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Kainsmal

Die Feier zu meiner Eheschließung mit Lord Louweris vergeht im Schlepptau. Die Anwesenden scharen sich um mich, ihre falschen Komplimente verraten, dass sie nur nach einem Vorteil suchen. Lord Louweris bleibt ununterbrochen an meiner Seite, hält fest meine Hand, als wollte er mich nicht loslassen. Ich kämpfe darum, die richtigen Worte zu finden – jene, die er von mir erwartet – und täusche vor, dass mich seine Nähe mit Freude erfüllt, obwohl es kaum schwerer sein könnte.

Plötzlich treten Lord Velqorin und Sylas auf uns zu. Die beiden Männer reichen sich die Hand, während Lord Louweris laut auflacht und Lord Velqorin sich sichtlich zu einem Lächeln zwingt.

„Zyar, mein guter alter Freund!“, ruft Louweris lachend und klopft ihm kräftig auf die Schulter. „Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben?”

„Seit dem Sommer des letzten Jahres, wenn ich mich recht erinnere”, antwortet Lord Velqorin. „Ich hörte vor einigen Monaten, dass du erneut heiraten möchtest. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du ein so junges Mädchen zur Frau nimmst.”

„Du weißt doch, wie es ist”, sagt Louweris grinsend, während er seine Hand auf meine Schulter legt und tiefer gleiten lässt, als es mir lieb ist. „In diesem Alter haben sie ihren ganz besonderen Reiz!”

Er lacht erneut, doch innerlich krümme ich mich vor Scham. Seine Berührung ist unerwünscht und erniedrigend, aber niemand scheint hinzusehen – außer Lord Velqorin und Sylas, die es bemerken. Ihre Blicke machen die Situation noch demütigender, und ich weiß nicht, wie ich dieser Peinlichkeit entkommen soll.

Endlich lässt Louweris von mir ab, aber nicht ohne mir im Vorbeigehen einen Klaps zu geben. Ich zucke zusammen und schaue ihm erschrocken nach.

„Ich lasse dich für ein paar Minuten allein”, sagt er mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Bleib, wo du bist. Die Feier geht ohnehin bald zu Ende.”

Ich nicke stumm und beobachte, wie er sich entfernt. Erst als er außer Sicht ist, atme ich tief durch und lege die Hand auf meine Brust, um mein wild klopfendes Herz zu beruhigen.

Lord Velqorin und Sylas beobachten mich schweigend. Kein Wort kommt über ihre Lippen. Sie haben bereits versucht, meinen Vater umzustimmen, ohne Erfolg. Jetzt bin ich die Frau eines Mannes, der viel zu alt für mich ist, vermutlich mit Kindern in meinem Alter.

„Prinzessin, ich...“, beginnt Sylas zögerlich, doch seine Stimme bleibt distanziert. Er sucht nach Worten, findet jedoch keine.

Stattdessen spricht Lord Velqorin: „Wenn Ihr etwas benötigt, steht es Euch jederzeit frei, Euch an mich zu wenden.”

Mit einem schwachen Lächeln schüttele ich den Kopf. „Seit langer Zeit überlebe ich allein in dieser Welt. Diese Entscheidung, die ohne mein Einverständnis getroffen wurde, wird mich nicht brechen.”

Der Lord nickt stumm und nimmt meine Abweisung hin. Trotz all seiner Siege, trotz der Armeen, die er bezwungen hat, schlägt ein großes Herz in seiner Brust. Lord Velqorin hat mich heute zum ersten Mal gesehen, und doch hat er mich besser behandelt als der König in den letzten Jahren. Ist das die Art Beziehung, die eine Tochter zu ihrem Vater haben sollte?

„Zyar!“, ruft der König plötzlich mit seiner gewohnten Heiterkeit. „Ich habe gehofft, dich noch zu erwischen. Wie wäre es, wenn du und deine Familie die Nacht im Schloss verbringt? Und morgen gehen wir gemeinsam auf die Jagd.”

„Wir hatten geplant, nach der Abreise der Prinzessin und Lord Louweris in unsere Burg zurückzukehren”, entgegnet Lord Velqorin höflich.

„Elowirn wird die Nacht bleiben”, verkündet mein Vater, ohne mich dabei anzusehen. „Das Paar wird erst nach der Jagd aufbrechen. Es ist spät, und sie haben einen dreitägigen Ritt vor sich.”

