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Vera - Ein Abentuer ins Ungewisse [German]
Kapitel 62: Zaubern will gelernt sein

Kapitel 62: Zaubern will gelernt sein

Mit der Geschwindigkeit einer betrunkenen Hummel schwebt mein Rindenschild von links nach rechts. Im Gegensatz zur zweiten Aufgabe, welche vor allem das richtige Timing erfordert, dreht sich die dritte Herausforderung um Konstanz. Mein aktueller Plan ist es, bis zum Eintreffen der naturverbundenen Tränke die Dauer meiner Rindenschild-Fertigkeit Stück für Stück zu erhöhen. Wie fühlt es sich überhaupt an, einen Zauber über eine lange Zeit aufrechtzuerhalten? Der Praxistest wird es mir sicherlich verraten. Je nach aktueller Tagesform kann ich 10 bis 12 Manatränke zu mir nehmen, ohne mit schlimmeren Konsequenzen rechnen zu müssen. Mit dieser Menge sollte es mir locker möglich sein, meinen Zauber eine Stunde lang aktiv zu halten.

Am fünfzehnten Tag meiner Rangaufstiegsmissionen kehrt Marco aus Turbingen zurück. Mein aktueller Rekord liegt bei irgendwas um die 38 Minuten. Die ersten Dutzend knacke ich mittlerweile ohne Probleme. Ab der Zwanzigsten fangen jedoch die Schwierigkeiten an. Deine Konzentration sackt für einen Moment ab? Der Zauber bricht zusammen. Du nimmst einen neuen Trank zu dir und dein Frühstück möchte dir nochmal Hallo sagen? Der Zauber bricht zusammen. Obwohl ich täglich nicht mehr als zwei Versuche machen kann, fühle ich mich im Anschluss völlig erschöpft. Das andere Klassen über Fertigkeiten verfügen, welche sie minutenlang nutzen können, ohne dass ihnen auch nur eine Schweißperle auf der Stirn steht, ist eine absolute Frechheit!

Ich könnte aber andernfalls auch verstehen, wenn sich Abenteuer über die Anzahl der Fertigkeiten von Magiern aufregen würden. Im Endeffekt hat jede Kategorie von Klasse nunmal ihre eigenen Vor- und Nachteile, mit denen man leben muss.

Naturverbundene Manatränke sehen nicht viel anders als ihre Verwandten aus. Statt dem einheitlichen Blau ziehen sich durch dieses Gebräu jedoch hauchdünne, grüne Streifen.

naturverbundener Manatrank

Eine bläulicher Trank in einer Glasphiole. Löst beim Konsum zwei Effekte aus.

Effekt 1

Stellt bis zu 198 Mana wieder her.

Effekt 2

Gewährt eine Stunde lang “Segen der Natur”.

Seltenheit

ungewöhnlich

Segen der Natur ist eine Verstärkung, mit der Natur-Fertigkeiten 25% weniger Mana kosten. Klingt für mich nach einer sehr nützlichen Eigenschaft, weshalb ich mir nicht vorstellen kann, dass die Fläschchen billig waren. Fünf Kisten mit jeweils 22 Phiolen hat der Anführer der Sira-Gilde für mich ergattern können. Allerdings hat Marco aber Recht damit, wenn er sagt, dass Schulden mir erst einmal egal sein müssen. Wer nicht bereit ist, in seine Zukunft zu investieren, wird auch nicht vorankommen.

In meinem nächsten Versuch probiere ich die erste Phiole aus. Statt vier Mana aller neun Sekunden, sind es nun drei. Klingt auf den ersten Blick nicht nach viel, über mehrere Stunden hinweg gesehen bedeutet dieser kleine Unterschied jedoch eine Menge. Geschmacklich ist das Gebräu ebenfalls eine deutliche Verbesserung. Am Besten würde ich es wohl mit einem dickflüssigen, merkwürdigen Salatblatt vergleichen. Mein Magen ist sich ebenfalls noch nicht ganz sicher was die neue Kost angeht, aber das fehlende Brechreiz-Gefühl ist schonmal ein gutes Zeichen. Mit meinem begrenzten Vorrat werde ich dennoch nicht auf die normalen Tränke verzichten können. Mir bleiben noch etwa 25 Tage, um die Aufgabe zu bestehen. Ich werde mich täglich erstmal mit einer Flasche des Wundermittels begnügen und sehen, wie das Training so vorankommt.

Am nächsten Tag knacke ich das erste Mal die 60 Minuten Marke. Verringerte Manakosten bedeuten automatisch eine niedrigere, mentale Belastung. Gleichzeitig trägt ein erhöhtes körperliches Wohlbefinden ebenfalls positiv zu diesem Erfolg bei. Was man doch alles erreichen kann, wenn einem nicht permanent kotzübel ist.

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Stundenlanges Training fördert in den nächsten Tagen auch weitere Resultate. Ich lerne, mein Leben etwas zu entschleunigen. Mir ist bewusst geworden, dass je ruhiger und entspannter ich bin, desto länger kann ich mein Rindenschild aufrechterhalten. Ob es sich bei dieser Erkenntnis jedoch um eine generelle Magier-Regel handelt, ist schwierig zu sagen. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass eine Annabell Lester erstmal eine halbe Stunde lang versucht, ihren Puls herunterzufahren, bevor sie einen Zauber wirkt.

Ein Schüler der Magierakademie wüsste bestimmt die Antwort auf diese Frage. Generell jemanden zu haben, der sich mit der Thematik auskennt, wäre äußerst hilfreich. Die Mitglieder der Sira-Gilde können nunmal in vielen Belangen nicht mit einer großen, speziell ausgerichteten Institution mithalten. Trotzdem versucht auch hier jeder, mir nach seinen Möglichkeiten weiterzuhelfen.

