Chrysalis kam wieder zu sich durch ein scharfes Brennen in ihrem Mund. Eine der Bauersfrauen der Alm war über sie gebeugt und hielt ihr eine kleine Flasche an die Lippen.
»Enzianschnaps!« Die Frau grinste sie mit fleckigen Zähnen an. »Selbst gebrannt. Schmeckt gut und erweckt Tote wieder zum Leben!«
Chrysalis schüttelte sich. Der Schnaps war nicht nach ihrem Geschmack, viel zu scharf, obwohl sie zugeben musste, dass er ein feines Aroma hatte.
Vorsichtig setzte sie sich auf. Schwarze Punkte tanzten am Rande ihres Gesichtsfeldes, verblassten aber nach ein paar tiefen Atemzügen.
Die Bäuerin hielt ihr die Schnapsflasche nochmals hin und sah sie forschend an. »Geht‘s wieder?«
»Ja, danke. Die Heilung war wohl etwas zu viel für mich. Wie geht es …?«
»Dem Sepp? Sein Bein is‘ wie neu. Damit kann er wiada ‘rumspringen wie ein Gamsbock!«, erwiderte die Frau lachend. »Aber ich mach mir Sorgen um seinen Schädel, der blutet immer noch recht.«
Chrysalis fuhr sich seufzend mit der Hand über die Stirn. »Dann muss ich mich darum wohl auch noch kümmern. Wahrscheinlich ist es nur eine Platzwunde.
Könnte ich bitte eine Schüssel mit warmem Wasser haben?«
Sepp lag immer noch auf seiner Decke und hielt sich den schmerzenden Kopf.
Chrysalis wusch die Wunde mit einem mitgebrachten, sauberen Lappen aus. Dann versetzte sie sich abermals in eine leichte Trance und verschloss die geplatzten Blutgefäße. Diesmal verspürte sie nur einen leichten Druck in ihrem Kopf.
Nach getaner Arbeit konnte sie einen ersten Blick auf die Gesichtszüge ihres Patienten werfen und rief überrascht aus. »Dich kenne ich doch! Du bringst immer wieder Heilkräuter ans Kollegium.«
Sepp setzte sich auf und fuhr sich prüfend mit der Hand über Stirn und Bein. Dann strahlte er Chrysalis an. »Ja, die bringen gutes Geld!«, erwiderte er und sprang auf.
Er vollführte einen kleinen Freudentanz. »Vielen Dank, Heilerin!«, rief er, umarmte Chrysalis stürmisch und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange.
Diese errötete bis über beide Ohren.
Sepp rannte davon und verschwand zwischen den Gebäuden.
Die Bauersfrau blickte ihm amüsiert nach und schüttelte nur den Kopf. Dann wurde sie wieder ernst. »Wie können wir uns für diese Wunderheilung erkenntlich zeigen, junge Frau? Wir haben hier oben recht wenig Geld. Aber wie wärs mit ‘ner Flasche von unser‘m guten Enzian? Ein kleiner Schluck davon hin und wieder hält einen bei bester Gesundheit!« Sie hielt Chrysalis die immer noch offene Flasche hin.
»Eigentlich sind unsere Dienste ja kostenlos…«, setzte Chrysalis an.
Die Linien um den Mund der Bäuerin verhärteten sich und sie runzelte die Stirn.
Chrysalis erkannte, dass die gute Frau in ihrer Ehre gekränkt wäre, wenn sie ihren Schnaps nicht annähme. Schnell fing sie sich und fuhr fort: »Aber das gilt natürlich nicht für Hausbesuche. Und der Enzian ist wirklich ausgezeichnet. Ich weiß auch, dass Großmeister Cedrik sich sehr darüber freuen wird.«
»Cedrik! Darf sich der Junge jetzt sogar schon ‚Großmeister‘ schimpfen lassen…« Die Bäuerin blickte verträumt in die Ferne.
Chrysalis sah sie verwundert an. Der ‚Junge‘ hatte die Meisterwürde schon seit fast zehn Jahren inne und war jetzt Mitte Vierzig.