Velqorin zögert kurz, seine Blicke wandern von seinem Sohn zu mir. Ich sage nichts, denn meine Meinung zählt nicht.

„Einverstanden”, stimmt der Lord schließlich zu. „Wir werden Euch morgen auf der Jagd Gesellschaft leisten.”

„Hervorragend!“, ruft König Mukuta freudig und beendet das Gespräch mit einem kräftigen Klatschen. „Die Diener werden zu Ehren deines Besuchs morgen euer Lieblingsfrühstück servieren.”

Mein Vater lacht und klopft Velqorin freundschaftlich auf die Schulter, bevor er zu den verbleibenden Gästen eilt. Viele haben sich bereits verabschiedet, da die Stunde spät ist und sie noch einen langen Ritt vor sich haben.

Lord Velqorin und sein Sohn verabschieden sich von mir mit einem stummen Nicken und wenden sich ab. Sylas wirft einen letzten Blick in meine Richtung, seine Augen spiegeln die Traurigkeit wider, die er tief in seinem Herzen trägt.

In dem Moment, als wir inmitten des Saales tanzten, entflammte in uns beiden ein Feuer – eines, das schnell erstickt wurde. Doch irgendwo in uns glimmt noch ein Funke.

„Herzlichen Glückwunsch zu deiner Ehe, Lady Louweris”, ertönt die Stimme von Kronprinz Yula. Ich blicke zur Seite, überrascht von seiner Anwesenheit. „Dein Ehemann ist wahrlich eine Augenweide. Du hast das große Los gezogen!”

Die Königin lacht leise und fügt hinzu: „Lord Louweris erwartet dich bereits in eurem Gemach. Deine Koffer sind gepackt und warten in der Kutsche auf die morgige Abreise. Dir zuliebe habe ich ein Nachtkleid ausgewählt, das du auf dem Bett finden wirst.”

„In unserem Gemach?“, wiederhole ich, verwirrt und von Nervosität ergriffen. „Es wird doch nicht erwartet, dass...”

„Was hast du denn gedacht?“, fragt die Königin mit einem gespielten Ausdruck von Sorge. „Glaubst du, dieser Mann will dich nur zur Zierde? Du sollst ihm Erben schenken, und zwar bald. Dein Vater erwartet einen Sohn – und dein Ehemann ebenso.”

Die Königin schnippt, und wie aus dem Nichts tauchen zwei Dienerinnen neben mir auf. Sie sorgen dafür, dass ich dorthin gebracht werde, wo man mich erwartet.

Mein Blick wandert zu Kronprinz Yula, meinem jüngeren Bruder, der nur zwei Jahre nach mir geboren wurde. In seinen Augen spiegelt sich derselbe kalte Hass wider, den auch mein Vater und seine Frau mir entgegenbringen. Sie alle verabscheuen mich, und meine Ehe mit Lord Louweris ist für sie nichts anderes als eine willkommene Demütigung.

„Sobald ich König bin, werde ich dafür sorgen, dass sie dieses Königreich nie wieder betritt, Mutter”, sagt Yula leise, aber mit einer Klarheit, die mir den Atem raubt, während die Dienerinnen mich fortführen.

Niemand außer mir, den Dienerinnen und der Königin scheint seine Worte gehört zu haben. Doch ich verstehe, was sie bedeuten: Mit dem Tod meines Vaters wird mein Schicksal besiegelt sein, und mein Leben wird endgültig zerbrechen.

Nicht, dass es jetzt anders wäre. Morgen werde ich mit Lord Louweris nach Aschemond reisen, um an seiner Seite über diese alte, geheimnisvolle Region zu herrschen. Laut den Überlieferungen sind die Ascharen – wie die Bewohner Aschemonds seit jeher genannt werden – einst aus den Mondlanden auf die Welt gekommen. Wie viel Wahrheit in dieser Legende steckt, weiß heute niemand mehr, denn die Ascharen wurden während der Kriegszeiten gnadenlos gejagt. Ihr goldenes Haar war Grund genug, um sie der dunklen Magie zu bezichtigen. Man sagt, eine einzige Haarsträhne reichte aus, um verbotene Zauber zu wirken.

