Das Dorf Arenath ist ein faszinierender, beinahe überwältigender Ort. Seit unserer Ankunft hier habe ich keine negativen Erfahrungen gemacht – zumindest keine, die direkt mit den Areni oder dem Ort selbst zu tun hätten. Abgesehen vielleicht von meinem unbedachten Ausbruch, als Arinor seine Hand auf meine Schulter legte. Es war nie meine Absicht, diesen freundlichen Mann in Verlegenheit zu bringen, ebenso wenig wie er beabsichtigt hatte, alte Ängste in mir hervorzurufen. Doch die Schatten der Vergangenheit sind hartnäckig. Wie lange werden die Erinnerungen an Lord Louweris noch an mir haften? Wird es jemals einen Tag geben, an dem die Schmerzen keine Macht mehr über mich haben?
„Hier ist eure kühle Erfrischung“, verkündet Neriselle mit einem freundlichen Lächeln, während sie in den gemütlichen Essbereich tritt, in den man uns nach unserer Ankunft geführt hat. Die Gastfreundschaft der Areni ist bemerkenswert. „Es mag ungewöhnlich wirken, in dieser kalten Jahreszeit keinen heißen Tee, sondern frisch gepressten Saft serviert zu bekommen.“
„Es ist in der Tat etwas ungewohnt“, stimmt Sylas zu, nachdem er einen Schluck genommen hat. „Aber wir wissen, dass die Gegebenheiten in Arenath anders sind. Wir passen uns gern an.“
Meine Neugierde übermannt mich, und bevor ich es verhindern kann, platzt die Frage aus mir heraus: „Warum haben die Areni diese seltsamen goldenen Linien im Gesicht?“
Sylas reißt die Augen auf, doch ich bemerke es erst, als es zu spät ist. Neriselle hat meinen Tonfall offenbar ebenso wenig überhört. Die Stirn der Areni legt sich in Falten, und sie sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. Mir wird schlagartig die Dummheit meiner Worte bewusst, doch das Gesagte lässt sich nicht zurücknehmen.
„Es ist doch allgemein bekannt…“, beginnt sie mit einem Hauch von Verwunderung in der Stimme, „…, dass wir Areni durch unsere Sandadern miteinander verbunden sind. Diese Linien ermöglichen es uns, unsere Kräfte zu jeder Zeit innerhalb des Dorfes zu nutzen.“
Ihre Worte treffen mich wie eine Welle aus Erkenntnis und Scham. Ich hatte nicht bedacht, wie selbstverständlich dieses Wissen hier sein musste – und wie verletzend meine unüberlegte Frage klingen könnte.
Zudem bin ich in ihren Augen ebenfalls eine Elindine, die solche Informationen seit ihrer Kindheit wissen müsste. Misstrauisch mustert mich Neriselle und lehnt sich in ihrem Sessel zurück.
„Vespera hat vor kurzem ihr Gedächtnis verloren“, wirft Sylas rasch ein. „Mein Vater Zyar, der Legat der Elemente, und ich haben sie erst vor kurzem im Wald in der Nähe von Solnya gefunden. Sie war völlig orientierungslos.“
„Bei Nairis Soltheas Sandsturm!“, ruft Neriselle überrascht und schlägt sich die Hand vor den Mund. „Der Sohn des ehrwürdigen Zyar Velqorin ist zu Besuch in Arenath, und ich habe die Ehre, ihn bei mir zu Hause zu bedienen!“
„Zyar Velqorin, sagst du?“, ertönt die Stimme von Arinor, der in diesem Moment zu uns tritt. „Junger Herr, Sylas Velqorin! Wie konnte ich das nur nicht erkennen?“
„Sylas genügt vollkommen“, entgegnet er kühl. Dass Zyar der einzige Legat der Elemente ist, verleiht dem Namen Velqorin zweifellos Gewicht. Doch im Gegensatz zu Kronprinz Yula, der die ständige Aufmerksamkeit gewohnt ist, scheint Sylas wenig Begeisterung für den Mittelpunkt zu empfinden. „Ja, mein Vater ist Zyar Velqorin, der Legat der Elemente. Auf seinen Befehl bin ich in dieser Region unterwegs – mit meiner Verlobten Mirael Strömert und Vespera.“
„Die Fische der Strömenden Flosse sind vorzüglich!“, schwärmt Neriselle. „Gisela hat mir so oft mehrere Fische mitgegeben, wenn wir wegen einer Lieferung in Solnya waren! Liebes Kind, richte deiner Mutter unbedingt meine Grüße aus! Ich habe sie in den letzten Tagen nicht besucht, weil unsere Lieferungen vorübergehend pausiert wurden. Bestimmt wartet sie schon auf meinen Besuch!“
Der kurze Anflug von Trauer auf Miraels Gesicht bleibt nicht unbemerkt. Neriselle kann nichts von den gestrigen Ereignissen wissen, und doch müssen ihre Worte wie ein Stich für Mirael sein – ausgerechnet hier, im Haus einer Areni, die mit ihrer Mutter so gut bekannt ist.
