Die Welt war wie ein leerer, weißer Raum. Das Rauschen des Windes und das Knirschen des Schnees unter ihren Pfoten übertönten alles andere, selbst ihre eigenen Gedanken. Erst als Elyon einem hohen Felsen, der ihr im Weg stand, ausweichen musste, war es, als hätte sie jetzt erst seit langem wieder einen klaren Gedanken. Als könnte sie endlich wieder ihre Umwelt klar wahrnehmen.
Und damit kamen auch die Fragen. Warum galoppierte sie so schnell? War es eine Flucht? Eine Jagd? Wo war sie überhaupt?
Elyon kam schlitternd zum Stehen und blickte um sich. Die Welt war gestochen scharf, auch wenn die Farben irgendwie falsch wirkten. Bräunlicher, gelblicher. Als sie hinter sich blickte, tauchte der hintere Teil eines schwarzen Wolfskörpers in ihr Sichtfeld auf. Dahinter zog sich eine lange Spur, die ihre vier Wolfspfoten hinterlassen hatten.
Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Elyon hatte sich verwandelt. War aus dem stickigen Raum geflüchtet, nachdem Gustaf ihr über Aik erzählt hatte.
Elyon seufzte. Ihr Fell sah nicht natürlich aus. Es waren keine einzelnen feinen Haare, sondern leicht wabernde Schatten, als würde sie ein Nebel umgeben, der nur so tat, als wäre er Fell. Sie war in einer korrupten Wolfsgestalt. Schnell fühlte Elyon nach der Gabe in ihr, doch diese schien so mit ihren eigenen Gliedern, mit ihrem eigenen Blut verwoben, dass sie nicht danach greifen konnte. Ihre zweite Haut lag über ihren Körper wie ein gut sitzendes Kleidungsstück. Als wäre es ihr eigener. Anders als in ihren Lektionen mit Wotan, war es ein Leichtes, diesen Körper zu erhalten.
Die kalte Winterluft wehte Elyon entgegen, gemischt mit einem Duft von Tannen. Das endlose Weiß wurde hier und da von einer Gruppe Nadelbäume unterbrochen, oder einem herausragendem Felsen. Die Stadt war nicht zu sehen. Doch wenn Elyon ihre Schnauze hochhielt und in der Luft schnupperte, konnte sie die Wächterstadt riechen. Ein entfernter Geruch nach Rauch, Gestein und dem Schweiß von Menschen.
Ein Stich durchfuhr ihre Brust. Elyon wusste, dass sie zurückkehren musste. Sich mit den anderen zusammensetzen und einen Plan ausdenken. Eine Lösung für den Fluch finden. Und selbst wenn sie sich weigerte, wusste Elyon nicht, wann sie ihre Wolfsgestalt verlieren würde. Und in ihrem menschlichen Körper, würde sie hier nicht lange überleben können, nur mit ihrer Stadtkleidung und ohne ihre Sicht, in einer unbekannten Wildnis.
Doch Elyon konnte keine einzige Pfote bewegen. Als wären sie vereist. Elyons Körper zitterte. Nicht der Wolfskörper, ihr eigener, begleitet von einer schmerzenden Gänsehaut.
Ihre Gedanken wurden wieder träge, als würde etwas anderes sämtliche Willenskraft aus ihrem Kopf heraus saugen und sie davon abhalten, auch nur einen weiteren Augenblick dafür zu verschwenden, sich Sorgen zu machen.
Elyon seufzte und gab sich der Schwere hin, die sie überfiel und ließ ihre Gestalt in den Schnee herabsinken. Ihr Fell war nicht echt, doch es sorgte für Wärme und sie konnte sich beruhigt der Müdigkeit hingeben und ihre Augen schließen und wieder alles vergessen.
Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre alles friedlich, als müsste sie sich um nichts Sorgen machen, bis eine Stimme ihre Ohren zum Klingeln brachte und jemand sie heftig schüttelte.
Elyon stöhnte genervt und weigerte sich, die Augen zu öffnen, doch als ein lautes Winseln die Stimme übertönte, schreckte sich auf. Kaum öffnete sie die Lider, fuhr eine warme Zunge über ihr Gesicht. Valka.
Elyon, Elyon!
