Zyar gefällt es ganz und gar nicht, dass die Kairon mir nicht sofort beim ersten Treffen geholfen haben, das Gedankenweben zu erlernen. Da ich mein Leben weit entfernt von den Losniw verbracht habe, ist er überzeugt, dass meine Kräfte irgendwo tief in mir schlummern und darauf warten, erweckt zu werden. Seiner Meinung nach besitzt jeder Elindine ab dem fünften Lebensjahr die Kräfte seines Dorfes. Dass ich noch nicht über meine verfüge, liegt seiner Ansicht nach an meiner Unentschlossenheit.
Doch ihm ist nicht bewusst, dass meine Begegnung mit Noctalis und Solaria bereits ihre Spuren hinterlassen hat. Ich war unsicher, zögerte, mich gegen die Losniw zu stellen — doch nun fühle ich Klarheit, habe einen Entschluss gefasst: Um eine Entscheidung zu treffen, muss ich diese Welt mit eigenen Augen sehen, die Solniw, die Losniw und alle Orte dazwischen verstehen.
„Ich werde euch beiden zur Seite stehen“, gestehe ich schließlich, spüre die Entschlossenheit in meiner Stimme. „Wenn es sein muss, werde ich das neue Gefäß des Sonatius Mortaeda, um seine Macht vor den Losniws zu bewahren. Ich stelle mich dieser Aufgabe.“
Die Vorstellung, meine Seele und meinen Körper mit diesem mächtigen Wesen zu teilen, erfüllt mich mit tiefer Angst. Doch wenn dies die einzige Möglichkeit ist, das drohende Übel abzuwenden, werde ich mich meinem Schicksal nicht länger entziehen. Ich blicke Zyar an, und in seinem Blick sehe ich Zufriedenheit – aber auch eine Spur Sorge, die sich in den Falten seiner Stirn widerspiegelt.
„Das ist ein guter Anfang“, sagt er mit autoritärer Stimme. „Aber wir wissen noch immer nicht, wo der Sonatius Mortaeda sich aufhält.“
Schockiert reiße ich die Augen auf. Diese Information hätte er mir früher geben können! Seit siebzehn Jahren, seit der Entscheidung meiner Mutter, hat niemand dieses Urwesen gesehen?
„Wie sollen wir ihn finden, wenn er sich so lange verborgen hält?“, frage ich, verwirrt und ein wenig verzweifelt.
Zyar denkt nach, seine Miene ist ernst. „Das ist der knifflige Teil“, gibt er zu. „Seit dem Mord an Keldor Entium haben die Losniws sich vollständig zurückgezogen. Niemand weiß, was im Dorf vor sich geht.“
„Weiß der König nicht, was seine Untergebenen treiben?“ Ich kann kaum glauben, was ich höre.
„Den König interessiert nur das, was ihm selbst schaden könnte“, seufzt Zyar. „Er ist besessen von seiner Macht. Er hat mit Velris und ihren Leuten eine Abmachung getroffen: So lange die Machtkämpfe innerhalb des Dorfes bleiben, lässt er sie gewähren.“
Ein König, der sein Volk an zweite Stelle setzt und Vereinbarungen trifft, die nur ihm nutzen — abscheulich! Ein König sollte sein Reich beschützen, nicht stille Abkommen schließen.
„Und was ist der Plan, wenn niemand weiß, wo der Sonatius Mortaeda ist?“, will ich wissen. „Ich kenne die Größe von Elindros nicht, aber die ganze Welt zu durchkämmen wäre unmöglich.“
Zyar hebt die Hand. „Konzentriere du dich auf das Gedankenweben. Das Planen überlasse mir. Sylas wird mir helfen.“ Er wendet sich an seinen Sohn. „Wir haben viel zu erledigen, und das muss geschehen, bevor Ves ihre Kräfte erweckt.“
Sylas nickt, legt sein Buch beiseite und kommt auf mich zu. Sein Blick bleibt kurz auf meiner versorgten Bauchwunde hängen. „Bevor du dich schlafen legst, muss ich sie noch einmal behandeln“, sagt er mit einem sanften Lächeln – das Einzige, was in dieser kalten Welt Wärme ausstrahlt.
Beide gehen ins Haus, und ich bleibe mit den Kairon allein zurück. Die beiden Fische mustern mich unablässig, und seit unserer letzten Begegnung fühle ich mich unwohl in ihrer Gegenwart. Aber ich habe keine Wahl. Wenn ich das Gedankenweben meistern will, muss ich ihre Prüfung bestehen. Ich weiß, es wird mir alles abverlangen, doch ein erster Fehlschlag kann mich nicht aufhalten.