Die Legende spricht von zwei Schwestern, die durch das Schicksal getrennt wurden: eine mit goldenem Haar und die andere mit roten Augen. Aus ihrer Liebe und ihrem Schmerz entstand das Volk der Ascharen – bekannt für ihr goldenes Haar und blutrote Augen. Doch wenn die Bücher in unserem Schloss recht haben, ist von ihnen kaum noch jemand übrig. Nur eine einzige Person soll noch das Blut der Ascharen in sich tragen – eine uralte Frau, die vermutlich vor der Geburt von Lord Louweris lebte.

Wenn ich an all diese Legenden denke, die so tief in die Vergangenheit reichen und doch kaum jemand bestätigen kann, frage ich mich, ob es nicht mehr gibt als das, was wir als Realität kennen. Die Fremde, die an jenem stürmischen Tag mühelos durch die Luft schwebte, und die Stimme, die mich seit meiner Kindheit begleitet – sie alle gehören nicht in diese Welt.

Die Dienerinnen begleiten mich bis vor die Tür meines Zimmers. Dort steht bereits Lord Louweris, seine Hand ausgestreckt, als ihm der Schlüssel überreicht wird. Die Frauen verbeugen sich tief und ziehen sich zurück, um ihrer Arbeit nachzugehen. Louweris nimmt meine Hand in seine, und mit der anderen öffnet er die Tür. Er gibt mir den Vortritt, folgt mir dicht, als ich mit unsicheren Schritten den Raum betrete.

Mein vertrautes Zimmer fühlt sich plötzlich fremd an. Die leeren Bücherregale und der Anblick meiner verschwundenen persönlichen Gegenstände lassen den Raum seltsam leer wirken. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit.

Hat die Königin wohl den Dienerinnen aufgetragen, meine Besitztümer sorgfältig zu behandeln? Oder bin ich längst vergessen, wie der Inhalt dieser nun leeren Regale?

Das ist ein absurder Gedanke. Seit ich in diesem Schloss lebe, war ich immer nur ein Niemand. Selbst diese Feier, die angeblich mir zu Ehren veranstaltet wurde, hat mir klar gemacht, dass meine Anwesenheit niemanden interessiert.

„Ein hübsches Zimmer hattest du”, sagt Lord Louweris, und er betont die Vergangenheitsform bewusst. „In meinem Anwesen wirst du ab morgen ein besseres Leben führen. Dieses kleine Bett ist einer Lady Louweris nicht würdig. Es ist eine Schande, dass dein Vater dich unter diesen Bedingungen hat schlafen lassen.”

Was soll ich darauf erwidern? Auch wenn mein Leben nicht dem einer üblichen Prinzessin entsprach, habe ich diesen Raum stets als Zuflucht geschätzt. Hier, abgeschirmt vom Einfluss des Königs und der Königin, konnte ich ich selbst sein. Hier habe ich meine Wut über ihre Kontrolle herausgelassen und mich schließlich mit meiner Einsamkeit abgefunden. Doch ich weiß genau, dass Lord Louweris, der nun mein Ehemann ist, nur Zustimmung erwartet. Widerspruch würde ihm missfallen und mir nur unnötigen Ärger einbringen.

„Ihr habt Recht, Lord Louweris”, stimme ich ihm zögerlich zu.

„In der Anwesenheit Fremder wirst du michLord Louwerisnennen, Kind”, schneidet er scharf. „Doch in unseren eigenen vier Wänden wirst du mich als deinenGeliebtenansprechen.”

MeinGeliebter? Ist er vollkommen wahnsinnig? Er nennt mich ein Kind und verlangt im gleichen Atemzug, dass ich ihn mit einem Kosenamen würdige? Der Gedanke ekelt mich an, doch ich bin seiner Macht ausgeliefert. So sehr mich sein Verhalten abstößt, so sehr spüre ich das Gewicht seiner Autorität. Auch wenn er viele Jahre älter ist, er ist ein Mann, der unzählige Schlachten geschlagen hat – und ich stehe ihm allein gegenüber. Seine Stärke möchte ich nicht unterschätzen.

„Wenn Ihr müde seid...“, beginne ich, während mir ein Kloß im Hals die Stimme raubt. Ich zwinge mich, die nächsten Worte herauszubringen. „...mein Geliebter.” Ein Moment der Stille vergeht, bevor ich genug Kraft finde, weiterzusprechen. „Dann werde ich Euer Bett bereiten.

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„Mein Bett?” Lord Louweris blickt mich verwirrt an. „Du weißt doch, dass du darin mit mir schlafen wirst, oder? Du bist jetzt meine Frau, und als solche wirst du die Nächte an meiner Seite verbringen.”

