Den Rest der Nacht verbrachte Chrysalis wie gelähmt mit trübsinnigem Grübeln. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, nach neuem Feuerholz zu suchen, nachdem ihr kärglicher Vorrat aufgebraucht war. Die Worte des Druiden hatten ihr mehr zugesetzt, als sie sich selbst eingestehen wollte. Zu allem Überfluss war auch noch ein heftiges Gewitter durchgezogen und die ununterbrochenen Donnerschläge hatten jeglichen Gedanken an Schlaf zunichte gemacht.
So harrte sie völlig durchnässt und durchgefroren aus, bis endlich der Morgen heraufzog und strahlender Sonnenschein den umliegenden Wald zu neuer Geschäftigkeit erweckte. Dichte Nebelschwaden stiegen auf und erzeugten eine unwirkliche Stimmung, ließen den Wald wie verzaubert aussehen. Die alten Geschichten klangen damit viel glaubwürdiger.
Chrysalis rappelte sich endlich auf, rieb sich die schmerzenden Glieder und packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Dann kletterte sie aus dem Pavillon und folgte dem unscheinbaren Pfad zur nahe gelegenen Lichtung.
Am Rande der Lichtung angelangt hielt sie entsetzt inne. In der Mitte der nahezu kreisrunden freien Fläche hatte eine uralte Linde gestanden, die vielleicht sogar die Magierkriege miterlebt hatte. Es war in weitem Umkreis der mit Abstand älteste und ehrwürdigste Baum in diesem ohnehin alten Wald gewesen und hatte sicherlich seit Menschengedenken einen Versammlungspunkt dargestellt. Auch der verfallene Pavillon war bewusst in der Nähe dieses Baumes errichtet worden.
Aber das Unwetter der vergangenen Nacht hatte der Linde den Garaus gemacht. Über die ganze Lichtung waren abgerissene Äste und Zweige verstreut, und der riesige Stamm war offensichtlich mehrfach vom Blitz getroffen und in mehrere Teile gespalten worden.
Langsam ging Chrysalis weiter, um sich den Schaden aus der Nähe anzusehen. Vielleicht war ja von dem Stamm und Wurzelstock genügend erhalten geblieben, dass sich der Baum erholen könnte. Aber seine stattlich und ausladende Krone war wohl für immer verloren, nur eine kümmerliche und schiefe Ruine war verschont geblieben.
Aber alle Hoffnung war vergebens. Mit lautem Ächzen und Knirschen neigten sich die letzten stehenden Teile vor Chrysalis’ Augen immer weiter auseinander und stürzten schließlich mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden. Das Innere des Stammes war komplett morsch gewesen und hatte der Belastung nicht weiter standhalten können.
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Nachdem das letzte Echo des dumpfen Aufschlags verklungen war, legte sich eine unnatürliche Stille über den ganzen Wald. All die Vögel waren verstummt, die gerade noch den wärmenden Sonnenschein mit ihrem Gezwitscher und Geträllere begrüßt hatten. Selbst die leichte Brise, die die Nebelschwaden zerrissen und vertrieben hatte, schien den Atem anzuhalten. Kein Blatt raschelte im Wind, kein Insekt surrte durch die Luft.
Verunsichert sah Chrysalis sich um und versuchte mit den Blicken das Unterholz am Waldrand zu durchdringen. Aber sie konnte nichts Auffälliges erkennen.
Dann fiel ihr Blick auf die Reste des Baumstamms, in deren Mitte noch ein morscher Pfahl aufragte. Immer wieder fielen Teile davon ab und fielen fast lautlos zu Boden, so schwammig und durchlöchert war das Holz.
Wie gebannt tastete Chrysalis sich Schritt für Schritt näher. Unter den erdfarbenen Resten kam nach und nach ein dunkleres Holz zum Vorschein, das fast wie geschnitzt und poliert aussah und unnatürlich gleichmäßig geformt war.
Chrysalis konnte den Blick kaum abwenden, schob mit den Händen Äste zur Seite oder kletterte einfach darüber hinweg. Sie bemerkte kaum, dass sie sich dabei die Hände an den scharfkantigen Splittern aufriss und ein Knie übel zerschrammte.
Endlich hatte sie sich bis ins Zentrum der Verwüstung vorgearbeitet und konnte den seltsamen Stab ergreifen. Im gleichen Moment lösten sich die letzten Teile der alten Linde von dessen Spitze.
Sie hatte einen alten Magierstab gefunden, deutlich zu erkennen an den feinen Ziselierungen und den alten Runen, die dessen Schaft über und über bedeckten. An der Spitze formte die Nachbildung einer faustgroßen Kralle irgendeines Raubvogels eine Fassung, die jedoch leer war.
Chrysalis umfasste den Stab mit beiden Händen und zog ihn mit einem Ruck aus dem weichen Baumstumpf.
Im selben Moment rollte ein Donnerschlag über den klaren Himmel und die Erde erbebte.
Chrysalis lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte wohl ihren Magierstab gefunden.