Cedrik schob seine Begleiter in sein Studio und verschloss die Türe hinter ihnen. Sogar den schweren Riegel schob er vor, er wollte auf gar keinen Fall gestört werden.
Chrysalis hielt ihm die Schnapsflasche hin. »Mit den besten Empfehlungen von Marie.«
»Marie?« Cedrik runzelte verwundert die Stirn.
»Von der Alm. Ihr habt ihrer Schwester vor Jahren bei einer Entbindung geholfen.«
»Ach ja…« Cedrik blickte für einen Moment versonnen in die Ferne. »War sie hier am Kollegium? Schade, dass ich sie verpasst habe.«
»Nein, ich wurde zu einem Notfall auf die Alm gerufen. Ein Beinbruch.«
Cedrik sah sie überrascht an. »Du?«
»Die beiden anderen Heiler waren unterwegs.«
»Und wie bist du zurechtgekommen?«
Chrysalis zögerte mit der Antwort. Das Wort ›Wunderheilung‹ war nicht geeignet, das Vertrauen ihres Meisters zu stärken. »Marie war sehr zufrieden und hat es sich nicht nehmen lassen, mir eine Flasche Enzian als Entgelt mitzugeben — und eine weitere für Euch.«
»Gut gemacht, Mädchen!«, freute sich Cedrik. Dann stellte er seine Flasche auf seinen Schreibtisch und wandte sich seinen Gästen zu.
»Darf ich vorstellen: Chrysalis, meine Schülerin und angehende Heilerin. Gildas, vormals aussichtsreicher Kandidat für die Aufnahme am Kollegium.« Er sah Chrysalis prüfend an.
Diese stutzte ob der seltsamen Wortwahl ihres Lehrmeisters. »Wieso ›vormals‹?« Ein kalter Schauer der Vorahnung lief ihr den Rücken hinunter und sie musterte den schmächtigen jungen Mann eindringlich.
Cedrik seufzte. »Gildas hat seine magischen Fähigkeiten verloren, wie es scheint. Zudem wohl auch einen guten Teil seines Verstandes.«
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Chrysalis hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund. »Was… Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht so recht, aus Gildas ist nichts Vernünftiges herauszubringen. Wann immer ich ihn danach frage, fängt er an zu zittern und bringt kein Wort mehr heraus.«
»Seit wann ist er in diesem Zustand? Hat niemand sonst etwas Außergewöhnliches bemerkt?«
Cedrik runzelte die Stirn. »Die übrigen Dorfbewohner berichten unzusammenhängendes Zeug, zum letzten Neumond sollen irgendwelche Geister durch ihr Dorf gezogen sein und alle mit dem bösen Blick verhext haben.«
Gildas hielt sich die Hände vors Gesicht und fing an zu wimmern und zu jammern.
Chrysalis ging langsam auf Gildas zu und legte den Arm um seine bebenden Schultern. Sie überragte ihn fast um Haupteslänge. »Schsch… Es wird alles wieder gut!«, murmelte sie tröstend.
Cedrik fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
Chrysalis hatte ihn noch nie so… ratlos gesehen.
»Wenn ich ihn doch nur ein paar Wochen früher abgeholt hätte«, machte er sich selbst den Vorwurf. »Aber das ist jetzt auch nicht mehr zu ändern. Leider ist Gildas kein Einzelfall.«
»Wieso?« Chrysalis hob den Kopf und blickte ihren Meister scharf an.
»Diese Vorfälle häufen sich in letzter Zeit. Normalerweise beginnt eine Karriere am Kollegium folgendermaßen:
Wir finden einen Kandidaten, meist aufgrund von Hinweisen von Dorfbaadern, Kräuterfrauen oder fahrenden Händlern, die von unerklärlichen Ereignissen in dessen Umfeld berichten. Diese sind fast immer Anzeichen eines sich entwickelnden magischen Talents.
Wenn der Kandidat noch jung ist und seine magischen Fähigkeiten noch nicht zu weit entwickelt, dann lassen wir ihn noch eine gewisse Zeit bei seiner Familie. Die meisten kommen erst im Alter von zehn oder zwölf Jahren zu uns.«
»Und in der Zwischenzeit?«
»Wir besuchen die Familien regelmäßig und überprüfen, dass das Talent sich nicht in gefährlichem Maße weiter entfaltet hat und der junge Magier zur Gefahr für sich und andere werden könnte.
So war es auch bei Gildas. Ich war das letzte Mal im Lenzing dort, und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass er bald soweit wäre.« Cedrik senkte niedergeschlagen den Kopf. »Aber wie du siehst, ist mir irgend… etwas zuvorgekommen.«
Chrysalis musste an ihre Kindheitserlebnisse und die Schwarzen Magier denken, die damals, vor Menschengedenken, ihr Unwesen getrieben hatten. Sie hatte schon lange die Anzeichen verfolgt, die auf ein erneutes Erstarken dieser verruchten Magier hindeuteten.
Sie löste sich behutsam von Gildas. »Großmeister Cedrik, ich muss Euch sprechen — unter vier Augen.«
Cedrik nickte und läutete nach seinem Gehilfen. Dieser wurde angewiesen, sich unauffällig um Gildas zu kümmern. Schließlich war er nicht der erste Kandidat in diesem Zustand.
Für Chrysalis war die Zeit gekommen, sich zu offenbaren.