Insgeheim hatte ich gehofft, dass dieser Teil der Ehe nur eine formale Rolle spielen würde. Doch was hatte ich erwartet? Ein Mann wie er heiratet keine junge Braut ohne Absichten.

Versteinert bleibe ich stehen, unfähig, mich zu rühren, während ich ihn beobachte. Er geht zur Tür, dreht den Schlüssel im Schloss um, den man ihm zuvor gegeben hat, und steckt ihn sorgsam in seine Jackentasche. Diese hängt er bedächtig über einen Stuhl. Kein Laut entweicht meinen Lippen. Ich bete, dass sein Hin und Her mehr Zeit kostet, dass das Unvermeidliche noch ein wenig auf sich warten lässt.

Doch zu meinem Unglück steht der Lord direkt hinter mir und flüstert mir leise ins Ohr. Ich zucke zusammen und versuche, ruhig zu bleiben, da ich mir der möglichen Folgen bewusst bin. Seine Hand gleitet über meinen Körper, und ich spüre seinen warmen Atem, was mir ein mulmiges Gefühl gibt. Ein Schauer läuft über meinen Rücken, und ich hätte am liebsten sofort Abstand genommen.

„Du hast eine beeindruckende Ausstrahlung”, sagt Lord Louweris und streicht sanft über meine Brüste. „Dein Vater hat mir gesagt, dass du noch unerfahren bist.” In diesem Moment verspüre ich den Drang, mich von ihm wegzudrehen.

Ich wende mich ihm zu, drücke mein Kleid fest an mich, um mich zu schützen. Lord Louweris sieht mich ernst an, seine Hände zu Fäusten geballt.

„Möchtest du dich widersetzen?“, zischt der Mann mit einem verärgerten Unterton und tritt näher. „Hör gut zu, Kind. Du gehörst mir und wirst dich fügen!”

Ich schüttele verängstigt den Kopf und möchte nur, dass er den Raum sofort verlässt. Der Wunsch, diesem Ort zu entkommen, war so stark, dass ich vergaß, welche Sicherheit er mir einst geboten hat.

Lord Louweris packt mich grob am Haar und zieht mich auf die Beine, um mir eindringlich in die Augen zu schauen.

„Dir wurden keine Manieren beigebracht”, zischt er entsetzt und verstärkt seinen Griff. Schmerz durchfährt mich, während ich das Gesicht verziehe. „Ich habe schon viele Frauen geheiratet. Ein kleines Kind wie du wird mir keine Probleme bereiten.”

Er greift nach meinem Hals und zieht mich mit solcher Gewalt zu sich, dass ich ihm keinen Widerstand mehr leisten kann. Der Zorn, der ihn in diesem Moment antreibt, verleiht ihm eine unvorstellbare Kraft.

Während seine eine Hand mich festhält, gleitet die andere zu meinem Kleid, das er mühelos nach unten zieht.

Entblößt stehe ich vor diesem Fremden, und der Wunsch, im Erdboden zu versinken, wird übermächtig. Lord Louweris mustert mich gierig und presst meine Hände zur Seite, mit denen ich versucht habe, mich zu bedecken.

Er stoßt mich auf das Bett und lehnt sich über mich. Der Mann sieht kein einziges Mal hinauf zu meinem Gesicht. Stattdessen liebkost er meine Brüste und zwickt meine Brustwarzen.

Mit aller Kraft versuche ich mich zu wehren. Unerwartet verpasst er mir eine schellende Ohrfeige.

„Ich bin schon zu alt für diese Spielchen”, zischt er unbeeindruckt. „Du wirst lernen deinem Mann zuzuhören.”

„Ekelst du dich nicht vor dir selbst an, wenn du ein junges Mädchen zu etwas zwingen willst?“, frage ich voller Zorn und bemerke erst im Anschluss die Wahl meiner Worte.

Woher habe ich nur den nötigen Mut gesammelt, um ihm zu widersprechen? Habe ich den Verstand verloren? Dieser Mann ist mein Gatte und zusätzlich ein guter Freund meines Vaters, der mich bereits verabscheut. Jedes weitere Fehlverhalten wird zu einem Untergang führen und ein mögliches Leben in Freiheit verhindern.

