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Kapitel 3 • Privatschülerin

Chrysalis erreichte Cedriks Studio und klopfte herzhaft an die schwere Türe aus dunklem Eichenholz. »Herein!«, erklang es gedämpft von drinnen. Sie trat ein, blieb wie angewurzelt stehen und bestaunte die angehäuften Kuriositäten. Vieles hatte sich verändert, seit sie das letzte Mal vor mehr als zwanzig Jahren in diesem Raum gewesen war.

Sie wurde von Cedrik aus ihrem Staunen gerissen. »Nun, Mädchen. Dies ist mein Refugium. Hier lebe und wirke ich die meiste Zeit, solange ich am Kollegium bin und nicht in der Weltgeschichte herumstrolche.«

Chrysalis drehte sich zu ihrem Lehrmeister um. »Sicherlich ‚strolcht‘ Ihr nicht herum, sondern seid auf wichtigen und ehrbaren Missionen unterwegs!« rief sie mit perfekt gespielter Entrüstung.

Cedrik schmunzelte. »Nun ja. Hin und wieder bin ich tatsächlich auf einer sogenannten Mission. Aber weit mehr Zeit verwende ich darauf, einfach etwas Neues auszukundschaften, weil mir dies Freude bereitet, oder ich besuche Familien mit talentiertem Nachwuchs. Kannst du dich daran erinnern, wer dich damals ans Kollegium geholt hat?«

»Niemand. Ich bin aus freien Stücken vor einem halben Jahr ans Kollegium gekommen«, antwortete Chrysalis wahrheitsgemäß. Dass sie beileibe nicht zum ersten Mal hier war, ließ sie lieber unerwähnt.

»Das ist in der Tat ungewöhnlich.« Cedrik runzelte die Stirn. »Wie alt bis du?«

Chrysalis zögerte mit der Antwort. Sie konnte unmöglich ihr wahres Alter preisgeben. »Mitte Zwanzig«, murmelte sie schließlich und blickte Cedrik unter ihren langen Wimpern hervor unschuldig an.

»Ich hätte dich jünger geschätzt«, erwiderte dieser verwundert.

Chrysalis musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen. Sie hatte sich wahrlich gut gehalten. Ihre Haut war jugendlich glatt, und diesmal hatte sie dem Gesamteindruck mit ein paar kindlichen Rundungen im Gesicht noch mehr als sonst nachgeholfen. »Ich führe hier ja auch ein relativ sorgenfreies und unbeschwertes Leben«, meinte sie schließlich unverbindlich.

»Darf ich fragen, warum du an die Magierschule gekommen bist?«

Zumindest auf diese Frage war Chrysalis vorbereitet, zu oft hatte sie schon darauf antworten müssen. »Ich möchte mehr über Magie lernen und später einmal Heilerin werden.«

Cedrik blickte sie erwartungsvoll an. Nach ein paar Augenblicken zuckte er mit den Schultern und seufzte. »Nun ja, belassen wir es dabei. Jeder von uns hat seine Geheimnisse.

Du bist mir jedenfalls schon früh als wissbegierig aufgefallen. Das kann eine große Tugend sein, vor allem wenn man die dargebotenen Informationen hinterfragt und nicht blind akzeptiert. Das ist manchmal von entscheidender Bedeutung. Aber: ‚Neugierde ist der Katze Tod‘, wie man so schön sagt.« Cedrik räusperte sich umständlich. Er erhob sich, verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging langsam vor seinem Schreibtisch auf und ab. »Deine Neugierde ist nicht zu bremsen, andererseits halte ich dich für eine begabte Schülerin. Da dir — und nicht nur dir! — der unbedachte Umgang mit den meisten Schriften hier sehr schnell zum Verhängnis werden könnte, würde ich dich gerne als meine Privatschülerin annehmen, dein Einverständnis vorausgesetzt.« Er pausierte und suchte sichtlich nach Worten. »Trevor ist inzwischen weit genug — und auch für meinen Geschmack zu arrogant —, sodass er nun seinen eigenen Weg gehen und seine Berufung finden muss.«

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Chrysalis konnte ihr Glück kaum fassen. Aber sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht lauthals über die Ironie des Schicksals zu lachen, hatte sie doch höchstselbst — wenn auch unter anderem Namen und mit anderem Aussehen — vor nunmehr fast 30 Jahren einen jungen Lausbuben namens Cedrik ans Kollegium begleitet und ihm bei der Eingewöhnung geholfen.