„Du musst wissen, Vespera…“, beginnt Sylas plötzlich und wechselt abrupt das Thema. „… die Areni sind ein Volk, das die Gabe der Sandmagie beherrscht. Die goldenen Linien ihrer Sandadern tragen sie seit ihrer Geburt. Diese Adern verbinden sie mit dem besonderen Sand in Arenath und auch miteinander. Daher können Außenstehende die Stadt nicht unbemerkt betreten. Mit dem Alter wandern die Sandadern: zuerst erscheinen sie im Gesicht, dann an den Handgelenken, weiter zu den Oberschenkeln, und kurz vor dem Lebensende zeigen sie sich an den Knöcheln.“
Arinor nickt zustimmend und sagt stolz: „Wir Areni mögen vielleicht nicht so lange leben wie unsere Nachbarn, doch wir empfinden Freude an der Gewissheit, dass unsere Sandadern, je tiefer sie wandern, unser Lebensende ankündigen.“
Aus diesem Grund konnte ich die sogenannten Sandadern bei den beiden Areni nicht entdecken. Arinor erwähnte, dass ihre Nachbarn ein langes Leben genießen, doch ich erinnere mich daran, dass Sylas gesagt hat, die Lebenserwartung der Solniw liege bei ungefähr 120 Jahren. Damit muss Arinor wohl jene Nachbarn auf der anderen Seite des Fjords gemeint haben! Diejenigen, über die Sylas und Mirael so beharrlich schweigen.
„Diese Nachbarn…“, sage ich mit absichtlich verwirrtem Gesichtsausdruck, um die Rolle der Elindine mit Gedächtnisverlust perfekt zu spielen. Vielleicht kann ich aus dieser Lüge einen Vorteil ziehen. „Sind damit die Solniw gemeint?“
Neriselle und Arinor tauschen einen erschrockenen Blick aus – der gleiche Ausdruck, den auch Sylas und Mirael gezeigt hatten. Was ist nur los? Jedes Mal, wenn diese sogenannten namenlosen Elindine erwähnt werden, reagieren alle, als hätten sie den Tod gesehen.
„Vespera muss wohl stark an Gedächtnisschwund leiden“, sagt Sylas nervös lachend. „Sie scheint vergessen zu haben, dass in Elindros nicht gern über unsere Nachbarn gesprochen wird.“
„Ganz recht“, stimmt Arinor zu und nickt ernst. „Liebe Vespera, wenn Sylas und Herr Velqorin dich im Wald gefunden haben, gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass du aus jenem Dorf geflohen bist.“
„Nein, sie stammt ganz sicher nicht aus jenem Dorf“, unterbricht Sylas schnell und wedelt abwehrend mit der Hand.
„Stimmt, ihr Aussehen passt überhaupt nicht“, fügt Neriselle hinzu und nickt mehrmals. „Dieses weiße Haar…?“
Sylas reißt die Augen auf, bleibt jedoch stumm. Stattdessen sucht er hilfesuchend Miraels Blick, aber auch sie scheint überfordert. Neriselle und Arinor werfen sich einen kurzen Blick zu – und brechen dann in lautes Gelächter aus.
„Kinder sind heutzutage wirklich leicht zu täuschen“, sagt Neriselle amüsiert und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wir haben von Anfang an gewusst, wer Vespera ist.“
„Wer sind Sie?“, fragt Sylas und stellt mit seiner distanzierten Wortwahl klar, dass das Verhältnis zwischen uns und den Areni sich gerade grundlegend verändert hat. „Woher wissen Sie von Vespera?“
Sein Blick ruht auf mir, wachsam und angespannt. Er erkennt die aufkommende Bedrohung. Die Areni haben vielleicht meinen Namen nicht gekannt, aber sie müssen mein Aussehen sofort erkannt haben. Liegt es an meinen weißen Haaren? Oder hat mein Erscheinungsbild gar keine Rolle gespielt?