„Was hast du da gesagt?“, knurrt Lord Louweris. „Hast du dir das Recht genommen mich in Frage zu stellen? Du magst zwar die Prinzessin dieses Königreiches sein, aber innerhalb dieses Bettes bist du mein Besitz und hast nicht zu sprechen, solange du nicht aufgefordert wirst!”

Der Mut, der mich in diese Situation gebracht hat, ist wie weggeblasen. Mir bleibt die Sprache weg, und mein Herz hämmert so laut, dass ich es bis in die Ohren spüre. Plötzlich trifft er mich mit einem Schlag ins Gesicht – mehrere Sekunden lang bin ich benommen. Verwirrt versuche ich, den Mann anzusehen, doch meine Sicht ist verschwommen.

Seine erzwungenen Berührungen und Liebkosungen kommen zu einem Ende. Lord Louweris öffnet seine Hose und holt sein männliches Genital heraus, das mir in den nächsten Minuten Schmerzen bereiten soll. Ich presse meine Beine zusammen, und als Reaktion erhalte ich eine weitere Ohrfeige, die meine Welt zum Taumeln bringt.

„Du wirst mir einen Sohn gebären”, befiehlt er, als könnte eine Frau den Lauf der Natur kontrollieren, und zerrt meine Beine auseinander. „Sei ein braves Kind und gehorche deinem Lord.”

Bevor Lord Louweris weitermachen kann, wird etwas in mir ausgelöst. Die Furcht davor, von diesem Mann missbraucht zu werden, versetzt mich in eine Art Trance. Für die nächsten Augenblicke fühlt es sich an, als würde ich das Geschehen aus der Perspektive eines anderen betrachten, während ich gleichzeitig durch meine eigenen Augen sehe.

Im Augenwinkel erblicke ich eine Haarnadel, die eine der Dienerinnen zurückgelassen hat, da meine eigenen bereits im Koffer in der Kutsche verstaut sind. Ohne einen Moment zu zögern greife ich nach der Nadel und steche sie Lord Louweris direkt ins Auge. Ein markerschütternder Schrei entkommt seinen Lippen, als er rückwärts zu Boden fällt.

„Du Schlampe!“, brüllt er wütend, unfähig, sich wegen der unerträglichen Schmerzen zu erheben.

Ich springe auf und werfe hastig mein Kleid über, ohne es zuzuknöpfen.

„Die Schmerzen, die du jetzt empfindest”, zische ich und blicke ihn mit verachtendem Blick an, „sind nichts im Vergleich zu dem, was du mir antun wolltest.”

„Dafür wirst du bezahlen!“, ächzt er, während er vergeblich versucht, mich anzuschreien. Die Kraft fehlt ihm. „Ich werde dich auspeitschen! Ich werde dir alle Knochen brechen! Meine Ware hat keinen Willen!”

„Wie erfreulich, dass ich nicht deine Ware bin”, entgegne ich kühl. „Lady Louweris? Ich heiße Vespera und bin meine eigene Person.”

Mit einem verächtlichen Spucken vor seine Füße eile ich zu seiner Jacke, um den Schlüssel zu suchen, der mir die Flucht ermöglichen wird. Der Schrei könnte möglicherweise jemanden geweckt haben, aber da das Schloss riesig ist und mein Zimmer hoch oben liegt, ist die Wahrscheinlichkeit gering. Dennoch weiß ich, dass Königin Mayyira sicher etwas plant und möglicherweise jemanden in der Nähe des Zimmers postiert hat. Aber diese Chance darf ich mir nicht entgehen lassen. Es ist unwichtig, ob ich außerhalb des Schlosses überleben werde. Ich will nur nicht an diesem Ort sterben.

Mit einem entschlossenen Schwung öffne ich die Tür und schließe sie leise hinter mir ab, um zu verhindern, dass Lord Louweris schreit und das gesamte Schloss alarmiert. In einem hektischen, aber gedämpften Laufschritt mache ich mich auf den Weg ins unterste Stockwerk, wo der Pferdestall auf mich wartet. Dort steht die Kutsche mit meinen wertvollsten Besitztümern, die einzige Hoffnung auf meine Flucht. In diesem auffälligen Kleid kann ich unmöglich unbemerkt bleiben. Doch zum Glück habe ich vor Jahren eine Hose und eine leichte Bluse genäht, die mir jetzt den nötigen Freiraum geben. Die warmen Tage schützen mich zudem vor der Kälte der Nacht. Als Kind habe ich das Nähen gehasst und nun rettet mir diese Fähigkeit das Leben.

