»Immer mit der Ruhe, Tochter!«, rief der Neuankömmling und half ihr kichernd auf die Beine.
Chrysalis rappelte sich erschrocken auf und wandte sich um. Vor ihr stand ein vom Alter gebeugter Mann, dessen Gesicht unter der Kapuze seines weiten Umhangs verborgen war. Nur die Spitze seines weißen Bartes ragte hervor. Er durchkämmte diesen unablässig mit seinen langen, zartgliedrigen Fingern. Der Fremde wirkte auf den ersten Blick harmlos, wenn auch etwas seltsam in seiner Aufmachung und mit seinem Gebaren.
Chrysalis schüttelte verlegen das feuchte Laub aus den Falten ihres eigenen Umhangs, dann besann sie sich ihrer guten Manieren und wandte sich freundlich lächelnd dem Fremden zu. »Vielen Dank für Eure unerwartete Hilfe, werter Herr. Nehmt doch bitte Platz, hier in der Ecke ist das Dach auch einigermaßen dicht und der Boden fast trocken.«
Der Mann kicherte wieder belustigt, bevor er ein paar Schritte auf die Feuerstelle zuging, seine Kapuze zurückschob und dann mit gespielter Furcht innehielt. »Gerne, Tochter. Ich bin nur etwas in Sorge, dass meine Augenbrauen und mein schöner Bart ein Opfer der Flammen werden, die du mit solchem Übermut auflodern lässt.« Er zwinkerte ihr unter seinen wahrlich kräftig gewachsenen und buschig abstehenden, schneeweißen Augenbrauen hervor schelmisch zu.
Chrysalis musterte ihren ungebetenen Gast misstrauisch. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, von einem alten Kauz verspottet zu werden. »Ich werde versuchen, mich zu beherrschen«, versprach sie dennoch höflich. Sie bückte sich und legte rasch ein paar einigermaßen trockene Zweige und Äste nach, bevor ihr Feuer wieder erlosch und sie gezwungen wäre, es neu zu entfachen.
Als sie sich wieder aufrichtete, hatte der Alte es sich im Halbdunkel bequem gemacht — ausgerechnet an der Stelle, die Chrysalis sich als Nachtlager hergerichtet hatte. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und suchte sich einen anderen halbwegs trockenen Fleck, wo es ihr nicht den Rest der Nacht auf den Kopf tropfen würde.
Schließlich kauerte sie sich in die Nähe der Feuerstelle und reckte ihre klammen Finger in die wohlige Wärme. »Was führt Euch bei diesem Unwetter hinaus, Alterchen?«, erkundigte Chrysalis und biss sich im selben Augenblick auf die Zunge. Alterchen! Wenn der Gute ihr das nur nicht übel nähme…
Doch der so despektierlich Angesprochene kicherte nur belustigt. Als er sich wieder gefasst hatte, entgegnete er mit ernster Miene: »Alterchen, so hat mich wahrlich noch niemand genannt, der nicht wenigstens ein paar Sommer weniger auf dem Buckel hatte als ich selbst. Aber von dir erstaunt mich diese Bezeichnung nun doch etwas. Wie soll ich dich denn im Gegenzug nennen, Tochter?« Er blinzelte ihr wissend zu, als kenne er Chrysalis‘ wahres Alter auf den Tag genau.
Diese wand sich unbehaglich. »Belassen wir es bei ‚Tochter‘«, entgegnete sie ausweichend und machte sich unnötigerweise an dem munter prasselnden Feuer zu schaffen, nur um dem Alten nicht in die alles durchdringenden Augen sehen zu müssen.
Dieser seufzte theatralisch und brummte dann unwirsch. »Nun lass endlich das Spiel mit dem Feuer, Kind!« Er kicherte abermals vergnügt.
Chrysalis tat wie geheißen und lehnte sich an den Balken hinter sich. Zu spät bemerkte sie, dass daran das Regenwasser in einem breiten Band herab und ihr prompt in den Kragen lief. Aber das machte schon fast keinen Unterschied mehr, so durchnässt wie sie vom Weg hierher war.
Fluchend rückte sie wieder näher ans Feuer und umschlang mit den Händen ihre Knie. »Heraus mit der Sprache, wer seid Ihr?«, erkundigte sie sich mit mehr Nachdruck als beabsichtigt.