Die Stimme der weißen Fähe drang in ihren Kopf hinein und vertrieb jegliche Schwermut der Korruption hinfort. Elyon schnappte nach Luft und saß zitternd da, umgeben von Schnee und Valkas schwerem Körper, während Finan keuchend dicht neben ihr saß, sein Gesicht vor Sorgen verzerrt.
»Willst du mich in meiner Blüte noch ins Grab bringen?! Weißt du, wie viele Sorgen ich mir gemacht habe? Mach das nie wieder!«, brüllte er wütend und außer Atem.
Da es Finan war, nahm Elyon sein Geschimpfe nicht ernst und versuchte aufzustehen. Ihr menschlicher Körper war zurück, das schwarze Fell spurlos verschwunden. Ihr fehlender Arm pochte vor Phantomschmerzen und ihre Sicht konnte in der weißen Weite nur Finans roten Mantel und Valkas schwarze Schnauze erkennen.
Finan schimpfte weiter auf sie ein, während er in seiner Tasche herumwühlte und ihr gleichzeitig aufhalf. Im nächsten Augenblick landete ein schwerer Umhang auf ihren Schultern, den Finan für sie zuband.
»So, da ich jetzt meine Wut herausgeschlüpft habe, kannst du mir bitte verraten, was passiert ist? Das ist nicht wieder ein Versuch von dir, dich ...«
Elyon schüttelte heftig den Kopf, wodurch ihr kurz schwindelig wurde. Sie schloss die Augen und hielt ihre Hand an die Stirn. Sie hatte keine Muße zu reden, doch eine Erklärung war der schnellste Weg, um Finan wieder zum Schweigen zu bringen.
»Ich weiß nicht. Es war zu viel.«
Für einen Moment, der sich unangenehm lang anfühlte, sagte er nichts.
»Das, was Gustaf erzählt hat? Dass er will, dass wir Aik finden müssen?«, sagte Finan schließlich.
Elyon nickte. »Ich hatte zu viele Bauchschmerzen.«
»Ja, das kann ich gut verstehen.« Finan seufzte und fummelte an ihrem Mantel herum, als würde er ihn so ordentlich wie möglich richten wollen.
»Das mit der Verwandlung, in den schwarzen Wolf, war das mit Absicht?«, fragte er weiter.
Wieder schüttelte Elyon den Kopf.
»Verdammt. Also hat es dich einfach überkommen?«
Elyon nickte und streckte ihre Hand aus. Finan nahm sie und legte sie um seinen Oberarm. Jetzt wo er und Valka hier waren, wirkte die weiße Landschaft weniger bedrohlich, weniger verwirrend.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie.
Finans Tasche raschelte, während er in ihr herumwühlte.
»Valka. Ich bin sofort, nachdem du verschwunden bist, in dein Zimmer gelaufen, bin dann auf ihren Rücken gesprungen und habe mich von ihr hierher bringen lassen. Ich wusste, dass sie dich finden würde.«
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Elyon kraulte Valka, die dicht neben ihr lief.
»Hier, trink das, es müsste noch warm sein.«
Elyon ließ Finans Arm los, nahm den Wasserschlauch entgegen und nahm tiefe Schlücke von dem warmen Kräutertee.
»Ich vermute nur, dass Valka uns nicht beide wieder zurücktragen kann. Das wird ein langer Marsch«, seufzte er.
Elyon überlegte fieberhaft, wie lange wohl die Sonne noch scheinen würde. Hier in Gerwenen war während den Wintermonaten das Tageslicht knapp.
»Wir finden schon wieder zurück. Vielleicht schicken sie einen Suchtrupp. Ich halte Ausschau nach den Flugtieren aus der Wächterstadt.«
Elyon griff nach Valkas Fell und wollte sich von ihr führen lassen, als diese stehen blieb und so laut knurrte, dass Elyons ganzer Arm bebte.
Sie blickte in alle Richtungen, bis sie einen großen schwarzen Fleck zwischen ein paar Bäumen entdeckte. Ein eiskaltes Gefühl packte ihr Herz. Gleichzeitig durchfuhr sie ein schmerzhafter Schauer, dem eine Gänsehaut folgte.
»Was um alles in der Welt ...?«, wisperte Finan dicht neben ihr.
»Korruption?«, wisperte Elyon scharf.
Finan schluckte nur.
