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Die Bürde

Plötzlich finde ich mich im Nexari wieder. Zyar steht mir gegenüber, seine Augen durchdringen mich mit einer Neugier, die unheimlich wirkt. Sylas ist an meiner Seite, seine Hände auf meinen Schultern, als ob er spüre, dass ich gleich jeden Moment zusammenbrechen könnte.

„Was ist passiert?“, frage ich, meine Stimme zitternd vor Verwirrung. Mein Blick fällt auf meine Hand, in der das Astralis still und unscheinbar ruht.

Zyar hebt eine Augenbraue und erwidert kühl: „Die Frage sollte ich dir stellen. Du hast Aetherion getroffen, richtig? Sie hat dir den Zugang zum Astralis gewährt!“

Ich nicke schwach, noch benommen von all den Ereignissen. Alles seit meiner Flucht aus dem Königreich schwirrt in meinem Kopf herum, und das Astralis, diese Kugel, die zuvor so hell gestrahlt hat, liegt nun still in meiner Hand. Als ob die Begegnung mit Aetherion nur ein Traum gewesen wäre.

„Es war ein wundersamer Ort“, flüstere ich, den Blick nicht von meinen Händen lösend. „Aber sie war... allein.“

Zyar lacht leise, ohne jede Spur von Mitgefühl. „Über das Schicksal eines Wesens ohne eigenen Willen solltest du dich nicht sorgen. Lass uns gehen.“

Sylas, der die ganze Zeit stumm geblieben ist, nickt. Was wohl in ihm vorgeht? Doch mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Astralis in meiner Hand beginnt erneut zu leuchten. Plötzlich werden wir von einer sanften Wärme eingehüllt. Vor uns erscheint eine Holztür, dicht umschlungen von Dornen, als würde sie uns den Zugang verwehren wollen.

„Jetzt musst du dem Astralis die Erlaubnis geben, den Eingang zu öffnen“, sagt Zyar ruhig, sein Finger deutet auf die Tür.

„Wie soll ich das machen?“, frage ich skeptisch, mein Blick wandert zwischen der Kugel und der Tür hin und her.

Sylas legt seine Hand auf seine Brust. „Es weiß, was du tun musst.“

Zyar nickt bestätigend. Ich strecke meine Hand aus, und das Astralis erhebt sich langsam in die Luft. Es schwebt direkt zur Tür und bei der ersten Berührung der Dornen beginnen sie sich aufzulösen, wie Nebel, der in der Sonne verdampft. Die Kugel sinkt zurück in meine Hand, das Licht erlischt, und die Tür öffnet sich.

Zyar und Sylas treten hindurch, ohne zu zögern. Ich bleibe stehen, meine Hand zittrig, mein Herz rast. Was geschieht, wenn ich diesen Schritt wage? Was, wenn dies der Punkt ist, an dem sich mein Schicksal unwiderruflich ändert? Was erwartet mich auf der anderen Seite? Sind die Elindine so wie die Menschen, voller Gier und Lügen? Ist ihre Welt chaotisch wie das Nexari? Werde ich überhaupt atmen können? Kann mein Körper den Gesetzen dieser fremden Welt standhalten?

„Ves?“, ruft Zyar, seine Stimme hallt durch das Nexari, seine Silhouette halb durch die Tür verschwunden. „Wir warten.“

„Entschuldige“, stammle ich, überwältigt, doch ich setze einen Fuß vor den anderen und folge ihnen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich bereit bin.

Mein Herz schlägt wie ein Trommelwirbel, meine Hände schwitzen. Das Astralis ist sicher in meiner Hosentasche verstaut, doch ich kann nicht aufhören, es immer wieder zu überprüfen. Sobald ich die Schwelle überschreite, verändert sich die Atmosphäre um mich herum.

Ein kräftiger Wind schlägt mir ins Gesicht. Instinktiv hebe ich meinen Arm, um mich zu schützen, aber der Wind wird sanfter, fast wie eine Brise. Ein Hauch von Minze erfüllt die Luft, so frisch und klar, dass ich tief einatme. Vor mir erstreckt sich ein weites Feld, das sich bis zum Horizont zieht und der Luft eine erfrischende Note verleiht.