„Sicher kennt ihr das Dorf Syvralen“, sagt Neriselle schließlich, wobei sie ihren Blick auf mich richtet. „Ich erkläre es dir gerne, Vespera. Das Dorf Syvralen besitzt eine besondere Gabe – die Fähigkeit, Visionen zu sehen. Was ich jetzt erzähle, ist streng vertraulich und darf diesen Raum nicht verlassen.“
„Vertrauen Sie uns etwa so sehr, dass Sie uns dieses Geheimnis anvertrauen?“, fragt Sylas misstrauisch.
Arinor zeigt mit dem Finger auf mich und sagt: „Es ist das Gefäß des Sonatius Mortaeda, dem wir vertrauen. Vor 18 Jahren wurden in Elindros drei Monde gesichtet. Und wie wir Elindine wissen, ist das nächste Gefäß weiblich und eine Losniw. Warum das vorherige Gefäß kurz nach der Ernennung zum neunten Gefäß starb, bleibt ein Rätsel. Doch meine Frau und ich erkannten sofort, dass die Zeit der Offenbarung gekommen ist.“
„Was haben die Syvrali damit zu tun?“, fragt Sylas, der als Einziger das Wort ergreift. „Und wie haben Sie Vespera erkannt?“
„Das weiße Haar ist unverkennbar, selbst aus der Ferne“, erklärt Neriselle bewundernd, während sie mich anblickt. „Das zehnte und letzte Gefäß des Sonatius Mortaeda. Die Vollendung und Offenbarung.“
Aetherion hatte mir bei unserer ersten Begegnung erklärt, dass meine Mutter Isilyn eigentlich das neunte Gefäß hätte werden sollen. Doch weil sie ihre Aufgabe an mich übertrug, bin ich nun das neunte Gefäß. Es muss also insgesamt zehn Gefäße geben, damit der Sonatius Mortaeda sich von den Losniw lösen kann. Wenn die Areni glauben, ich würde die Vollendung bringen, dann kennen sie offenbar nicht alle Einzelheiten. Das könnte ein entscheidender Vorteil für mich sein, denn es ist unklar, ob diese beiden Elindine überhaupt vertrauenswürdig sind.
„Innerhalb der Syvrali gibt es seit der Einigung zwischen Eldralith Entium und dem Sonatius Mortaeda eine Gruppe, die sich ‚Die Roten Gefäße‘ nennt“, erklärt Neriselle. „Seit Jahrhunderten setzen sie ihre Kräfte ein, um den Gefäßen auf ihrer Reise zu helfen. Sie haben Visionen über die Zukunft und teilen diese mit ihnen.“
„Aber verlieren die Syvrali nicht mit jeder Vision, die verhindert wird, ein Stück ihrer Lebenszeit?“, fragt Sylas erschrocken. Neriselle nickt zustimmend. „Das heißt, diese Elindine setzen ihr Leben freiwillig aufs Spiel?“
„Es ist eine Ehre, für das Bündnis zu leben und zu sterben“, sagt Arinor, und seine Frau nickt. „Auch wenn wir keine Syvrali sind, nahmen die Roten Gefäße uns in ihre Organisation auf. Wir haben uns zur Lebensaufgabe gemacht, das zehnte Gefäß auf seinem Weg zu begleiten. So viele Jahre warten wir auf die Vollendung.“
„Was ist diese Vollendung?“, frage ich neugierig. Es ist das erste Mal seit unserer Ankunft, dass ich mich traue, das Wort zu ergreifen. „Warum wurde die Organisation ‚Die Roten Gefäße‘ überhaupt gegründet?“
„Unsere Gründerin, Meisterin Rhegaara Xilvaren, hatte ihre erste Vision mit gerade einmal zwölf Jahren“, verrät Neriselle ehrfürchtig. „In dieser Vision sah sie, wie das erste Gefäß zum ersten Mal mit dem Urwesen in Kontakt trat – einem gewaltigen, formlosen und gesichtslosen Monster. Die Syvrali kennen die Macht ihrer Gabe und die Konsequenzen, die sie mit sich bringt. Aber schon in diesem jungen Alter erkannte die Meisterin, wie bedeutsam diese Vision war.