Entschlossen trete ich den mächtigen Wesen entgegen, die, obwohl sie im Vergleich zum Sonatius Mortaeda unwichtige Schachfiguren sind, mir dennoch Furcht einflößen. Diesmal steigen sie nicht aus den Tiefen des Ozeans auf; stattdessen schwimmen sie im Kreis, wie im Garten von Zyar, und ich stehe in ihrer Mitte.
„Das Gefäß hat eine Entscheidung getroffen“, verkündet Noctalis, seine Stimme gefährlich und kalt. „Sprich, was ist deine Antwort?“
Solaria tritt hinzu: „Wofür kämpfst du, Vespera Entium?“
„Für mich selbst“, antworte ich und spüre die Gewissheit in mir, die Klarheit meiner Entscheidung. Die Kairon schweigen, ihre Kreise bleiben ruhig. „Ich weiß nicht, ob mich diese Wahl in ein besseres Elindros führen wird. Doch niemand, kein Elindine und kein anderes Wesen, kann dies von mir verlangen. Ich werde an der Seite derer kämpfen, die sich mit mir für den Frieden einsetzen. Aber zuerst werde ich Elindros selbst verstehen und herausfinden, was der Begriff ‚Frieden‘ in dieser Welt bedeutet.“
Noctalis und Solaria stehen sich gegenüber, ihre Blicke miteinander verschmolzen, durchdringend und voller unausgesprochener Bedeutungen. Kein Windhauch, kein Wogen des Meeres kann meine Sinne von der Schwere des Moments ablenken. In meiner Brust hämmert mein Herz wie wild, und eine lähmende Angst durchzieht mich – die Angst, dass sie mich wieder verstoßen könnten, dass sie mir keine zweite Chance gewähren werden. Diese Furcht erstickt meinen Atem.
„Erwacht durch das Blut…“, spricht Noctalis mit einer Stimme, die wie das Rauschen eines stürmischen Windes klingt.
„…gebunden durch das Schicksal“, fügt Solaria mit einer Melodie hinzu, die tief in meiner Seele widerhallt.
Gleichzeitig, als wären ihre Stimmen ein einziges Wesen, rufen sie: „Seiest du das Gefäß wie auch deine Vorgängerinnen. Erfülle deinen Zweck und diene der Vereinbarung. Von nun an sei dein Leben nicht mehr dein und dein Leib nicht mehr allein.“
Die Kairon schwimmen mit jeder vergehenden Sekunde schneller im Kreis. Der entstehende Wirbelwind stellt meine Haare zu Bergen und das Meer wütet. Die Farben von Noctalis und Solaria verschmelzen ineinander, ihre Form ist unerkennbar, ein Wirbel aus Licht und Dunkelheit.
Plötzlich wird die Welt um mich in tiefste Dunkelheit getaucht. Das einzige, was meine Sinne zu erreichen vermag, ist ein schwaches Leuchten in der Ferne. Ohne nachzudenken beginne ich, mich darauf zuzubewegen, als ob eine unsichtbare Macht mich dahinführt. Mit jedem Schritt, den ich mache, nimmt das Leuchten Gestalt an.
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Es ist ein Säugling. Ruhig, friedlich, als ob er nichts von der Welt wüsste. Ich höre das zarte, gleichmäßige Atmen, als würde es direkt in meinem Ohr geschehen. In dieser Dunkelheit gibt es niemanden außer mir, niemanden außer diesem Kind, das – was auch immer es ist – vollkommen allein in dieser Leere ist. Ich beuge mich über die Wiege, um das Gesicht des Kindes genauer zu betrachten.
Und dann geschieht es. Der Säugling öffnet seine Augen – eines blutrot, das andere in einem leuchtenden Gold. Seine Blicke durchdringen mich, als wollten sie mein Innerstes auslöschen, und ein eisiger Schreck durchzuckt meinen Körper. Mein Instinkt fordert mich auf, zurückzuspringen, doch eine unsichtbare Macht hält mich gefangen, zwingt mich, in der Dunkelheit zu verharren.