Cedrik hob warnend die Hand. »Freu‘ dich nicht zu früh, das wird kein Honigschlecken! Du wirst mich noch vor Ablauf dieses Mondes von tiefstem Herzen verfluchen und dir wünschen, nie etwas von der Weißen — und erst recht nicht von der Schwarzen! — Magie gehört zu haben.

Auf dich kommen anstrengende und meist recht langweilige Übungen zu, die du allesamt gemeistert haben musst, bevor du auch nur eine einzige der Schriftrollen öffnen darfst, die dich so brennend interessieren. Wenn du damit nicht zurechtkommst, bedeutet dies das Ende deiner Karriere, und du wirst Zeit deines Lebens über den Stand einer Kräuterhexe nicht hinauskommen.« Cedrik blickte seine Schülerin forschend an.

Chrysalis schluckte schwer. Gar so schwierig hatte sie sich den Zugang zu den verlockenden Geheimnissen der Bibliothek nicht vorgestellt. Aber sie wusste natürlich, dass die höheren Weihen der Magierzunft nicht ohne Preis zu erreichen waren. Allerdings hatte sie dabei immer an heldenhaft zu bestehende Prüfungen und Abenteuer gedacht, und weniger an langwierige Übungen und strenge Enthaltsamkeit. Davon hatte sie wahrlich schon genug gehabt.

Cedrik schmunzelte wohlwollend. »Nun wirf nicht gleich das Handtuch. Aber wie schon das alte Sprichwort sagt: ‚Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.‘«

Der Magier lehnte sich gemütlich an ein Regal und erging sich in einer weitschweifigen Erläuterung aller Hürden auf dem langen und steinigen Weg zum Magiermeister. Endlich beendete Cedrik seinen Vortrag und meinte entschuldigend: »Das hat sich jetzt ziemlich abschreckend angehört, oder? In der Regel fällt es einem nicht so sonderlich schwer, bei der Stange zu bleiben. Auch kleinere Erfolge werden schon reichlich belohnt.

Am schwersten ist eigentlich der Schritt vom kleinen Lehrling zum Gesellen, und an dem scheitern auch die meisten.« Cedrik stutzte kurz. »Das heißt natürlich, an der Gesellenprüfung scheitern die meisten der wenigen, die überhaupt noch scheitern. Wir nehmen ja schließlich nur aussichtsreiche Kandidaten auf, die Spreu wird vom Weizen bereits zu Beginn der Lehrlingszeit getrennt.«

Chrysalis fand es dennoch nicht einfach, ihre Berufung zur Privatschülerin noch so begeistert aufzunehmen wie wenige Minuten zuvor. Würde es weitere zwanzig Jahre dauern, bis sie endlich Zugang zu den alten Schriften erhielt und das Geheimnis ihrer Herkunft ergründen könnte?

Cedrik missverstand ihre Ernüchterung und versuchte ungeschickt, sie zu trösten: »Ich habe für die erste Aufgabe, die mein Meister mir damals gestellt hat, mehr als ein halbes Jahr gebraucht. Und heute bin ich einer der angesehensten Magier an dieser Schule. Du wirst es sicher auch einmal so weit bringen!«

Chrysalis war davon nicht ganz überzeugt und hielt den Blick gesenkt, um sich ihre Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen.

Cedrik legte ihr begütigend die Hand auf die Schulter und geleitete sie zur Tür. »Dies war wohl etwas überraschend für dich. Am bestem schläfst du erstmal über mein Angebot, und wir unterhalten uns in den nächsten Tagen noch einmal darüber.«