Da die Syvrali genau im Zentrum von Elindros leben, war ihre Reise nach Losnat keine große Herausforderung. Als sie im Dorf ankam – zu einer Zeit, als der Zutritt unter der Führung von Keldor Entium noch einfach war – hatte Eldralith Entium bereits die Rolle als das erste Gefäß des Sonatius Mortaeda übernommen.“
Neriselle nimmt einen Schluck von ihrem dampfenden Tee und räuspert sich kurz. „Die Meisterin vertraute Eldralith ihre Visionen an, obwohl sie wusste, welches Risiko sie einging. Eldralith erkannte, dass sie der Meisterin vertrauen konnte, denn diese war bereit, ihr Leben für sie zu opfern.“
Meine Blicke schweifen zu Sylas. Er mag zwar kein Syvrali sein, doch auch er hat sich bereit erklärt, sein Leben jederzeit für meines zu opfern. Es ist faszinierend, wie viele Elindine und andere Wesen in diese Einigung verwickelt sind. Allein die Entscheidung von Eldralith Entium hat so vielen das Leben auf den Kopf gestellt. Laut den Erzählungen von Zyar spürte sie eine Verbindung zum Sonatius Mortaeda. Doch warum entschied sie sich, dem Urwesen als Gefäß zu dienen? Was brachte Eldralith dazu, diesen Weg einzuschlagen?
Als sie mich damals in Solnya vor dem Sualtier rettete, hatte ich die Gelegenheit, ihr zu begegnen. Eldralith Entium... das allererste Gefäß. Der Beginn einer Bindung, die nun schon ein halbes Jahrtausend andauert.
„Was bedeutet das im Hinblick auf Vespera?“ fragt Sylas vorsichtig, während er sich defensiv an meine Seite stellt. „Wollen Sie etwa wie Rhegaara Xilvaren handeln? Aber als Areni haben Sie nicht die Gabe, Visionen zu sehen!“
Arinor nickt zustimmend und verschränkt die Arme vor der Brust. „Da hast du nicht Unrecht, junger Herr. Nur weil meine geschätzte Gattin und ich in diese Organisation aufgenommen wurden, heißt das nicht, dass wir hohe Ränge bekleiden. Ganz im Gegenteil: Wir sind ehrfürchtige Diener derjenigen, die in die Fußstapfen unserer Meisterin Rhegaara Xilvaren getreten sind.“
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Rhegaara Xilvaren... eine weitere Elindine, die ihr Leben einer einzigen Aufgabe gewidmet hat. Wie viele Opfer braucht es noch, bevor dieser Schrecken ein Ende findet? Warum fürchten sich alle so sehr vor dem Sonatius Mortaeda?
Wenn ich sein neuntes Gefäß bin, sollte ich ihm endlich begegnen. Warum lässt er so lange auf sich warten? Sollte er tatsächlich über eine derartige Stärke verfügen, müsste er mich doch mühelos finden können! Selbst Zyar kann bei diesem Thema nur Vermutungen anstellen.
„Das heißt, eure aktuelle Meisterin kann mir helfen, meine Aufgabe als Gefäß zu meistern?“ frage ich neugierig und lehne mich nach vorne. „Diese Syvrali wird mir im Austausch für mein Leben an Elindros ihr eigenes schenken?“
„Korrekt!“ entgegnet Arinor stolz. „Meisterin Lyssanthe Velmoris wird dich auf deinem Weg begleiten. Sie hat bereits ihre erste Vision deines Treffens mit dem Urwesen gehabt.“
„Diese Syvrali kann mir sagen, welche Schritte notwendig sind, um meine Aufgabe zu erfüllen?“ frage ich erneut nach, da mir das Ganze fast zu einfach erscheint.
Die Vorstellung, dass mein Weg als Gefäß des Sonatius Mortaeda so unkompliziert sein könnte, hätte ich nie für möglich gehalten. Die Areni sind mir fremde Elindine, und doch konnte ich Sylas und seinem Vater sofort vertrauen. Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Die beiden Areni nicken zuversichtlich. „In Ordnung“, sage ich entschlossen. „Ich werde diese Syvrali aufsuchen. Sylas, wie lange brauchen wir bis zu diesem Dorf?“
Sylas überlegt kurz und antwortet: „Syvralen war nicht auf unserer Route eingeplant. Nach Arenath wollten wir nach Velsoth, dem Dorf der Schattenmagier, und dann nach Thalvaren, um die nächsten Schritte zu besprechen. Zwischen Thalvaren und Syvralen liegt jedoch das Dorf Kaelithar.“
„Was ist das Besondere an diesen Elindine?“
„Die Kaelithari sind äußerst friedfertige Elindine“, erklärt Sylas, während Neriselle schmunzelt. Sie muss schon einmal Kontakt mit ihnen gehabt haben. „Sie stehen im Dienst des Königs, wie alle anderen Dörfer in Elindros, doch sie haben eine besondere Aufgabe: die Versorgung verletzter Soldaten des Königs.“
„Soldaten des Königs?“ wiederhole ich verwirrt. „Warum sollte der König Soldaten benötigen, wenn doch ganz Elindros unter seiner Kontrolle steht?“
„Überall lauern Verräter“, mischt sich Arinor ein. „Sei es im Nexari oder jenseits des Ewigen Meeres.“
„Das Ewige Meer existiert seit Anbeginn unserer Zeit“, erklärt Sylas, der meinen verwirrten Blick bemerkt. „In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche, es zu überqueren, doch selbst die stärksten Solniw, die das Wasser kontrollieren können, scheiterten an den gewaltigen Strömungen. Der König konzentriert sich momentan auf die Unruhestifter innerhalb von Elindros, doch seit Jahrhunderten bereitet sich die Feroy-Dynastie auf eine mögliche Schlacht gegen das Unbekannte vor.“
In diesem Moment überkommt mich ein vertrautes Gefühl – eines, das ich bereits in der Vergangenheit verspürt habe: Der Drang nach Abenteuer… nach der Freiheit des Lebens. Die andere Seite des Ewigen Meeres bleibt weiterhin unerforscht. Doch meine Anwesenheit in Elindros ist von großer Bedeutung. So viele Elindine widmen ihr Leben dieser Bestimmung – und damit auch mir. Ich darf jene nicht enttäuschen, die an die Gefäße des Sonatius Mortaeda glauben.
„Dann ist es beschlossen“, sage ich entschlossen und sehe die beiden Areni mit ernstem Blick an. „Kann ich mich darauf verlassen, dass mich die Roten Gefäße nicht hintergehen werden?“
„Gewiss“, antworten Neriselle und Arinor wie aus einem Mund. Der Areni übernimmt das Wort. „Meisterin Lyssanthe Velmoris erwartet dich bereits, Vespera.“
„Ihr wusstet also von meiner Ankunft in Arenath, nicht wahr?“ Die Frage kommt unerwartet – selbst für Sylas. Er sieht mich erschrocken an; mit einer solchen Schlussfolgerung hat er offenbar nicht gerechnet. „Eure Meisterin hat euch auf diesen Tag vorbereitet.“
Arinor senkt den Blick und nickt schließlich. „Verzeih, dass wir dich täuschen mussten. Wir hätten es dir lieber gleich gesagt, doch die Elindine aus Losnat sind in Elindros nicht willkommen. Und dann bist du auch noch das Gefäß des mächtigen Urwesens… Wir mussten vorsichtig sein.“
„Das verstehe ich“, sage ich und blicke zu Sylas. Er nickt mir zustimmend zu. „Wir sollten bald aufbrechen.“
„Jetzt reicht es aber!“ Eine scharfe Stimme durchbricht die angespannte Stille. Mirael, die sich bislang zurückgehalten hatte, erhebt sich abrupt. „Warum sollten wir deinen Befehlen folgen? Du dreckige Losniw hast deinen Platz wohl noch nicht gelernt!“
„Deine Mutter wäre zutiefst enttäuscht, wenn sie hören könnte, was du da sagst!“ Neriselle sieht Mirael fassungslos an. „Du kannst nicht in diesem Ton mit dem Gefäß des Sonatius Mortaeda sprechen! Deine Mutter hat dich sicherlich zu einer herzensguten Elindine erzogen – aber im Moment bin ich wirklich wütend auf dich!“
Mirael lacht spöttisch und schlägt die Hand auf den Tisch. „Dann erzählen Sie meiner Mutter doch, wie schlimm ihre Tochter ist! Seit wann können die Areni mit den Toten sprechen?!“
Stille. Neriselle erstarrt. Die Bedeutung dieser Worte trifft sie wie ein Schlag. Ihr Blick wandert zu Sylas, dann zu mir.