»Er kam damals nach der Entbindung des Ältesten meiner Schwester, da hab ich ihn das erste Mal gesehen. So ein fescher Mann war das…«, schwärmte die Bäuerin.
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»Soll ich ihm etwas ausrichten?«, erkundigte sich Chrysalis.
»Ja! Grüß ihn schön von mir. Sag einfach, ‚von der Marie von der Alm‘, er weiß dann schon.« Sie strahlte. »Und ich geb dir noch eine Flasche Enzian extra mit, nur für ihn.«
Marie stellte die angebrochene Flasche neben Chrysalis ab, lief in das Haupthaus und kam nach wenigen Augenblicken mit zwei versiegelten Flaschen zurück. Auch Sepp war wieder aufgetaucht, wohl in der Hoffnung, dass auch für ihn ein Stamperl Schnaps abfiele.
Chrysalis nahm die Flaschen in Empfang und verstaute sie in ihrem Rucksack. Dann wandte sie sich an Sepp. »Lass mich einen Blick auf die Kratzer auf deinem Arm werfen.«
»Da fehlt si‘ nix«, wich dieser aus.
»Nichts da!«, entgegnete Chrysalis streng. »Du bist mit deinem Bruch und der Platzwunde viel zu leicht davon gekommen. Jetzt gibt‘s noch ein wenig schön brennende Arnika-Salbe.« Sie wollte damit vor allem sicherstellen, dass die Schürfwunden sich nicht entzündeten.
Murrend ließ Sepp sich verarzten — die Salbe brannte auch nicht wirklich.
Dann packte Chrysalis ihre Utensilien wieder in ihren Rucksack, schwang diesen auf ihren Rücken und wollte sich verabschieden.
Marie hielt die Enzianflasche hoch. »Einen letzten Schluck auf unseren Cedrik?«
»Dann falle ich noch vom Pferd!«, lachte Chrysalis. »Aber ein kleiner Schluck auf das Wohl von Großmeister Cedrik und natürlich auf Sepp geht sicher noch.« Sie hatte rasch begriffen, worauf es den Leuten hier ankam.
Einer der Jungen wurde nach drinnen geschickt, um die Stamperl zu holen. Marie schenkte eine Runde für alle Anwesenden aus und reichte Chrysalis ein randvolles Glas.
»Auf Großmeister Cedrik und seine großartige Heilerin!«, rief sie und hielt ihr Glas hoch. Alle anderen Bergbauern folgten ihrem Beispiel und erhoben die Gläser.
Auch Chrysalis erhob ihr Glas und suchte Blickkontakt mit jedem einzelnen. Dann rief sie: »Auf Sepp, euch alle und einen guten Sommer!«
Alle leerten ihre Stamperl in einem Zug und stellten sie auf das Tablett zurück — bis auf Chrysalis.
Diese nippte vorsichtig und schüttelte sich, so bitter kam ihr der Schnaps vor.
Die anderen lachten gutmütig und zerstreuten sich dann langsam.
Marie schenkte sich noch einmal ein und legte einen Arm um Chrysalis. »Auf dein ganz besonderes Wohl, Heilerin!«, sagte sie und stieß mit Chrysalis an. »Du hast uns heute einen großen Dienst erwiesen, so ‘was vergessen wir nicht. Nicht jeder Dorfbader wäre sofort mit dem jungen Manni mitgegangen, die meisten wollen erst einmal bare Münze sehen. Wenn wir einmal etwas für dich tun können, lass es uns wissen.« Sie umarmte Chrysalis noch einmal fest zum Abschied.
Chrysalis stieg auf und machte sich auf den Heimweg. Am Ausgang des Tales stieg sie ab, wandte sich noch einmal um und blickte nachdenklich zurück. Während des kurzen Aufenthalts bei den Bergbauern hatte sie mehr zwischenmenschliche Wärme und persönliche Anerkennung erfahren als in all den Jahren am Kollegium.
Von den Häusern ertönte ein schriller Pfiff, und Chrysalis entdeckte Sepp auf dem Dach eines der Ställe, wo er wild mit beiden Armen ruderte. Sie winkte mit Tränen in den Augen zurück und machte sich schweren Herzens und mit weichen Knien an den Abstieg hinab zur Straße.