Valkas Knurren wurde immer lauter und verzerrter, als versuchte sie das Wesen mit ihren Stimmbändern, statt mit ihren Zähnen zu zerreissen.
Ein heftiger Hitzestrom traf auf Elyons Wange. Finans Hände leuchteten rötlich und er trat vorsichtig einen Schritt auf das Schattenwesen zu, während Valka ihr nicht von der Seite wich und weiter knurrte.
Zum ersten Mal war Elyon dankbar, dass sie nicht gut genug sehen konnte. Allein die Gegenwart des Ungeheuers vor ihr war genug, um die ganze Luft schwer und kalt werden zu lassen, wie ein dichter Nebel, der durch ihre Kleidung in ihre Glieder kroch und ihr Herz wie eine eisige Hand packte.
»Wenn wir Glück haben«, wisperte Finan mit zitternder Stimme, »ignoriert uns das Ding und zieht einfach weiter.«
Doch das Ding zog nicht weiter. Es hechelte laut, schnupperte in der Luft und leckte seine Lefzen. Elyon konnte sogar den Geifer hören, wie er von dem Maul auf den Schnee tropfte.
Valkas Knurren erstarb und im selben Augenblick, stürmte der Schatten hinauf in die Luft, wie eine riesige Wolke und stürzte so schnell auf sie herab, dass Elyon nicht rechtzeitig ihre Beine bewegen konnte.
Valka stieß sie zur Seite, Elyons verschwommene Sicht sah wieder nur Weiß um sie herum, während eine so heftige Hitze sie von allen Seiten plötzlich umgab, dass Elyons Gesicht kurz davor stand zu verbrennen.
»Elyon!«, rief Finan.
Sie sprang auf die Füße und fühlte nach Valka.
»Ich bin hier!«, rief sie und sprang auf Valkas Rücken, die sie in Finans Nähe brachte.
Eine flammende Wand und Decke umgab sie wie ein Zelt und hielt das Ungeheuer fern, das zurückgesprungen war und so laut kreischte, dass es in Elyons Ohren stach. Durch die Flammen konnte Elyon erkennen, wie das Schattenwesen um die Flammen hin und her raste, als würde es nach einer Öffnung durch das Feuer suchen.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie Finan.
»Ja, ich weiß nur nicht, wie lange ich mein Feuer halten kann, bis das scheußliche Vieh endlich abhaut.«
Elyon verstand. Finan lernte wie sie gerade noch seine Gabe zu benutzen. Und genau wie sie, hatte auch er nicht die gleiche Menge an Kondition, um sie so lange zu nutzen.
Valka konnte sie nicht zu zweit durch den Schnee tragen. Nicht schnell genug, um dem Schattenwesen zu entkommen. Sie wussten nicht, wie lange die anderen Wächter brauchen würden, um sie zu erreichen, wenn sie überhaupt schon unterwegs waren, um nach ihnen zu suchen. Elyon musste Finan anders helfen.
Eine Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Stechend, wie tausend Nadeln durch ihre Adern. Diese kam nicht von Finans Feuer. Es war ihre Gabe. Ihre korrupte Gabe. Elyon hatte keine andere Wahl. Selbst wenn ihre Gabe Elyons Verstand übernehmen konnte, sie in genauso ein gedankenloses Wesen verwandeln konnte, wie das kreischende schwarze Ungeheuer vor ihnen, Elyon sah keinen anderen Ausweg, um Valka und Finan zu schützen.
Valka winselte, als Elyon wieder von ihrem Rücken abstieg. Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Augen und ließ der korrupten Gabe in ihrem Körper freien Lauf.
»Elyon, was um alles ...?«
Sie hörte Finan nicht mehr. Es gab nur noch ein lautes Rauschen, wie ein stürmender Wind und Schwärze, die Elyon wie ein Kokon umgab.
In ihrem Kopf verschwanden alle Gedanken und Bilder, außer eines. Das Bild der Seefalken von den Sturminseln. Die geschickten Jäger, die sie so oft für ihren Vater gefangen und gezähmt hatte.
Elyon wurde von ihrer Gabe übermannt und als ihre Gestalt vollendet war, packte ein wilder Instinkt ihren Verstand, gesteuert durch ihre Gabe und geformt durch ihre vergangenen Verbindungen zu den Greifvögeln.