„Ich wusste es nicht“, flüstert sie erschüttert. „Was ist passiert?“
Mirael zeigt mit dem Finger auf mich, ohne mich dabei anzusehen. „Eure ach-so-wertvolle Retterin von Elindros ist schuld daran!“
„Mirael, hör auf, Vespera die Schuld zuzuschieben!“, entgegnet Sylas wütend. „Du weißt genau, dass dieser Hinterhalt nicht hätte verhindert werden können. Wie oft müssen wir diese Diskussion noch führen?“
„Und du weißt genauso gut wie ich, dass diese Losniw niemals unser Dorf hätte betreten dürfen!“ Miraels Stimme zittert vor unterdrückter Wut. „Die Sualtier haben ihre Fährte aufgenommen – und unsere eigenen Leute mussten letzte Nacht ihr Leben lassen!“
„Die Elindine aus Cata Sualti sind bis nach Solnya gekommen?“ Arinor runzelt die Stirn und wendet sich an seine Frau. „Wer hat sie geschickt?“
Sylas zuckt mit den Schultern. „Ich versuche seit Stunden, diese Frage zu beantworten – aber keine einzige Antwort ergibt Sinn.“
„Wie viele sind gefallen?“, fragt Neriselle leise und lässt sich schwer auf einen Stuhl sinken.
Sylas schüttelt den Kopf. Er kennt die genaue Zahl nicht, nur einen Namen: Gisela Strömert. Und vielleicht… die eine Person, die er unter dem Schutt gesehen hat.
„Ausgerechnet die Sualtier…“, murmelt Neriselle mit Abscheu. „Die schlimmste Sorte Elindine. Sie haben das Morden im Blut.“
Meine Gedanken wandern zu Kira, Morrik und ihrer Tochter Lyara. Auch sie träumten von einer Welt ohne Krieg – und doch wurden sie vom Hass eingeholt, den Mirael auf sie projiziert hat. Sie wurden Opfer der Taten eines anderen Sualtiers.
Die Menschenwelt, das Nexari und Elindros… so unterschiedlich sie auch scheinen, haben sie doch alle denselben Makel: Gier, Hass und Neid treiben sie an.
Was ist die Aufgabe des Gefäßes?
Muss ich für den Frieden in Elindros sorgen? Die letzten 18 Jahre gab es kein Gefäß – und doch war die Lage nicht besser. Schon lange vor meiner Geburt herrschte hier Chaos.
Ich habe in der Menschenwelt keinen Platz gefunden. Elindros war schon immer meine Heimat. Ich will, dass sich wenigstens hier etwas ändert.
Ich werde die Erlöserin sein, für die mich die Anhänger des Roten Gefäßes halten. Eine Elindine, die mit der Macht des Sonatius Mortaeda – eines Urwesens ohne Bindung an Elindros – das Gleichgewicht wiederherstellt.
Das sollte… machbar sein.
„Verlieren wir keine Zeit“, sage ich entschlossen. „Die Sualtier könnten uns bereits auf den Fersen sein.“
Arinor und Neriselle tauschen einen Blick. Ohne ein weiteres Wort tritt Arinor zur Tür, zieht den Vorhang zur Seite und späht hinaus.
„Du hast recht“, sagt Neriselle düster. „Sie stehen vor den Toren von Arenath. Sie suchen nach einer Gruppe von drei Elindine – zwei Mädchen und einem Jungen.“
„Verdammt“, knurrt Sylas. „Diese Parasiten… Wie werden wir sie los?“
„Überlasst das uns.“ Arinor deutet auf eine Tür im hinteren Bereich des Hauses, und Neriselle nickt. „Es sind nur wenige Sualtier. Entweder haben sich die anderen zurückgezogen – oder sie lauern irgendwo.“ Er sieht Sylas ernst an. „Du musst Vespera um jeden Preis beschützen.“
Sylas nickt.
Wir folgen Neriselle durch die Tür in den überdachten Garten. Sie zieht ihre Schuhe aus, steigt vom Holzboden hinab in den Sand – und dann geschieht es.
Die Körner beginnen zu leuchten. Sie steigen in die Luft, umkreisen sie wie Motten das Licht. Und vor Neriselle öffnet sich ein Riss in der Luft, ein Portal, das immer größer wird.
