hat mich als sein Gefäß erwählt.“

Ein Schweigen legt sich über den Ozean, schwer und unerbittlich. Nur das Brausen der Wellen durchbricht die Stille, übertönt den wilden Schlag meines Herzens.

„Isilyn Entium hat Schwäche gezeigt“, grollt Noctalis mit düsterem Zorn in den Augen. „Und du? Wirst du dich deinem Schicksal stellen?“

Mein Inneres bäumt sich auf. Schicksal. Dieses Wort trägt das Gewicht einer Last, die ich kaum zu fassen wage. Doch der Gedanke an Elindros ist wie ein Anker. Wenn ich den Sonatius Mortaeda ablehne, setze ich den Frieden aufs Spiel.

„Ja“, sage ich zögerlich und spüre die Furcht in meiner Stimme. „Ich… ich muss mich ihm stellen. Elindros darf nicht den Kräften des Bösen überlassen werden.“

„Wer aber definiert, was gut und böse ist?“ Seine Augen bohren sich in mich, als suche er die Antwort, die ich mir selbst nicht eingestehen kann.

Solaria tritt vor, ihre Stimme ein sanfter Hauch: „Du hast lange unter Menschen gelebt, Vespera. Auch wenn der Sonatius Mortaeda dich auserwählt hat, könntest du dich gegen uns stellen, auf die Seite der Losniw treten. Doch du hast eine Wahl getroffen.“ Ihre Augen funkeln wie Sterne am tiefen Nachthimmel. „Warum?“

Ein Knoten schnürt sich in meiner Brust zusammen. Wären mir die Losniw früher begegnet… vielleicht hätte ich mich gegen die Solniw gewandt. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Doch jetzt… jetzt sind sie mir vertraut, und ich spüre, wie eine Antwort aus meinem Innersten hervorbricht.

„Ich will den Guten helfen.“ Die Worte verlassen meine Lippen, doch sie klingen fremd, unsicher, als seien sie nur eine Illusion.

Die Kairon starren mich an, unergründlich und kalt. Dann pfeift Solaria, ein Laut, der durch den Ozean schneidet wie ein Schwert. Plötzlich verschwindet sie in den Tiefen, und Noctalis tritt vor. Seine Flosse hebt sich, gewaltig und gnadenlos, bevor ich auch nur einen Laut des Protests ausstoßen kann.

„Stelle dich deinen Ängsten.“

In einem blitzartigen, schrecklichen Augenblick spüre ich seine Flosse durch meinen Körper gleiten. Ein unvorstellbarer Schmerz durchzuckt mich, bricht in Wellen über mich herein, als würde ich in zwei Hälften geteilt.

Mit einem Keuchen reiße ich die Augen auf – und finde mich im Garten von Zyar wieder. Über mir hockt Sylas, sein Gesicht vor Besorgnis angespannt. Neben ihm steht sein Vater, mit kaltem, abwägendem Blick. Ich blicke hinunter… und sehe das warme Rot auf meiner Haut, das sich über meinen Bauch ausbreitet.

„B-Blut?“ Ein Schrei entfährt mir, panisch und ungläubig, als ich meine Hand auf die Wunde lege. „Aber… das war doch nur…“

Ohne ein Wort legt Sylas seine Hände über meine. Ich spüre eine kühle Welle, die sich um meine Verletzung legt – Wasser, das sich wie eine schützende Schicht formt und den Schmerz lindert.

„Eine Narbe wird bleiben“, sagt Zyar nüchtern und emotionslos. „Noctalis und Solaria sind nicht überzeugt von deiner Entschlossenheit. Hast du gelogen – oder bist du dir selbst unsicher?“

„Unsicher?“, zische ich empört und spüre die Wut über seine Gleichgültigkeit. „Ich wurde von diesen Wesen in zwei Hälften gerissen! Und alles, was du denkst, ist, ob ich die richtige Antwort gegeben habe?“

Zyar zuckt kaum merklich die Schultern. „Sylas heilt dich bereits“, entgegnet er kühl. „Also erzähl mir von deinem Gespräch mit den Meistern der Natur.“

Das Mitgefühl, das ich erwartet habe, bleibt aus. Stattdessen bleibt nur das Bild jener Kairon, weise und erhaben, die mich zertrennt haben – und dabei nichts als eine tiefe Wunde hinterließen.

„Sie glauben nicht an meine Absicht, die Losniw zu bekämpfen“, antworte ich, noch immer überwältigt von den Schatten, die die Begegnung in mir zurückgelassen hat.

„Die Kairon irren sich niemals“, erklärt Zyar mit fester Überzeugung, sein Blick durchdringend wie ein Blitz in der Dunkelheit. „Warum kämpfst du an unserer Seite?“

„Nun…“, stottere ich. „Du hast gesagt, dass die Losniws die Macht des Sonatius Mortaeda an sich reißen wollen, um den Thron zu besteigen. Das darf einfach nicht geschehen!“

„Aber warum nicht?“, fragt der Mann, sein Interesse brennt jetzt wie ein loderndes Feuer, und das Desinteresse, das ihn zuvor umhüllte, ist wie ein Schatten in der Dämmerung verschwunden. „Die Machtübernahme der Losniws wäre doch ein Vorteil für dich!“

„Ich habe mich in der Menschenwelt nur nach Frieden gesehnt“, entgegne ich, während meine Gedanken zu den Mauern des Schlosses wandern, die mich all die Jahre gefangen gehalten haben. „Diese kostbaren Stunden sind die ersten, die ich in Freiheit erlebe. Wenn die Losniws tatsächlich die Kontrolle an sich reißen und mit ihrer neuen Ordnung den Frieden in Elindros zunichte machen wollen, werde ich nicht tatenlos zusehen! Ich werde mich gegen sie erheben!“

Trotz Zyars unbändiger Überzeugung flüstert mein Herz mir zu, dass meine Entscheidung, auf der Seite der Solniw zu stehen, die einzig richtige ist. Ich darf mich nicht von meinen Emotionen leiten lassen. In Elindros droht ein Krieg, ein Sturm, der alles mit sich reißen könnte, und diesen werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern.