Am Abend des dritten Reisetages schlugen Dorran und Tom ihr Lager inmitten der Donnerberge auf.
Die ersten beiden Tage waren weitgehend ereignislos verlaufen, abgesehen von einem verlorenen Hufeisen und mehreren gerissenen Packgurten — wer wollte schon Packen mit Papier rauben. Dorran konnte sich kein neues Packgeschirr leisten, und das alte Leder war schon vielfach geflickt und wurde immer brüchiger.
Der Lagerplatz in den sagenumwobenen und berüchtigten Gebirgszügen war den beiden nicht ganz geheuer. Aber ausgerechnet bei der Überquerung des höchsten Passes waren sie immer wieder von unerklärlichen Missgeschicken aufgehalten worden. Zuerst hatten sich der Reihe nach alle Packgurte gelockert, obwohl Dorran und Tom sie mehrfach gewissenhaft überprüft hatten. Dann hatten sich noch einige der sorgsam verschnürten Papierpacken geöffnet und mussten mühsam neu verpackt werden, um die feinen Bögen nicht zu gefährden.
So hatten sie nur knapp die Hälfte der geplanten Wegstrecke bewältigt, als die Abenddämmerung hereinbrach, und waren gezwungen, auf einer Lichtung am Wegesrand zu übernachten.
Besonders Tom war von der Aussicht, eine Nacht im Freien inmitten der Donnerberge verbringen zu müssen, nicht sonderlich begeistert. Er konnte sich nur allzu gut an die vielen schaurig-schönen Geschichten erinnern, die in den Wirtshäusern zum Besten gegeben wurden. Selbst wenn man großzügige Abstriche machte, blieb doch ein harter Kern unerklärlicher Vorkommnisse — zu denen die Pannen des vergangenen Tages ausgezeichnet passten.
Dorran und Tom teilten sich wie immer die Nachtwachen. Dorran rollte sich nach dem Abendessen in seine Decke, während Tom sich ein paar Meter vom Feuer mit dem Rücken an einen Baum setzte und sich mit dem Flicken einiger zerschlissener Ledergurte beschäftigte.
Dorran konnte jedoch nicht einschlafen. Ihm gingen die Ereignisse des Tages und die Gerüchte, die sich um die Donnerberge rankten, nicht aus dem Sinn. Er warf sich eine Weile unruhig herum, dann stand er seufzend wieder auf und gesellte sich zu Tom.
»Ich kann nicht schlafen. Soll ich deine Wache übernehmen?«
»Nein, ich kann auch nicht schlafen. Mir ist es hier zu unheimlich«, bekannte Tom.
»Mir geht es auch so. Wenn man nur wüsste, was einen hier erwartet. Aber die Geschichten widersprechen sich alle. Nur in einem stimmen sie überein: Es ist gefährlich für Leib und Seele, die Nacht im Schatten der Donnerberge zu verbringen.
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Glaubst du an Geister?«, wollte Dorran unvermittelt wissen.
Tom zögerte mit der Antwort. Er wollte nicht als abergläubischer Trottel angesehen werden. Aber andererseits hatte er immer ein gutes und offenes Verhältnis zu seinem Dienstherrn gehabt. »Ich weiß nicht so recht. Ich glaube nicht direkt an Geister, eher an andere Geschöpfe und Magie. Hexen und Dämonen und so. Magische Gegenstände wie Ringe oder Zauberstäbe, mit denen man jemanden in eine Kröte verwandeln oder heilen kann.«
Dorran lachte amüsiert. »Wo ist der Unterschied zwischen einem Geist, der dich verzaubert, und einer Hexe?«
»Ganz einfach: einen Geist kann ich nicht sehen.«
»Und wenn sich die Hexe unsichtbar gemacht hat?«
Tom überlegte eine Weile, bis ihm der belustigte Gesichtsausdruck Dorrans auffiel. »Ihr nehmt mich ja nur auf den Arm. Es gibt doch gar keine Geister!«
»Ich weiß nicht. Wie erklärst du denn die heutigen Verzögerungen? Das ging doch alles nicht mit rechten Dingen zu!«, entgegnete Dorran.
»Hmmm. Aber eine Hexe würde sich doch nicht mit uns abgeben. Wir sind doch viel zu unbedeutend.« Tom errötete, als ihm bewusst wurde, was er da gesagt hatte.
»Schon gut. Ich weiß auch, dass das Haus Goldberg schon bessere Zeiten gesehen hat.« Dorran winkte ab. »Aber wie steht es mit kleinen Geistern, etwa Kobolden oder Elfen? Für die wären wir gerade richtig, um uns einen Streich zu spielen, oder?«
Tom rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das könnte passen. Dann meint Ihr, die Pannen heute hat uns ein Kobold angetan? Aber warum? Warum hat er nicht einfach etwas geklaut?«
»Vielleicht wollte jemand, dass wir in den Donnerbergen übernachten«, murmelte Dorran. »Es soll auch Geschöpfe geben, die nur nachts Macht über uns haben...«
Tom blickte verschreckt um sich, konnte aber keine unmittelbare Bedrohung ausmachen. Er zog jedoch vorsorglich seinen Dolch und legte ihn griffbereit neben sich. »Lasst uns lieber von etwas anderem reden. Mir ist so schon unheimlich genug.« Dann zählte er ab, wie viele Tage sie unterwegs waren. »Heute ist der dritte Tag, nicht wahr?«, erkundigte er sich.
»Ja, warum fragst du?«
»Oje!«, jammerte Tom. »Dann ist heute die Walpurgisnacht!«
»Die Nacht, in der sich die Hexen versammeln und gemeinsam um ein Feuer reiten sollen? Das sind doch nur Ammenmärchen«, versuchte Dorran abzuwiegeln.
»Ammenmärchen, pah! Und was war das mit den Gurten heute?«, entrüstete sich Tom. »In all diesen Geschichten steckt immer ein Körnchen Wahrheit!«
»Das mag schon stimmen, aber das mit der Walpurgisnacht geht mir zu weit«, entgegnete Dorran.
Tom verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Vielleicht. Mir gefällt es dennoch immer weniger, dass wir ausgerechnet diese Nacht inmitten dieser verwunschenen Berge verbringen müssen…« Er rutschte näher ans Feuer und versicherte sich, dass er seinen Dolch bereitliegen hatte.
Unvermittelt wieherten einige der Packtiere freudig, als würden sie einen alten Bekannten begrüßen.