Finan sagte nichts mehr. Es war zu dunkel, um irgendwelche Umrisse erkennen zu können. Sie schluckte schwer und versuchte das heftige Rauschen und Klopfen in ihren Ohren zu ignorieren und horchte stattdessen auf die Stimmen vor ihr.
Elyon konnte keinen einzigen Laut verstehen. Die Stimmen waren leicht aufgebracht, als wären sie neugierig oder verwirrt.
»Klingt nicht so, als würde ihre Sprache auch nur ansatzweise unserer ähneln«, sagte Finan. Die Stimmen vor ihnen erstarben für einen Moment. Dann laute, überraschende Rufe.
»Sie haben jetzt zumindest ihre Bogensehnen entspannt. Einer von ihnen kommt gerade auf uns zu. Ein Mann mittleren Alters.«
»Höhental?«, klang es in einem sehr harten Akzent. Es erinnerte sie daran, wie Aik sprach.
»Ja! Höhental!«, sagte Finan.
Der Mann rief den anderen etwas zu, ein paar Gespräche entstanden, die Worte rollten in so einer Geschwindigkeit in ihr hinein, dass Elyons Ohren pochten.
»Du hast nicht zufällig ihre Sprache in diesen letzten Augenblicken gelernt, oder?«, fragte Finan.
Sie sah kurz über ihre Schultern und blähte ihre Nasenflügel auf. Was für Fantasien hatte dieser Prinz nur?
»War ja nur eine Frage. Du saugst sonst Wissen auf als wärst du ein Schwamm. Wenn man nach Gerüchten geht.«
Elyon seufzte und drehte sich wieder nach vorne. Sie konnte. Früher. Doch ihre Augen waren dabei ihr wichtigstes Werkzeug gewesen. Ohne sie, konnte Elyon nichts sehen und lesen, nicht schreiben oder zeichnen. Wie sollte sie neue Dinge lernen? Wie sollte sie Gefahren erkennen und aus dem Weg gehen? Ihr Herzschlag erschütterte ihren Körper und Elyon drückte ihre Finger gegen die schmerzende Brust.
Jesko winselte, die Muskeln unter ihren Knien zuckten, als er seine Ohren hin und her bewegte.
Elyon nahm tief Luft und ignorierte ihre Sorgen. Sie mussten irgendwie mit den fremden Menschen reden, um Unterkunft zu bekommen. Die Kälte kroch durch Elyons Mantel. Ein warmer Ort war wichtiger, als ihre schweren Gefühle. Sie konnte nicht ihre Augen benutzen. Doch vielleicht konnte der Prinz helfen.
»Kannst du zeichnen?«, fragte Elyon.
»Zeichnen? Wie kommst du darauf? Aber ja, wenn du schon so fragst, ich bin sehr gut im Zeichnen. Nicht so gut wie mein Kunstlehrer, doch genug um es in die Kunstsammlung meines Vaters zu schaffen, und zwar ...«
Elyon ignorierte sein Geschwafel und trommelte leicht mit den Fingern auf Jeskos Stirn, der sich sofort ins Gras legte.
»Warte, was hast du vor?«
»Du zeichnest. Woher wir gekommen sind. Reise. Und brauchen Unterkunft.«
Elyon beugte sich nach vorne, schnappte mit ihrer Hand nach einem Bündel von Jeskos Fell und kletterte die Seite des Drachen hinunter. Dann als, sie mit ihrer Fußspitze den Boden spürte, löste sie ihre Hand, landete auf den harten Erdboden und streckte ihre halbtauben Beine.
»Wie soll ich bitte das alles zeichnen?«
»Mir egal. Papier und Kohle in der Tasche.«
»Nein! Das ist viel zu wertvoll! Der Boden dort vorne sieht lockerer aus. Ich nehme einfach ein Messer und zeichne dort.«
Das war ihr auch recht. Sie blieb an Jeskos Seite und ließ Finan machen. Die Stimmen waren wieder verstummt. Elyon rechnete damit, dass sie den Prinzen beobachteten. Elyon schluckte wieder und knüllte den Saum ihres Ärmels in ihrer Hand zusammen. Würde alles gut gehen? Konnte Finan wirklich zeichnen? Würden die Fremden ihn verstehen? Was wenn sie ihnen keine Unterkunft geben wollten?
Wieder riss ein Winseln Elyon von ihren Gedanken los. Was war mit ihr? Sie machte sich sonst keine unnützen Sorgen. Es musste an ihrer fehlenden Sicht liegen. Ihrer fehlenden Hand.
Elyon rieb sich die brennenden Augen und wartete. Hörte dem Kratzen zu, das nicht weit von ihr aus Finans Zeichnungen stammen musste. Den leisen Stimmen die miteinander leise Rat hielten.