In einem einzigen, erschütternden Moment fliegen Bilder vor meinen Augen, Bilder, die ich nicht begreifen kann, die mich zu zerreißen drohen. Ein verlassenes, düsteres Dorf, von dem keine Hoffnung ausgeht. Der Säugling wird von einer Frau in die Dunkelheit eines Hauses getragen – eine Frau mit langen, schneeweißen Haaren und grünen Augen, in denen sich die Sorge wie ein Nebel legt.
Ist es möglich? Kann es sein, dass diese Frau… meine Mutter ist? Und der Säugling – bin das etwa… ich? Doch wie? Wo befinde ich mich – in der Welt der Menschen oder in Elindros?
Die Frau streicht sanft über das Haar des Kindes, eine Träne rollt ihr die Wange hinab, als sie einen Finger an dessen Stirn legt. Der Säugling bricht in einen lautstarken Schrei aus, ein Schrei, der mich mit solcher Wucht trifft, dass ich wie ein Blatt im Sturm zurückgeschleudert werde. Doch anstatt zu Boden zu stürzen, finde ich mich in einer aufwärts führenden Bewegung wieder. Der blaue Himmel erstreckt sich über mir, als hätte er mich aufgesogen, um mich fortzutragen.
Bevor ich begreifen kann, was geschieht, schießt mein Körper mit rasender Geschwindigkeit wieder nach oben – und dann, als hätte das Universum mich selbst zurückgeworfen, finde ich mich plötzlich wieder vor den Kairon. Panisch fahre ich mit meiner Hand an meine Stirn und spüre ein Pulsieren, das sich tief in mir einnistet, als hätte die Frau aus der Vision mir genau diesen Schmerz auferlegt.
„Alles in Ordnung?“ Sylas’ besorgte Stimme erreicht mich, als er sich zu mir herunterkniet. Seine Augen fliegen rasch zu Noctalis und Solaria, die still wie Wächter alles beobachten. „Die Kairon haben sie dir gezeigt.“
„Was… was haben sie mir gezeigt?“, stammele ich, immer noch benommen von der Vision, die mich erschüttert hat.
„Bruchstücke deiner Vergangenheit“, sagt Zyar mit leiser Stimme, während er mich mit einem Blick voller unergründlicher Tiefe fixiert. „Sie haben die Blockade in deinem Unterbewusstsein gelöst und das Gedankenweben ermöglicht.“
Eine Erkenntnis überkommt mich: „Ich habe den ersten Schritt geschafft!“ Doch eine Frage brennt mir auf der Seele. „Warum fühlte ich das pulsierende Leiden an meiner Stirn, als hätte die Frau in meiner Vision mir und dem Säugling dieselben Qualen zugefügt?“
„Ganz einfach“, erwidert Zyar mit ernstem Ausdruck. „Du warst dieser Säugling. Dein Körper wurde damals zum Gefäß für den Sonatius Mortaeda.“
„Dann trug meine Mutter ihn in sich! Doch warum ist das Wesen dann nicht zu finden?“, frage ich mit bebender Stimme.
„Das werde ich herausfinden“, sagt Zyar nachdenklich und rät mir, Kräfte für die morgige Reise zu sammeln. Ein Protest will mir über die Lippen kommen – doch mein Körper verlangt dringend nach Ruhe.
„Ich werde dich ein wenig durch das Dorf führen“, kündigt Sylas mit einem sanften Lächeln an, das mir gleichzeitig ein prickelndes Gefühl der Nervosität und Hoffnung bereitet. „Keine Sorge, die Solniw haben bereits von deiner Ankunft erfahren. Soran Vaylon, der jetzige Anführer von Solnya, hat es gestattet, dass du für den Anfang deiner Reise hier im Dorf verweilen kannst.“
„Macht es denn niemandem etwas aus, dass das Gefäß wieder nach Elindros zurückgekehrt ist?“, frage ich mit einem Hauch von Besorgnis in der Stimme. „Gilt das nicht als schlechtes Omen?“
Sylas schüttelt mit einem entschlossenen Kopfschütteln den Kopf, als wäre die Vorstellung, dass meine Ankunft in Elindros Unheil bringen könnte, völlig abwegig. „Im Gegenteil“, sagt er und seine Stimme wird leiser, fast ehrfürchtig. „Dass du deinen Weg in unsere Welt gefunden hast, ist für viele Elindine ein Hoffnungsschimmer. Elindros war schon lange kein sicherer Ort mehr. Für uns bist du die Rettung, auf die wir verzweifelt gewartet haben – die Erlösung, die uns in den dunkelsten Stunden versprochen wurde.“
Seine Worte durchdringen mich wie ein Strahl der Hoffnung und entfalten sich in mir zu einer glühenden Gewissheit. In der Menschenwelt, in der schon Kriege geführt werden, nur um Ländereien oder Reichtümer zu erlangen, hatte ich mir nie wirklich vorstellen können, dass auch Elindros von solchen Kämpfen erschüttert werden könnte – einer Welt, die von Kräften und Wundern durchzogen ist. Wie naiv war ich, zu glauben, dass hier alles anders wäre.