Kreischend schlug sie mit den Flügeln. Ihre Augen, die nun gestochen scharf sahen, hängten sich an der schwarzen Gestalt direkt ihr gegenüber und ließen den Feind nicht mehr los. Ein riesiges Wesen, größer als die Tannenbäume um sie herum, mit einem Pferdeschädel als Kopf, aus dem verfaulte Baumäste wuchsen. Mit leeren Augen suchte das korrupte Wesen immer noch nach einer Öffnung im Feuer. In diesem Augenblick lichtete sich die brennende Wand und Elyon sprang in die Luft, um sich sofort mit ihren Krallen auf das Wesen zu stürzen, auf dem Kopf zielend, der gerade zu ihr hinaufblickte.
Die Schattenkorruption wich mit einem geschickten Schwenker aus, duckte sich und sprang wie ein Frosch hoch. Blasse Hände mit schwarzen Krallen schossen ihr entgegen, gefolgt von einem Körper, der wie ein unförmiger Berg wirkte, bedeckt mit fauligem schwarzen Moos. Das Wesen bewegte sich viel zu schnell für einen so schwer wirkenden Körper. Elyon wicht dem Ungeheuer mit einem kräftigen Flügelschlag aus und kreischte es wütend an.
»Elyon! Spar dir den Kampf! Lass uns fliehen!«, rief Finan.
Etwas in ihr wollte weiterkämpfen. Wollte dem hässlichen Wesen an den Kragen, es mit ihren Krallen und scharfen Schnabel zerreißen. Doch Finans Stimme brachte Elyons eigenes Bewusstsein zurück. Zumindest so weit, dass es sie dazu brachte von dem Schattenwesen abzulassen und Richtung Finan zu fliegen. Er sprang an ihr hoch, krallte sich an ihre Brust fest, während Elyon mit ihren großen Krallen nach Valka packte und sich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen vom Boden entfernte.
Zu ihrem Glück konnte die grölende Bestie unter ihnen nicht fliegen. Für ein paar Augenblicke, verfolgte sie Elyon noch, doch es dauerte nicht lange, als Elyon die Türme des Eispalastes entdeckte, und die Korruption ließ von ihnen ab.
Elyon wollte gerade wieder den Blick nach vorne auf die Stadt richten, als sie zwei weiße, riesige Vögel im Himmel entdeckte. Der Kopf war wie der eines Adlers, doch der restliche Körper rund und bauschig wie der einer Schneeeule. Die Flugtiere der Wächter. Auf einem von den edlen Tieren saßen James Harlow und Bo Cheng, auf dem anderen Wotan und eine weitere Gestaltwandlerin.
Die Schneefedervögel kreischten und ihre Federn stellten sich auf, sobald sie Elyons Blick begegneten. Sie musste den Tieren zeigen, dass sie keine Gefahr war, was wahrscheinlich so gut wie unmöglich war, denn Elyon vermutete, dass ihr eigener Körper nicht gerade eine Schönheit war und ähnlich bedrohlich wie das Ungeheuer, dem sie gerade entkommen waren.
Elyon entschloss sich dazu, den schneebedeckten Boden anzusteuern. Sobald sie Valka behutsam in der hohen Schneedecke abgesetzt hatte, kletterte Finan ihren Rücken hinunter und sprang ab, sobald Elyon selbst mit den riesigen Falkenfüßen wieder im Schnee stand.
Die Schneefedervögel folgten ihr nach und schon bald stand die restliche Gruppe um sie. James und die anderen rannten zu Finan und stellten sich schützend um ihn.
»Ist alles in Ordnung? Was ist passiert? Wo ist Elyon?«, fragten alle durcheinander, außer der Gestaltwandlerin, die Elyon misstrauisch beäugte.
»Elyon steht hinter mir«, sagte Finan und zeigte auf sie.
Alle Blicke zuckten zu Elyon und sobald sie verstanden hatten, wer sie war, machten die Männer erschrockene Gesichter.
Elyon schluckte und schloss kurz die Augen und wünschte sich ihre menschlichen Augen zurück. Wotans verzerrtes Gesicht war wie ein Stich in ihrer Brust. Als hätte sie ihn zutiefst enttäuscht und seine ganze Lehre missachtet. Sie wandte sich von ihnen ab und überließ Finan das Berichten.