Jeder meiner Schritte hallt in den gewaltigen Hallen des Schlosses wider, wie das Pochen meines beschleunigten Herzens, das in meiner Brust zu dröhnen beginnt. In diesen späten Stunden sind die meisten Soldaten in den Kerkern oder an der Brücke postiert, um unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. Mein Vater hatte keinen Grund gesehen, mich zu überwachen, da ich stets in meinem Zimmer gefangen war. Heute jedoch war er der festen Überzeugung, dass Lord Louweris mich im Griff hätte. Vielleicht, nur vielleicht, ist heute der Tag, an dem ich meine Freiheit zurückerobern kann.

„Vespera... komm zu mir!”

Diese Stimme! Endlich höre ich sie wieder! Ich habe sie mir als Kind nicht eingebildet! Ihr Ruf, der in diesem entscheidenden Moment zu mir dringt, muss mit meinem Ausbruch verbunden sein! Mein Mut hat die Verbindung zu der Stimme wiederhergestellt, die ich in meiner Kindheit verloren glaubte. Die unzähligen Unterdrückungen der Königin haben meinen Willen gebrochen, doch heute habe ich diesen Willen zurückgewonnen, um nicht dem schrecklichen Griff von Lord Louweris zu erliegen.

Die Stimme gibt mir keinen Ort, an dem ich sie treffen soll, und doch sehe ich vor meinem inneren Auge nur die königlichen Gärten. Dort, genau dort, habe ich sie das letzte Mal gehört. Ein unerklärliches Ziehen, als wäre der Weg bereits vorgezeichnet, leitet mich dorthin.

Mit rasendem Herzschlag steuere ich zielstrebig auf den Pferdestall zu, um von dort aus dem Ruf der Stimme zu folgen. Kaum zu glauben, wie schnell ich mein erstes Etappenziel erreiche. Vor mir steht die Kutsche des Lords, dessen Auge noch immer von der Nadel gezeichnet ist, die ich ihm vor kurzem hineingerammt habe.

Ein seltsamer Mut, wild und unzähmbar, flutet durch meine Adern und erfüllt mich mit einer Kraft, die ich nicht erklären kann. Eigentlich sollte mich der Schrecken meiner Taten abstoßen, doch stattdessen spüre ich eine unbeschreibliche, fast berauschende Freude. Es ist, als hätte ich eine Seite von mir entdeckt, die mich zugleich fasziniert und ängstigt. Ohne diese neu gewonnene Entschlossenheit wäre ich nicht hier – ich könnte nicht die Frische des Windes auf meiner Haut spüren, nicht das entfernte Rauschen des Meeres vernehmen. All diese Schönheit der Welt war für mich so lange verloren, eingehüllt in die Dunkelheit meiner Gefangenschaft.

Mit hastigen, leisen Schritten eile ich zur Kutsche, öffne die Koffer und finde schnell, wonach ich suche. Die Hose und die Bluse – genäht von meinen eigenen Händen – warten auf mich wie alte Verbündete. Sofort ziehe ich mich im Schutze des Schattens um. Das Tragen einer Hose gibt mir die Bewegungsfreiheit, die ich brauche. Röcke? Zu gefährlich, zu hinderlich – ein einziger Fehltritt, und alles könnte verloren sein. Doch die Welt würde es nicht gutheißen, wenn eine Frau sich anmaßt, wie ein Mann zu sein.

Aber heute interessiert mich nicht, was die Welt sehen will. Heute gehört mir die Nacht – und vielleicht auch mein Leben.

Gerade als ich mich in Richtung der königlichen Gärten aufmachen will, höre ich in der Ferne laute Schritte. Sofort werfe ich einen Blick über meine Schulter und ducke mich in die Kutsche, wo ich geduldig abwarte, mein Atem flach und mein Herzschlag donnernd in meinen Ohren.

„Die Prinzessin ist verschwunden!“, ruft eine Stimme – das metallische Klappern seiner Rüstung verrät ihn als Wache.

Ein zweiter Mann antwortet hastig: „Glaubst du, sie wurde entführt?”

„Aber nicht doch!“, widerspricht der erste sofort. „Lord Louweris wird gerade behandelt. Man sagt, sie habe ihm eine Nadel ins Auge gerammt!”