Direkt neben dem weiten, duftenden Minzfeld erhebt sich ein Haus, schlicht und doch imposant in seiner eigenen Art. Es scheint zwei, vielleicht drei Stockwerke hoch zu sein, doch im Vergleich zum königlichen Schloss, das ich einst kannte, wirkt es bescheiden, fast klein. Die Fassade ist in einem düsteren, matten Schwarz gehüllt, wie ein Schatten im Abendlicht, und etwa zwanzig Fenster durchbrechen die Dunkelheit der Wände. Ein Zaun, kaum höher als ein Mensch, umschließt das Anwesen, doch durch seine Gitter erhasche ich einen flüchtigen Blick auf die weiteren Häuser des Dorfes, die in der Ferne wie stumme Zeugen unseres Eintreffens wirken. Der Himmel, tiefrot gefärbt, kündigt die herannahende Nacht an.

„Atemberaubend“, flüstere ich, unfähig, meinen Blick von dieser Szenerie abzuwenden. Der Anblick fesselt mich, als hätte ich ein Stück einer anderen Wirklichkeit betreten. „Ist dies... Solnya?“

Zyar nickt, ein Lächeln umspielt seine Lippen, doch in seiner Stimme schwingt leichte Verwunderung mit. „Du bist schon allein von meinem Anwesen beeindruckt? Dabei siehst du nur einen winzigen Teil des Dorfes.“

Ich zucke mit den Schultern, die Augen immer noch auf das endlose Minzfeld gerichtet, dessen Duft der Wind zu mir trägt, fast wie ein Versprechen auf etwas Größeres. Eine andere Welt. Das Dorf der Solniws auf Elindros. Wie sind die Wesen, die hier leben?

Die beiden Männer setzen sich in Bewegung, ihre Schritte führen uns in Richtung des Hauses, das mit jedem Schritt näherkommt. Bald verschwinden die hohen Bäume mit ihren hellbraunen Blättern aus meinem Blickfeld, und plötzlich eröffnet sich vor mir ein riesiger, stiller Teich.

Das Wasser schimmert im Licht des Abendrotes, und bei genauerem Hinsehen entdecke ich zwei Fische, die seelenruhig im Kreis schwimmen. Einer ist schwarz mit einem weißen Kreis auf dem Kopf, der andere weiß mit einem schwarzen.

„Meine Kairon sind dir wohl sofort aufgefallen“, bemerkt Zyar mit einem amüsierten Lachen. „Gefallen sie dir?“

„Sie sind wunderschön!“, gestehe ich ehrfürchtig und ziehe dann eine Augenbraue hoch. „Aber Kairon? Was sind das für Fische? Noch nie habe ich von ihnen gehört. Ihre Besonderheit muss etwas mit Elindros zu tun haben.“

„Die Kairon existieren tatsächlich nur hier in Elindros“, erklärt Zyar, während er den Blick auf die Fische richtet. „Ihr Ursprung reicht weit in die Vergangenheit zurück. Noctalis…“ Er zeigt auf den weißen Fisch. „…symbolisiert die ewige Nacht.“ Dann deutet er auf den schwarzen Fisch. „Solaria, sie steht für den vergänglichen Tag. Gemeinsam repräsentieren sie das Gleichgewicht dieser Dimension und derer, die mit ihr verbunden sind.“

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„Ich verstehe nicht ganz“, erwidere ich und neige den Kopf zur Seite.

Sylas erklärt: „Noctalis steht für den Tod, Solaria für das Leben. Ihre Aufgabe ist es, das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit zu wahren, damit keines von beiden die Oberhand gewinnt. Die Kairon zeigen sich nur wenigen Wesen, und das auch aus gutem Grund.“

„Welchen Grund könnten sie haben, um sich mir zu zeigen?“, frage ich perplex und starre hypnotisiert auf die Fische, die in ihrem Kreis schwimmen.

„Das Astralis, Ves“, erinnert Sylas und deutet auf die Kugel in meiner Hosentasche. „Noctalis und Solaria erkennen Aetherion und wissen, dass alle in ihrer Gesellschaft vertrauenswürdig sind.“

„Also sind die Kairon mit dem Astralis in gewisser Weise verbunden?“, erkundige ich mich.