Sowohl Krieger, Bogenschützen aber auch ein Koch kommen in Situationen, die lang anhaltende Konzentration erfordern. Alleine davon zu hören, wie sie damit umgehen, gibt mir ebenfalls die Möglichkeit, besser mit meiner Aufgabe zurechtzukommen. Nach 25 Tagen harten Trainings fliegt mein Schild mittlerweile recht zügig von A nach B. Selbst in der Bewegung behalte ich eine gute Kontrolle über meine Fertigkeit. Den Zauber jedoch außerhalb meines Sichtfeldes zu bewegen fällt mir immer noch schwer. Trotzdem wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis ich auch das flüssig hinbekomme. Tag 29 knacke ich die vier, Tag 35 die fünf Stunden Marke.

Trotz der stetigen Erfolge bleibt die Herausforderung eine verdammt harte Nuss. Die letzten Minuten noch oben drauf zu packen ist unfassbar schwierig. Es ist, als würde man einen Berg hinaufsteigen, welcher auf einmal wesentlich steiler wird. Um diese letzte Hürde zu meistern, entscheide ich mich für einen riskanten Schritt. Tag 38 und 39 übe ich nur jeweils zwei Stunden lang und gönne ansonsten meine grauen Zellen ein wenig Ruhe.

Mein Ich vor Beginn der Herausforderung wäre vermutlich außer sich über so eine Entscheidung. Doch mittlerweile verstehe ich besser, wie wichtig Pausen sind. Um einen Schritt nach vorne zu gehen, muss man manchmal auch einen zurück machen.

16 Stunden, 24 Minuten und 19 Sekunden sind noch übrig. Von den 110 naturverbundenen Tränken bleiben mir noch 21 Phiolen, um mein Ziel zu erreichen. Alles ist so arrangiert, dass in absehbarer Zeit niemand in die Nähe dieses Raumes kommen wird. Meine Bestleistung ist zwar fast eine halbe Stunde von der geforderten Zeit entfernt, aber ich habe Vertrauen in mich selbst. Mein Körper ist entspannt, mein Geist ausgeruht, es kann losgehen.

Damit ich die Zeit einigermaßen im Blick behalten kann, wird mir Maria alle dreißig Minuten eine Nachricht schicken. Fast wie von selbst erscheint plötzlich ein Rindenschild neben meinem Gesicht und die sechs Stunden laufen.

Nach etwa zwei Stunden beginnt die erste Hürde. Das Schild frei zu bewegen geht nicht mehr so flüssig von der Hand. Vor allem schnelle Manöver werden langsam anstrengend. Vier Stunden dauerzaubern führen dazu, dass ich die Fertigkeit nur noch über kurze Strecken verschieben kann. Größere Bewegungen führen ab diesem Punkt zu stetig wachsenden Kopfschmerzen. Nach fünf Stunden hängt der Zauber wie festgefroren in der Luft. Für jegliche Art von Bewegung fehlt mir die Energie. Meine ganze Konzentration ist darauf ausgerichtet, dass der Schild nicht jeden Moment in seine Einzelteile zerspringt.

Trotz der angenehmen Raumtemperatur schwitze ich wie ein Wahnsinniger. Die Sicht vor meinen Augen droht mehrfach zu verschwimmen, doch ich behalte das Objekt meiner Begierde fest im Blick. Deutlich fallen mir die feinen Risse auf, welche sich zusehends ausbreiten. Den Zauber zusammenzuhalten ist eine mentale Herausforderung sondergleichen. Mir ist kotzübel und mein Kopf fühlt sich an, als würde ihn jemand mit einem Hammer bearbeiten. Dennoch greife ich zum nächsten Trank und leere die Phiole, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur noch ein bisschen länger.

Ich öffne die Augen und sehe eine leicht besorgt drein schauende Maria. Das hier ist nicht das Zimmer, in dem ich noch eben war. Reflexartig versuche ich mich aufzurichten, doch mein Körper fühlt sich schwach an. “Was ist passiert?” frage ich noch leicht durcheinander die Bogenschützin. Maria wirkt erleichtert: “Nachdem du nach Ablauf der Zeit auf keine meiner Nachrichten reagiert hast, haben wir nach dem Rechten gesehen. Einen bewusstlosen Magier aufzufinden, der aus den Augen und Ohren blutet, hat uns einen mächtigen Schrecken eingejagt.” Ein schneller Blick auf meinen Status bestätigt, dass mir etwas mehr als ein Drittel meiner Lebenspunkte fehlen. Kein Wunder, dass ich mich wie ein verprügelter Sack Kartoffeln fühle. “War nicht meine Absicht”, murmel ich. “Hat sich der Aufwand wenigstens gelohnt?”, fragt Maria neugierig. Ich überprüfe mein Missionsfenster, finde aber nur noch drei Einträge vor. “Jop, eins zu null für mich.”

Insgesamt brauche ich vier volle Tage, um mich von den Strapazen meines letzten Versuches zu erholen. Auch wenn es vielleicht offensichtlich sein mag, als Rang 1 Magier einen Zauber sechs Stunden lang wirken zu wollen, ist eine unfassbar dämliche Idee. Du brauchst, neben einer Prise Talent, enorme finanzielle Mittel, jede Menge Zeit, einen robusten Magen, einen starken Willen und selbst dann ist dir der Erfolg alles andere als gewiss. Selbst der Anblick von Manatränken löst bei mir mittlerweile ein flaues Gefühl aus. Wenn das die Messlatte für meine Rangaufstiegsmissionen ist, blühen mir ein paar sehr anspruchsvolle Wochen und Monate.