Ein schaudervolles Geräusch entweicht dem zweiten Mann, als ob ihm allein die Vorstellung Übelkeit bereitet.

„Vielleicht wollte sie diese Ehe nicht?“, fügt der erste Soldat nachdenklich hinzu. „Möglicherweise war all das ohne ihr Einverständnis arrangiert?”

„Und wenn schon?“, entgegnet der andere kühl. „Sie ist eine Prinzessin – sie sind nicht zum Regieren da! Sie kann sich glücklich schätzen, dass jemand wie Lord Louweris überhaupt ein Auge auf sie geworfen hat. Wir müssen sie so schnell wie möglich finden! Der Lord wird den Finder großzügig belohnen!”

Die Schritte entfernen sich langsam, und in diesem Moment wird mir mit erschreckender Klarheit bewusst: Einer von ihnen stand wohl auf der Brücke, nur wenige Meter über meinem Kopf! Diese Männer waren mir gefährlich nahe – ein falscher Schritt, ein leises Geräusch, und sie hätten mich sofort entdeckt.

Mein Herz pocht noch heftiger, während ich mich aus meinem Versteck wage. Ich weiß nun, wie knapp ich der Gefahr entronnen bin – und wie wenig Zeit mir bleibt.

Der Weg zu den königlichen Gärten fällt mir schwerer, als ich erwartet hatte. Obwohl es nur ein paar Meter sind, wirkt jeder Schritt, als würde er mich durch zähen Morast ziehen. Mein Körper und mein Geist arbeiten gegen mich – als wollten sie mich zurückhalten. Jeder hier steht auf der Seite von Lord Louweris, diesem Mann, der nichts als Verachtung für Frauen übrig hat, der ohne Skrupel ein junges Mädchen wie mich zur Ehe zwingt. Mit jedem Schritt wird mir klarer: Dieser Ort ist kein Ort für mich. Mein Platz ist woanders – weit weg von diesem Gefängnis.

Das Schleichen zu den Gärten fühlt sich wie eine Ewigkeit an, als ob die Zeit selbst mich quälen wollte. Doch schließlich erreiche ich sie. Aber... nichts. Kein Zeichen, keine Stimme.

„Aber, wo ist sie?“, murmele ich verwirrt und stelle mich vor den hohen Zaun, der das Berühren des Wassers verhindert. „Wie schön der Mond im Wasser schimmert...” Die Reflektion des Mondes ist atemberaubend – ein vergänglicher Moment des Friedens inmitten des Chaos.

Erschöpft und entmutigt lasse ich mich auf den Boden sinken. Meine Hände bedecken mein Gesicht, als ob ich so den Schmerz der Enttäuschung verstecken könnte. Ich war so voller Hoffnung, endlich zu erfahren, wer oder was diese geheimnisvolle Stimme ist, die mich hierher gerufen hat. Doch hier wartet niemand. War das alles nur Einbildung? Ein Trugbild meiner Verzweiflung?

„VESPERA!”

Die Stimme, laut und bedrohlich, reißt mich aus meiner Lustlosigkeit. Mein Herz rast, und ich blicke über meine Schulter. In einem Augenblick springe ich auf die Beine – direkt in die wütenden Augen des Königs. Sein Blick lodert vor Zorn, die Hände zu Fäusten geballt. Hinter ihm stehen die Soldaten, die das Schloss bewachen, jeder einzelne, der in der Nähe war. Sie alle wurden wegen mir zusammengetrommelt. Ist ihre Angst vor mir wirklich so groß?

„VERRÄTERIN!“, donnert König Mukuta, seine Stimme grollt wie ein heraufziehendes Unwetter. „Wie kannst du es wagen, deinem Ehemann eine Nadel ins Auge zu rammen? Prinzessin Vespera Valdyris, ich verurteile dich zum Tode!”

Sie haben mich gefunden. Die Königin muss gewusst haben, dass ich hierher flüchten würde. Sie kennt die Bedeutung dieses Ortes für mich, sie wusste es damals schon, als sie mir den Zutritt zu den Gärten verbot.

Was ist meine Verbindung zu diesem Ort? Ich weiß es nicht, doch ich habe hier immer Frieden gespürt – einen Frieden, den ich nirgendwo sonst fand.

Vielleicht... wäre es nicht das Schlechteste, an diesem Ort zu sterben. Ein schöneres Ende könnte ich mir kaum vorstellen.

„Vespera, finde zu mir!”