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Kapitel 1 • In der Bibiothek

Chrysalis erwachte mit rasendem Herzen. Sie war auf der Fensterbank der Bibliothek eingenickt, und wie so oft in letzter Zeit hatte dieser Traum sie heimgesucht. Allerdings lag der letzte Neumond schon mehr als zehn Tage zurück. Dass sie der Traum nicht losließ, verhieß nichts Gutes.

Der Große Magierkrieg lag viele Jahrhunderte zurück und die Gebeine jener Schwarzen Magier waren schon lange zu Staub zerfallen, selbst ihre Namen längst vergessen. Sie war beunruhigt, dass sie diese Ereignisse so verfolgten. Wahrlich ein schlechtes Zeichen.

Seufzend richtete sie sich auf und strich mit zitternder Hand eine rotblonde Locke aus ihrer Stirn. Sie zog die Füße hoch und zupfte ihre schlichte nebelgraue Novizinnenrobe zurecht. Dann umfasste sie ihre Knie mit verschränkten Händen und lehnte sich an den von der Sonne gewärmten Fensterrahmen.

Staubpartikel tanzten funkelnd im Sonnenlicht. Chrysalis nahm einen tiefen Atemzug und sog das Aroma der Apfelblüten ein, das vom Obstgarten des Kollegiums hereinwehte. Sie blickte hinaus, wo einige der Schüler im Schatten der Apfelbäume lagerten und sich unterhielten.

Immer wieder drangen Gesprächsfetzen zu ihr hinauf, jedoch nie so viel, als dass sie dem Faden der Diskussion folgen konnte. Doch damit nicht genug — aus dem wenigen, das sie aufschnappen konnte, musste sie erkennen, dass es um ihre Leidenschaft ging: die alten Schriftrollen der Bibliothek und die darin verborgenen Geheimnisse. Wortführer war Trevor, ein hochgewachsener Mann Ende zwanzig. Sie hielt wenig von dem Fürstensohn, da er seinen Charme oft dazu einsetzte, Neulinge am Kollegium zu verblenden und dann schamlos für eigentlich ihm zugewiesene Aufgaben einzuspannen. Zudem durfte Trevor als Geselle nach Herzenslust in besagten Schriftrollen stöbern. Dies tat er auch ausgiebig, aber nur um anschließend mit den entdeckten Kuriositäten zu prahlen.

Eben diese Schriftrollen — oder vielmehr die unwiderstehliche Verlockung, die sie für Chrysalis darstellten — waren auch der Grund für ihren unfreiwilligen Dienst in der Bibliothek. Als Lehrling war ihr der Zugang zu diesen Rollen streng untersagt, aber sie hoffte, darin endlich Hinweise auf ihre Abstammung zu finden. Da sie von ihren Forschungen auch nach wiederholten Ermahnungen und Warnungen nicht abließ, war sie vom Bibliothekar Meister Ossian mit einem Bannspruch belegt und dazu verurteilt worden, zwei Wochen lang jeden Nachmittag mit dem Abstauben und Sortieren der Dokumente im ältesten und geheimnisvollsten Teil der Sammlung zu verbringen.

Der Bann verhinderte, dass sie eine der Rollen öffnete oder gar einen der geheimen Texte durchlas. Wann immer sie auch nur daran dachte, ließ der Bann sie das Schriftstück fein säuberlich abstauben und in das richtige Regalfach einsortieren. Das Frustrierende daran war, dass sie all dies bewusst miterlebte. Je sehnlicher sie den Inhalt einer Rolle kennenzulernen wünschte, desto sorgsamer hielt sie die Rolle verschlossen und desto schneller legte sie sie ins Regal zurück. Somit bewirkte ihre Wissbegierde nur, dass sie die Fächer im Rekordtempo durcharbeitete.

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Seufzend verließ Chrysalis ihren Platz am Fenster und machte sich wieder an die Arbeit. Nach einiger Zeit schwand ihr Interesse an den Geheimnissen der Schriftrollen, und schließlich hatte sie ihr Pensum für den Nachmittag erfüllt. Sie ging zurück ans Fenster und blickte hinaus. Ihre Mitschüler hatten wohl das Interesse an Trevors Anekdoten verloren und waren in der warmen Nachmittagssonne eingedöst. Von Trevor selbst war nichts mehr zu sehen.

Chrysalis zog eine Grimasse und kaute auf einem Fingernagel herum. Sie überlegte, ob sie die Grenzen des Bannes ausloten sollte. Sie war sehr versucht, sich ein oder zwei der Dokumente näher anzusehen. Aber sie bezweifelte, dass der Bann nur während der Stunden wirkte, die sie in der Bibliothek arbeiten musste. Auf der anderen Seite kostete die Aufrechterhaltung eines Bannes den Magier Kraft, und ein Meister hatte wichtigere Aufgaben zu erfüllen als einen Lehrling in die Schranken zu weisen.

Schweren Herzens beherrschte sie sich und gab nicht ihrem Drang nach, mehr über ihre Herkunft zu erfahren. Wenn sie es sich endgültig mit dem Bibliothekar verdarb, würde sie nie Zugang zu den geheimen Dokumenten erhalten.

Sie nahm eine der Schriftrollen aus dem Regal und betrachtete versonnen die Aufschrift. Diese war in uralten Schriftzeichen verfasst, die heutzutage kaum jemand mehr entziffern konnte. Wehmütig strich sie mit dem Finger über den Namen des Verfassers — ihren Namen.

Nahende Schritte rissen sie aus ihren Träumereien. Rasch schob sie die Schrift zurück in ihr Fach und wandte sich dem Neuankömmling zu.

Meister Ossian höchstpersönlich, seines Zeichens Bibliothekar des Kollegiums und Schriftgelehrter, stand vor ihr und fuhr sich mit der Hand über seinen adrett gestutzten Kinnbart. »Nun, wie steht es um die Schriftrollen?«, wollte er wissen. Er grinste verschmitzt, als wüsste er genau um den inneren Kampf, den Chrysalis gerade ausgefochten hatte.

Du hast ja keine Ahnung!, dachte sie bei sich. Aber sie musste ihrer Rolle gerecht werden. Sie senkte in gespielter Demut den Kopf und stammelte. »Ich ... ich bin gerade mit dem letzten Regal fertig geworden, Meister Ossian.«

Er nickte befriedigt. »Und nun wüsstest du gerne, was in all den Rollen steht, die durch deine Hände gingen. Sicherlich ist dir die eine oder andere Schriftrolle aufgefallen?«

Chrysalis war von dieser Wendung völlig überrascht und starrte den Bibliothekar sprachlos an. Hatte er bemerkt, dass sie die alten Schriften lesen konnte?

Dieser lächelte vielsagend und meinte: »Das war wohl nicht ganz, was du erwartet hast. Begib dich doch bitte zu Großmeister Cedrik. Du wirst ihn um diese Zeit gewiss in seinem Studio antreffen. Er möchte dir einen Vorschlag unterbreiten.«

Verunsichert machte Chrysalis sich auf den Weg zu dem angesehenen Heiler und derzeitigen Leiter des Kollegiums.