An diesem Abend wurde es spät, bis Chrysalis ins Bett kam. Sie hatte erst nach Einbruch der Dunkelheit das Kollegium erreicht und noch die Kräuter und Knollen wegräumen müssen, die sie vor ihrem übereilten Aufbruch auf der Veranda hatte liegen lassen.
Nun lag sie im Bett in ihrem bescheidenen Zimmer im Novizinnentrakt. Sie starrte in fast vollständiger Dunkelheit zur weiß getünchten Decke hinauf und konnte trotz ihrer Erschöpfung nicht einschlafen, so sehr hielten sie die Ereignisse des vergangenen Tages gefangen.
Einmal war da wieder ganz deutlich dieses seltsame Schimmern und Schillern um die Bruchstelle herum gewesen. Welcher Sinnestäuschung erlag sie hier? Was unterschied sie von den anderen Heilern am Kollegium?
Dann hatte sie noch nie eine so schwierige und aufwendige Heilung versucht, geschweige denn vollbracht. Dieser Erfolg fühlte sich unglaublich gut an und bestärkte sie in ihrem Entschluss, eine Laufbahn als Heilerin einzuschlagen und ihren Mitmenschen zu helfen. Das war allemal besser, als magische Feuerstürme zu entfesseln und gegen Unschuldige zu schleudern.
Sie fühlte sich allerdings völlig ausgelaugt und sah sich außerstande, auch nur einen Leuchtglobus zu erschaffen. Chrysalis konnte nur hoffen, dass sie sich rasch wieder erholte, sonst wäre sie nicht imstande, derartige magische Heilungen mehrmals hintereinander durchzuführen. In ihrem tiefsten Inneren befürchtete sie sogar, dass sie sich so sehr verausgabt hatte, dass sie ihre magischen Fähigkeiten für immer verloren hatte.
Am wichtigsten waren ihr aber die Wärme und Herzlichkeit gewesen, die sie von den Bergbauern empfangen hatte. Sie erkannte mit einem Stich ins Herz, dass ihre Leidenschaft für das ganze arkane Wissen und die in den Schriftrollen verborgenen Geheimnisse alleine nicht glücklich machten.
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In den letzten hatte sie den engeren Kontakt mit anderen immer vermieden, da sie keine persönlichen Bindungen und Verpflichtungen eingehen wollte, vor allem aber um einer Entdeckung zu entgehen. Dies entsprach zum Glück auch einer der Grundregeln, die ihr schon ganz zu Beginn ihrer Ausbildung eingebläut worden war: einen Patienten immer nur als ›Fall‹ und nicht als Person zu sehen. Zu groß wäre die Gefahr, den Misserfolg einer Behandlung als persönlichen Verlust zu erleben und zu erleiden.
Aber was war denn dann die Bedeutung von ›Mitleid‹? Sollte sie anderen nicht aus Mitleid helfen? Aus welchem Grund denn sonst? Etwa um als Heilerin Anerkennung zu finden? Dann dürfte sie sich nur spektakulären Fällen widmen, nur die Reichen und Mächtigen heilen. Sie erkannte wieder einmal, dass genau darin die Motivation derer lag, die ihre Zunft durch ihr Verhalten in Verruf brachten.
Chrysalis grübelte noch eine ganze Weile über ihre eigenen Beweggründe und kam zu dem Schluss, dass sie einem goldenen Mittelweg folgen würde: Altruistischer Dienst auch am ›kleinen Mann‹, auch aus Mitleid und auf einer persönlichen Ebene, auf das Risiko hin, dass sie dabei selbst leiden würde. Als Belohnung für dieses Engagement erhoffte sie sich nicht nur Anerkennung ihrer Fähigkeiten, sondern eben auch die Wärme, das Vertrauen, die Herzlichkeit, wie sie ihr von den Bergbauern — spontan, aufrichtig und ohne Hintergedanken — entgegen gebracht worden waren.
In der Hoffnung, ausnahmsweise einmal eine wichtige Entscheidung für ihr Leben richtig getroffen zu haben, sank Chrysalis endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.