„Geht hindurch“, sagt sie mit einem entschlossenen Blick. „Ihr werdet außerhalb des Dorfes wieder herauskommen, in der Nähe des Waldes. Von dort müsst ihr nach Velsoth. Ich wünsche dir viel Glück, zehntes Gefäß des Sonatius Mortaeda.“
Sie nennt meinen Namen nicht.
Für sie bin ich nicht Vespera. Nur ein Mittel zum Zweck.
Ohne ein weiteres Wort trete ich durch das Portal – und finde mich inmitten einer Wüste wieder.
„Wo sind wir hier?“, frage ich verwirrt.
Die gesamte Umgebung ist in Sand gehüllt. Die Sonne brennt am höchsten Punkt. Am Horizont schimmert ein weiteres Portal.
„Ist das eine Illusion?“
„Mein Vater hat mir davon erzählt“, murmelt Sylas nachdenklich. „Die Areni haben diesen Ort – Nisareth, der Sand der Seelen – erschaffen, um ihre Machtquelle hier zu verstecken.“
„Du weißt wirklich viel, mein Geliebter“, flüstert Mirael und wirft mir einen prüfenden Blick zu. „Ohne dich wäre diese Reise sicher viel schwerer.“
Sylas lächelt verlegen und nickt.
Ob sie mir damit etwas beweisen will? Dass er ihr Verlobter ist?
Das ist doch gar nicht nötig.
Was ich zu Beginn gespürt habe, ist längst verschwunden. Und das… ist gut so.
Daher lasse ich ihre negative Energie an mir abprallen. Ich verstehe, dass Mirael einen tiefen Groll gegen mich hegt – schließlich bin ich tatsächlich für den Tod ihrer Mutter und all der anderen Solniw verantwortlich. Egal, wie oft Sylas mich in Schutz nimmt oder sich auf meine Seite stellt, ich kann die Realität nicht ignorieren. Diese Schuld wird für immer auf meinen Schultern lasten, und die freundliche Art von Frau Strömert wird mich ewig verfolgen.
Ich wurde in eine Dimension katapultiert, von der ich bis vor Kurzem nicht einmal wusste, dass sie existiert. Die Elindine haben auf meine Rückkehr gewartet – in der Hoffnung, dass meine Existenz den Frieden bringt, den die vorherigen Gefäße nicht herbeiführen konnten.
„Ich bin so glücklich, deine Verlobte sein zu dürfen“, schwärmt Mirael ohne Pause. Sylas hält unerwartet inne und sieht sie eindringlich an.
„Was ist denn los, Sylas?“
„Mirael, das genügt“, sagt er erschöpft und seufzt leise. „Diese Reise ist eine ernste Angelegenheit. Ich habe dir bereits gesagt, dass du deine Gefühle unter Kontrolle halten musst. Dein Verhalten im Hause der Familie Altherin war unangebracht. Die Areni, die uns willkommen geheißen haben, mögen auf dich einen freundlichen Eindruck gemacht haben, aber wir können nicht jedem dahergelaufenen Elindine unser Vertrauen schenken. Und doch hast du – in deiner ungezügelten Wut – die vertrauliche Information preisgegeben, dass das Dorf letzte Nacht angegriffen wurde. Weißt du eigentlich, welchen Schaden du damit angerichtet haben könntest?“
Mirael schweigt. Ihre Augen sind geweitet. Sie hat diese Standpauke von Sylas nicht erwartet. Und sie kennt die Antwort auf seine Frage nicht.
Ich beobachte die beiden schweigend. Hoffe, dass die Situation nicht eskaliert. Gleichzeitig begreife ich, dass Sylas das Temperament der Solniw mit erschreckender Leichtigkeit kontrollieren kann. Einer beherrscht das Wasser, die andere den Blitz – ein seltsamer Schicksalsschlag. Sie sind eine Gefahr füreinander und zugleich eine unbesiegbare Kombination.
Mirael und Sylas… Wie waren sie wohl als Kinder? Und liebt er sie wirklich? Oder hält ihn nur die Dankbarkeit gegenüber Frau Strömert in diesem Bund?
„Ich… ich habe es nicht gewusst…“ Miraels Stimme ist unsicher, überfordert.
„Natürlich hast du es gewusst!“, zischt Sylas.