Doch die Weite dieser Welt, das unbekannte Terrain jenseits von Zyars Anwesen, füllt mich mit einer unangenehmen Beklommenheit. Bisher habe ich nur den Vater und seinen Sohn kennenlernen dürfen – keine anderen Solniw. Aber an Sylas’ Seite stehe ich bereit, allen Gefahren entgegenzutreten, die vor mir liegen.
Zyar hat uns nicht begleitet. Er entschied sich, zu Hause zu bleiben, um Nachforschungen anzustellen, und so gehen nun nur Sylas und ich durch die Straßen von Solnya. Und erstaunlicherweise finde ich Gefallen an dieser unerwarteten Situation. Hätten normale Mädchen in meinem Alter Interesse an einem Alleingang mit einem gutaussehenden Mann? Sollte ich mir solche kindischen Gedanken überhaupt erlauben? Früher war ich die totgeglaubte Prinzessin der Menschenwelt, und nun bin ich die lang ersehnte Retterin von Elindros – diejenige, die alles verändern könnte.
„Du solltest nicht zu viel über das Nachdenken, was vor dir liegt“, flüstert Sylas plötzlich, seine Worte wie ein beruhigender Hauch in der Hitze des Moments. Er hat mich bemerkt, wie ich in meinen Gedanken verloren bin, und mich sanft in die Realität zurückgezogen. „Seit deiner Flucht aus der Menschenwelt bist du ununterbrochen mit neuen Herausforderungen konfrontiert worden. Denkst du nicht, dass auch du eine Pause verdient hast?“
Ich möchte mich nicht mehr wehren. Es fühlt sich an, als wäre der Widerstand sinnlos, als wäre die Kraft in mir verbraucht. Er hat recht mit seinen Worten – sie hallen in meinem Inneren nach, wie eine unaufhaltsame Wahrheit.
„Ich werde dir ein neues Geschäft zeigen, das vor kurzem eröffnet hat“, sagt Sylas, seine Stimme ruhig, aber bestimmt. „Magst du Fisch?“
Ich zögere einen Moment, spüre die Schwere der Frage und stehe an einem inneren Abgrund. „Ich esse kein Fleisch“, gestehe ich schließlich, die Worte fließen schwer über meine Lippen. Er schaut mich überrascht an, und ich kann förmlich die Frage in seinem Blick lesen.
„Mir gefällt der Gedanke nicht, andere Lebewesen zu verspeisen“, füge ich hinzu, und die Erinnerung kommt mit einem Schlag, wie ein alter Schatten, der mich plötzlich in die Dunkelheit zieht. „Als Kind hat König Mukuta mich zum Essen eines Hasen gezwungen, weil er meinte, dass Menschen Fleisch essen müssen.“ Ich blicke auf den Boden, als ob ich den Hasen noch vor mir sehe, als ob ich die blutigen Erinnerungen riechen könnte. Mein Magen zieht sich zusammen, und die Bilder aus dieser Zeit – das Geräusch, der Geschmack – überfluten mich. „Ich habe mich im Anschluss übergeben“, murmle ich, die Worte schwer wie Blei.
„Ich verstehe“, antwortet Sylas, seine Stimme gedämpft, beinahe entschuldigend. „Verzeih, wenn ich alte Wunden aufgekratzt habe. Wir müssen auch nicht hingehen.“
Doch etwas in mir wehrt sich gegen den Rückzug, gegen das Verbergen der Schwäche. „Aber nein“, sage ich hastig und schüttle die Hände, als könnte ich die Worte vertreiben. „Lass uns dorthin gehen. Vielleicht gibt es dort andere Gerichte, die ich probieren kann.“
Sylas lächelt, und in diesem Moment, als sein Lächeln wie ein sanfter Sonnenstrahl in mein Herz fällt, spüre ich ein Aufblühen in mir. Eine Wärme breitet sich aus, die ich lange nicht mehr gefühlt habe – ein Funken Freude nach all der Trauer, die mich so lange gefangen hielt.