Einige Tage später stand Chrysalis auf der Veranda der Krankenstube an einem breiten Holztisch. Die Aufregung um ihren neuen Magierstab hatte sich ein wenig gelegt, vor allem weil der Stab ohne seinen Stein offensichtlich über keinerlei magische Fähigkeiten mehr verfügte.
Vor sich hatte sie verschiedene getrocknete Kräuter und Wurzeln ausgebreitet und war vertieft in das Auslesen und Sortieren des Materials. Die warmen Strahlen der Nachmittagssonne fielen auf die Blätter, Blüten und Knollen und ließen Chrysalis jede Unreinheit und jeden Flecken erkennen. Mit flinken Fingern klaubte sie unvollkommene Teile der Beinwellwurzeln heraus und legte sie in den bereitstehenden Mörser. Daraus wollte sie noch an diesem Abend eine Heilsalbe zubereiten. Die besten Stücke band sie mit Bindfaden zusammen, um sie später im Speicher für den nächsten Winter aufzuhängen.
Chrysalis überlegte, wie sie ihre eigene, geheime Rezeptur für die Salbe unauffällig in die Unterlagen der Heiler schmuggeln könnte. Zu Beginn ihrer ‚Ausbildung‘ als Heilerin war sie entsetzt gewesen, wie viel Wissen über die Jahre verloren gegangen war. Die angesehenen Heiler an der Magierschule verfügten über wenig mehr als grundlegende Kenntnisse der Kräuterkunde und eine solide handwerkliche Ausbildung.
Das Geräusch rennender Füße riss sie aus ihren Gedanken. Ein schmächtiger Junge kam atemlos in den Innenhof des Kollegiums gelaufen und sah sich ratlos um, bevor sein Blick an Chrysalis hängen blieb. Er war keine zehn Jahre alt und nur mit einer zerschlissenen Hose aus fahlbraunem, grob gewebtem Leinen bekleidet.
»Schnell! Der Sepp!«, rief er und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Was ist mit dem Sepp?«, erkundigte sich Chrysalis mit betont ruhiger Stimme. Sie konnte sich denken, dass es um ihn nicht zum Besten stand, sonst wäre der Junge nicht ans Kollegium gekommen. Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie in das Behandlungszimmer und nahm einen der drei Rucksäcke mit Notfallausrüstung, die dort bereitstanden. Sie war zurück auf der Veranda ehe der Junge ihre Abwesenheit so recht bemerkt hatte.
Chrysalis erwägte, ihren neuen Magierstab aus ihrem Zimmer zu holen, ließ diesen dann aber stehen. Zu sperrig, und an irgendeinen wirklichen Nutzen glaubte sie ja auch nicht.
»Vom Berg g‘fall‘n!«, erläuterte der Junge einsilbig und lief wieder los, ohne sich nach Chrysalis umzusehen.
Das konnte alles mögliche bedeuten. Aber wegen ein paar Abschürfungen wäre der Junge wohl nicht hergekommen, ein Knochenbruch war also das Mindeste, was sie erwartete.
Normalerweise wäre Chrysalis nicht alleine zu einem solchen Notfall losgezogen, aber Cedrik war für mehrere Tage unterwegs, um auf den Märkten weiter im Süden exotische Heilpflanzen einzukaufen, und auch die beiden anderen Heiler waren in den umliegenden Bergen beim Kräutersuchen.
Chrysalis überlegte, ob sie dem Jungen zu Fuß folgen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Wer weiß, wie weit es zu seinem Hof war. Aus der unmittelbaren Umgebung war er jedenfalls nicht, sonst hätte sie sein Gesicht schon einmal gesehen.
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Also lief Chrysalis quer über den Hof zum Stall und öffnete die Box ihres Lieblingspferdes, einer zierlichen Mustangstute. Diese wieherte freudig und lief hinaus auf den Hof, wo sie artig stehen blieb und sich nach Chrysalis umsah. Diese schloss die Box wieder, zog die Riemen ihres Rucksacks fester an und schwang sich auf den bloßen Rücken ihres Pferdes. Ohne weiteren Ansporn verfiel die Stute in einen leichten Galopp und folgte dem Jungen, der den schmalen Karrenweg vom Kollegium zur Landstraße hinunter lief.
Schon nach kurzer Zeit hatten sie den Jungen eingeholt und Chrysalis zügelte ihr Pferd. Sie schwang ihren Rucksack nach vorne und hielt dem Jungen ihre Hand hin. »Steig auf, dann sind wir schneller!«
Der Junge ergriff dankbar die dargebotene Hand und sprang geschickt hinter Chrysalis auf den Pferderücken. Zaghaft umfasste er Chrysalis’ Taille.
»Festhalten!«, rief Chrysalis und gab ihrer Stute die Zügel frei. »Wo müssen wir überhaupt hin?«
»Feistneralm!«
»Kenne ich nicht. Du musst mir den Weg weisen«, rief Chrysalis über ihre Schulter zurück.
Der Junge nickte und klammerte sich fester an Chrysalis. Er war wohl eher an die gemächlichere Gangart eines Ackergauls gewöhnt oder hatte wahrscheinlich noch nie auf dem Rücken eines schnellen Reitpferdes gesessen.
Wenig später hatten sie die Landstraße erreicht, die von den Hochländern der Nomaden im Osten herunter kam und nach Westen über etliche Pässe zur Ebene von Taboron führte.
Chrysalis drehte sich zu dem Jungen um und sah ihn fragend an. Dieser wies schweigend nach links in Richtung der Hochebene.
Die Straße folgte eine Weile dem munter dahin plätschernden Fluss und schwang sich dann in engen Kehren die Bergflanke hinauf, um eine Steilstufe zu umgehen, über die sich der Fluss tosend stürzte. Die Stute verlangsamte ihr Tempo und arbeitete sich unter ihrer doppelten Last schnaufend und schnaubend die Steigung empor.
In der letzten Kehre zupfte der Junge Chrysalis am Ärmel ihrer Robe und deutete auf einen schmalen Saumpfad, der geradeaus weiter den Hang entlang und hinauf zum Eingang eines versteckten Seitentales führte.
Chrysalis hielt an. Tief hängende Äste und dichtes Unterholz zu beiden Seiten des Pfades erschwerten das Fortkommen zu Pferde. »Wir gehen den Rest des Weges zu Fuß«, beschloss sie und stieg ab, nachdem der Junge abgesprungen war. Sie band ihrer Stute den Zügel hoch und folgte dem Jungen auf den Pfad.
Chrysalis spornte den Jungen zur Eile an. Sie verfiel in einen leichtfüßigen und raumgreifenden Trab und blieb ihm mühelos dicht auf den Fersen.
Das Pferd freute sich über den unbelasteten Rücken und nutzte die Freiheit, um unterwegs Grasbüschel vom Wegrand zu zupfen, folgte ihnen aber brav in geringem Abstand.