„Elindros ist eine Dimension, in der unzählige uralte Kräfte existieren“, erklärt Zyar, der sich wieder ins Gespräch einmischt. „Es braucht mehr als nur ein Wesen, um Ordnung zu schaffen.“

„Noctalis und Solaria halten die Dunkelheit im Zaun“, wiederhole ich nachdenklich. „Aber warum das Licht?“

„Zu viel Licht kann zu Hochmut führen, liebe Ves“, sagt Zyar und blickt zu Solaria. „Licht kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Es steht nicht nur für das Gute, sondern auch für Reichtum. Es symbolisiert, dass man alles hat, was das Herz begehrt. Doch nicht jeder kann von diesem Licht profitieren, und jene, die es tun, könnten in Hochmut verfallen.“ Sein Blick wandert zu Noctalis. „Die Dunkelheit hingegen führt zu Blindheit und Verbitterung. Wesen, die zu lange in der Dunkelheit verweilen, verlieren die Fähigkeit, rational zu denken, und tun alles, um zurück ins Licht zu gelangen, wobei sie längst vergessen haben, wie sich das Licht anfühlt.“

„Wie kann ich das verstehen?“, frage ich und kann mir all diese Informationen nicht sofort merken.

„Dunkelheit ist die Abwesenheit von Licht“, offenbart der Mann. „Licht ist die Abwesenheit von Dunkelheit.“

„Aber irgendwann muss doch jedes Leben ein Ende finden“, murmele ich, während meine Gedanken zum Tod schweifen, diesem unvermeidlichen Feind, dem selbst diese Wesen nicht entkommen könnten, wenn sie tatsächlich für immer leben würden.

„In der Tat“, bestätigt Zyar leise, sein Blick düster. „Ihre einzigartige Gabe ist es, zwischen den Welten zu reisen – von der physischen Welt von Elindros in eine astrale oder spirituelle Ebene. Doch das können sie nur, wenn das Gleichgewicht Elindros zu kippen droht.“

„Und was geschieht dann?“ Meine Stimme zittert, obwohl ich die Antwort fürchte.

Zyar zögert. „Das kann ich dir nicht sagen.“ Eine Schwere liegt in seinen Worten, und ich lasse die Schultern sinken. „Dieses Phänomen tritt nur ein einziges Mal im Leben der Kairon auf.“

„Aber wenn diese Fische nicht mit dir sprechen, wie weißt du dann von ihrer Aufgabe?“ Meine Verwirrung wird von Unbehagen begleitet.

Zyars Gesicht erhellt sich leicht bei dem Gedanken. „Die liebe Isilyn, deine Mutter, hat mich aufgeklärt“, erklärt er mit einem sanften Lächeln. „Sie hat das Astralis gehütet und stand in Kontakt mit Aetherion. Doch selbst sie erhielt nicht alle Antworten, die sie suchte.“

„Aber wenn das Astralis zu jeder Losniw finden kann, warum hat es ausgerechnet mich gewählt?“ Meine Fragen klingen hohl in meinen eigenen Ohren. „Warum hat diese Kugel so lange auf mich gewartet? Aetherion sagte, dass meine Mutter irgendwann verschwunden ist. Warum hat es nie einen anderen Besitzer gefunden?“

„Nicht jede Losniw ist würdig, das Astralis zu tragen“, antwortet Zyar, und plötzlich liegt etwas Bedrücktes in seiner Stimme. „Deine Mutter und du, ihr teilt ein Schicksal, das sie nicht erfüllen wollte.“

„Ein Schicksal?“ Das Wort hinterlässt einen bitteren Nachhall in mir. „Was soll das bedeuten?“

Zyar wirft Sylas einen Blick zu. Die Stille zwischen ihnen spricht Bände. Trauer? Angst? Ich kann es nicht deuten.

„Der Sonatius Mortaeda“, flüstert Zyar schließlich, als hätte der Name allein die Macht, die Welt zu verändern. „Sein Name bedeutet: Der Klang des Todes. Ein uraltes Wesen, älter als Aetherion und die Kairon. Er ist ein Alptraum ohne Manifestation, mit Kräften, die ausreichen würden, um ganz Elindros unter seiner Herrschaft zu beugen.“

Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Die Synnx aus dem Nexari hatten es prophezeit – ich bin diejenige, die dieses Wesen zähmen soll. Aber wie könnte ich, ein schwacher Elindine, gegen ein solches Urwesen bestehen?