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Der Alte fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch seinen wallenden Bart, der trotz des Unwetters auf wundersame Weise trocken geblieben war. Vielleicht wollte er damit aber auch nur ein weiteres albernes Kichern verbergen, mutmaßte Chrysalis.
»Ich bin ein Hüter«, erklärte er schließlich ernst. »Hüter vieler Dinge, Kostbarkeiten auch, die in Vergessenheit geraten sind. Hüter von Wissen, von Geheimnissen. Wissen, das dir fehlt, mein Kind. Ich kann dir helfen. Helfen, den richtigen Weg zu finden, den richtigen Schritt zu tun, den ersten Schritt zu tun.«
»Ihr sprecht in Rätseln!« ,rief Chrysalis anklagend, zögerte aber mit einer Antwort. Sie war hin und her gerissen zwischen der Aussicht, etwas Wichtiges zu erfahren und ihrem Bedürfnis, unerkannt zu bleiben. Aber noch wagte sie es nicht, sich dem Alten anzuvertrauen.
Dieser seufzte. »Natürlich fällt es dir schwer, so mir nichts - dir nichts einem Unbekannten dein Herz auszuschütten, vor allem nach all den vielen langen Jahren, die du auf dich alleine gestellt warst. Also lass mich den Anfang machen. Bitte unterbrich mich, wenn ich etwas Falsches sage oder dir etwas nicht klar ist.«
Chrysalis konnte nur stumm nicken.
»Ich bin ein Druide«, stellte der Alte sich vor und hob rasch die Hand, um Chrysalis‘ Einwänden zuvorzukommen. »Wir haben lange Jahrhunderte im Verborgenen gelebt, um das Wissen um die alten Geheimnisse besser schützen zu können. Aber es gibt uns tatsächlich, so wie es die Magie tatsächlich gibt, deren Existenz so lange geleugnet oder zumindest geheim gehalten wurde. Du weißt dies am besten, mein Kind.
Wir hüten seit vielen Generationen die Geheimnisse um die letzten großen Magier, die allesamt während des Magierkrieges zugrunde gegangen sind. Einige ihrer mächtigsten Artefakte wurden damals mit ihnen zerstört, andere gingen verloren, wieder andere haben ihre Macht verloren und geben heute nur noch stumm Zeugnis von der einstigen Herrlichkeit.« Er pausierte, um seine Gedanken zu sammeln. »Deine Rolle in dem gegenwärtigen Ringen um Macht, um Magie, zwischen Gut und Böse ist entscheidend. Du musst entscheiden zwischen Gut und Böse, auf welche Seite du dich stellst, auswählen an wessen Seite du kämpfst.«
»Aber ich bin eine Heilerin, keine Kämpferin!«
»Manche Entscheidungen sind vor langer Zeit gefällt worden, für dich gefällt worden. Gegen das Schicksal kann man sich auflehnen, aber man kann ihm nicht entfliehen, auch du nicht.
Dein erster Schritt muss sein, dass du dich deinem Schicksal stellst, es akzeptierst, deine Verantwortung akzeptierst. Die Zeit des Versteckens, des Verbergens, des Davonlaufens ist vorbei.
Nimm die dargebotene Gabe an, die dargebotete Hilfe, die Freundschaft, die Liebe. Ohne sie bist du verloren, sind wir alle verloren, gewinnen andere, dunklere Mächte.«
»Welche Gabe soll ich annehmen? Habt Ihr mir etwas mitgebracht?« Chrysalis hatte nicht die Hälfte verstanden von dem, was der Druide zu ihr gesagt hatte. Aber seine Worte waren unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
»Nein, mein Kind. Öffne deine Augen, öffne dein Herz, und du wirst sehen, wirst verstehen. Wenn nicht — wirst du weiter im Dunkeln tappen, im Dunkeln umher irren, dich im Dunkeln verlieren. Dann werden wir alle verloren sein.« Mit einem gewissen Bedauern im Blick erhob sich der alte Druide und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Dunkelheit.
Chrysalis blieb wie versteinert sitzen und starrte in die Flammen. Die alten Prophezeiungen holten sie endlich ein. Und sie war nicht im Geringsten darauf vorbereitet.