Ein sanfter Wind zieht über den Sand der Wüste. Zuvor habe ich nie eine gesehen, geschweige denn daran gedacht, jemals mitten in einer zu stehen.
„Seit dem Angriff der Sualtier auf unser Dorf: Hast du Vespera jemanden töten sehen? Hast du gesehen, dass sie jemandem eine Blitzkugel in die Brust gestoßen hat? Dass sie einer Frau das Gesicht verbrannt hat? HAST DU?“
Sylas’ Wut bricht nun endgültig hervor. Ich wusste, dass sein Geduldsfaden irgendwann reißen würde. Im Endeffekt ist er der Sohn von Zyar Velqorin. Ich frage mich, was für eine Frau seine Mutter wohl war.
Doch mit seinen Worten trifft er genau ins Schwarze. Ich habe es bis jetzt nicht aus dieser Perspektive betrachtet – aber er hat recht. Mirael gibt mir die Schuld am Tod ihrer Mutter, und doch hat sie selbst drei Leben auf dem Gewissen.
„Ich…“ Ihre Stimme bricht ab, ihr Blick trifft meinen. „Warum siehst du mich so an? Findest du es etwa lustig, dass er mich vor deinen Augen anschreit?“
Ich gebe keine Antwort. Stattdessen verschränke ich die Arme und beobachte die beiden verständnislos. Mirael hat nicht damit gerechnet, von Sylas zurechtgewiesen zu werden.
„Mirael, es reicht“, sagt Sylas nun mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. „Diese Reise entscheidet über die Zukunft von Elindros. Wenn du weiterhin bei jeder Gelegenheit Vespera schlechtmachst, werde ich dich, sobald wir in Thalvaren sind, nach Hause schicken lassen.“
„Das würdest du nicht tun!“, entgegnet Mirael entsetzt. „Ich bin deine Verlobte! Warum solltest du mich zurückschicken und die Reise ohne mich fortsetzen? Warum?“
Sie schweigt kurz, blickt zu mir, dann wieder zu ihm.
„Liebst du mich?“
Sylas’ Blick bleibt ernst. „Mirael, es geht hier nicht um Liebe, sondern ums Überleben.“
Er schüttelt den Kopf. „Im Wald hast du dich von deiner Wut leiten lassen. Dadurch sind drei Elindine gestorben. Verdammt, selbst wenn sie aus Cata Sualti waren – sie wollten nur in Frieden leben. Genau wie wir. Ich habe deiner Mutter versprochen, dich zu heiraten, aber dieses Versprechen entspringt meiner Dankbarkeit gegenüber Frau Strömert.“
Er hat ihre Frage nicht direkt beantwortet. Und doch sagt seine Antwort alles.
Hat Sylas jemals echte Gefühle für sie gehabt? Oder war es nur ein Versprechen, das er aus Pflichtbewusstsein hält? Warum hat er dann in der Höhle so um sie gebangt? War es einfach nur seine fürsorgliche Art?
Mirael scheint seine Worte auf die gleiche Weise zu interpretieren wie ich. Ihr Lächeln ist schwach.
„Nun gut“, sagt sie leise. „Sobald wir im Königreich sind, werde ich mich nach Hause eskortieren lassen. Verzeih meine Wut – aber ich werde weder den Losniw noch den Sualtier jemals vergeben können. Und dass du meinen Schmerz nicht nachvollziehen kannst… das erschüttert mich zutiefst. Aber ich verstehe es: Sie war nicht deine Mutter. Sie war meine.“
Sie senkt den Blick und geht auf das Portal zu.
Sylas bleibt perplex stehen. Anscheinend hat er Mirael noch nie so niedergeschlagen erlebt. Vielleicht liegt es daran, dass sie so einfach nachgegeben hat – etwas, das für eine Solniw völlig untypisch ist.
Ich gehe an Sylas vorbei. Erst als ich ihn hinter mir lasse, scheint er sich wieder zu fangen. Wortlos steigen wir durch das Portal.
Wir sind wieder im Wald. Diesmal mit Blick auf einen Pfad, der aus dem Dickicht hinausführt. Das Portal schließt sich hinter uns.
Eigentlich wollten wir eine Nacht in Arenath verweilen. Doch die Sualtier haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Und jetzt bin ich mir sicher: Es werden noch viele weitere Zwischenfälle folgen, die unsere Reise erschweren.