„Warum sollte jemand überhaupt den Sonatius Mortaeda beherrschen wollen?“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. „Er ist doch mächtiger als alle Elindine zusammen!“

„Da hast du recht“, gibt Zyar zu, seine Augen funkeln düster. „Doch wie die Menschen gieren auch die Elindine nach Macht. Der Sonatius Mortaeda verspricht eine Macht, die das Gleichgewicht der Welt zerstören könnte. Die Losniws spürten, dass sie eine besondere Gabe haben, um dieses Wesen zu zähmen. Eldralith Entium, eine sechzehnjährige Losniw, fühlte diese Verbindung und beschloss, das Wesen aufzuspüren.“

Eldralith Entium... meine Vorfahrin. Das Blut einer solchen Frau fließt durch meine Adern.

„Doch wo sie den Sonatius Mortaeda fand, bleibt ein Geheimnis“, fährt Zyar fort, seine Stimme gedämpft. „Vielleicht wurde der Ort verborgen, um ihn vor denen zu schützen, die Böses im Sinn haben. Eldralith bot ihren Körper als Gefäß an, um seine Kräfte vor der Welt zu verbergen.“

„So einfach war das sicher nicht!“ Ich schüttle ungläubig den Kopf. „Ein solch mächtiges Wesen sollte einem Mädchen Gehör schenken?“

Zyar hebt mahnend den Finger. „Der Sonatius Mortaeda ist gerissen. Wenn er zustimmt, dann nur, weil er einen Vorteil daraus zieht.“

„Hat er sie also benutzt?“ Meine Fragen fühlen sich nun an wie unsichtbare Ketten, die sich um mein Herz legen.

„Nein“, sagt Zyar, seine Stimme schwer. „Er bot ihr seine Kräfte an, und so wuchs die Macht der Losniw. Doch dieses Wesen ist hinterlistig und erfreut sich am Leid seiner Opfer. Was der wahre Beweggrund des Sonatius Mortaeda war, Eldralith Entiums Angebot anzunehmen, kann ich dir jedoch nicht sagen.“

„Also herrschen die Losniws über Elindros?“ Meine Gedanken rasen. „Bin ich deshalb die rechtmäßige Anwärterin auf den Thron? War mein Vater auch ein Losniw?“

„Eldralith musste akzeptieren, dass niemand mit der Macht des Sonatius Mortaeda den Thron besteigen darf“, erklärt Zyar mit einem Blick, der tiefen Schmerz verrät. „Stattdessen wurde beschlossen, dass die Losniws der Königsfamilie dienen.“

„Wer regiert derzeit Elindros?“ Die Antwort auf diese Frage scheint mein Schicksal zu besiegeln.

„Valron Feroy“, antwortet Zyar zögernd, als suchte er nach den richtigen Worten. „Ein... herrschsüchtiger Mann. Wenn er erfährt, dass die rechtmäßige Anwärterin in Elindros ist, wird er dich jagen, bis er dich in seine Gewalt bringt.“

„Aber woher weiß er überhaupt, dass ich lebe?“ Die Panik steigt in mir auf. „Warum sucht er nach mir?“

„Er weiß nicht, dass DU lebst“, korrigiert Zyar. „Aber er weiß, dass das Gefäß des Sonatius Mortaeda noch existiert. Solange du am Leben bist, kann kein neues Gefäß geboren werden. Da in Elindros seit Jahren keine ungewöhnliche Macht aufgetaucht ist, weiß er, dass du irgendwo da draußen sein musst.“

„Ein neues Gefäß?“ Das Wort klingt wie eine Drohung. „Woher wisst ihr, dass es ein Mädchen sein wird?“

„Weil dieser Zyklus mit Eldralith Entium begann“, erklärt Zyar ruhig. „Nur eine weibliche Elindine kann das nächste Gefäß sein. Nach deinem Tod wird die nächste Losniw deinen Platz einnehmen.“

„Und wenn ich mich weigere?“ Meine Stimme ist nur noch ein Zischen, meine Hände zittern vor Zorn. „Was, wenn ich mich dieser Last nicht beuge?“

Zyar sieht mich traurig an. „Wenn du die Vereinbarung brichst“, flüstert er, „Wird der Sonatius Mortaeda seinen Teil der Abmachung fordern. Er wird Elindros zerstören... und mit ihm alle Elindine.“