Jesko kam schnuppernd näher und berührte sie sanft an der Schulter. Elyon kraulte sein weiches Kinn und fokussierte sich auf die Wärme, die von seinem Körper ausging. Sein warmer Atem umhüllte sie und taute Elyons vereiste Nase auf.
»Elyon! Es hat geklappt! Ich denke, dass sie uns mit in ihre Siedlung nehmen werden.«
Sie nickte nur, ob Finan es sah oder nicht, konnte sie nicht wissen. Ihre Hand tastete nach Jeskos Seite, um sich an ihm festzuhalten.
»Willst du aufsitzen?«, fragte Finan.
Elyon schüttelte den Kopf. Ihre Beine prickelten immer noch vor Taubheit und Elyon hoffte, dass das Laufen ihr weniger Möglichkeiten geben würde, sich in irgendwelche Gedankenstrudel zu verlieren.
»Soll ich dich führen?«
»Nein, danke.«
»Nun, Jesko ist eh wärmer. Ich gehe trotzdem vor, um die Männer im Auge zu behalten und die Gegend zu beobachten.«
Bald entfernten sich Finan und Jesko setzte sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten, stellte sie fest, dass es immer dunkler wurde und sie somit kaum noch etwas erkennen konnte. Sie hätte mit Finan gehen sollen. Er hätte ihr die Gegend beschreiben können. Was die Männer taten. Sie konnte nicht einmal schemenhaft etwas sehen. Keine Farben. Ihre Sicht war nicht völlig schwarz, doch sie zeigte ihr nichts. Gar nichts.
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Ein Stechen fuhr durch ihre Brust, das dort hängen blieb und mit jedem Atemzug wiederkam. Ihr Magen gurgelte und ihr Mund schmeckte sauer. Hinzu kam noch die beißende Kälte. Alles was fehlte, war der Druck und der Geschmack von Meerwasser. Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust.
Elyon grub ihre Finger tiefer in das Drachenfell, achtete auf Jeskos Wärme, auf den Klang seiner Schritte. Sie war nicht im Meer. Sie war nicht im Wasser. Auch, wenn es dunkel war. Sie konnte alles noch klar hören. Die Kälte war anders als im Wasser. Der Boden hielt sie. Der Geruch von Tannen umgab sie.
Jesko winselte leise. Schritte kamen näher.
»Was ist los? Du siehst sehr blass aus«, fragte Finan.
Elyon nahm tief Luft. »Noch lange?«
Er schwieg zuerst, vielleicht weil er überlegte, was ihre Frage bedeutete. Gerade, als Elyon einen längeren Satz von sich geben wollte, sprach er.
»Wir sind gleich da. Ich kann das Tor bereits sehen und eine Ansammlung von Holzhäusern, mit sehr bunten Dächern, genauso bunt, wie die Kleidung der Einwohner. Ich sehe Rauch aus den Schornsteinen steigen.«
Bunt? Warum waren die Dächer und Kleidung bunt? IN der Wildnis war dies ein äußerst gefährlicher Zug, außer es ging um männliche Tiere, die sich in Brunft befanden und einen Partner anziehen wollten.
Jesko hielt an und Elyon tat es ihm nach. Vor ihnen redeten die Männer. Immer mehr Stimmen schienen sich dem Chor anzuschließen und Elyon konnte die neugierigen Blicke auf ihnen spüren, auch wenn sie nichts sah. Sie drängte sich näher an den Drachen heran.
»Zum deftigen Bart, hier scheinen alle Menschen Riesen zu sein«, wisperte Finan.
Elyon hätte gerne mehr erfahren, was vor ihnen lag. Doch ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an und ihre Worte kamen nie so schnell über ihre Lippen, wie ihre Gedanken durch ihren Kopf rasten.
Eine Wärme strahlte ihr entgegen, als käme sie von einer Masse an Körpern und Feuerquellen. Elyon schätzte, dass sie Fackeln trugen.
Schwere Schritte kamen näher, eine wuchtige Gegenwart machte sich vor ihnen breit, direkt vor einer Flamme, sodass Elyon endlich einen schemenhaften Umriss sehen konnte. Finan schluckte laut und rückte näher an sie heran, bis sein Hemdsärmel ihren streifte.
»Höhental?«, fragte eine tiefe, gebrochene Stimme.
Elyon war so überrascht über das bekannte Wort, das fast akzentfrei gesprochen wurde, dass sie völlig erstarrte.
»Gefahr?«, fragte die tiefe Stimme als Nächstes. Elyon wusste nicht, was er mit Gefahr meinte. Sie selbst? Oder vielleicht Jesko? Oder ob hinter ihnen noch Gefahr bestand und sie verfolgt wurden?
»Nein«, gab Finan zurück. »Jesko, beug dich zu mir herunter, damit ich dich streicheln kann, so können sie sehen, dass du zahm bist.«
Elyon spürte, wie Jeskos Kopf an ihr vorbeistreifte, dann hörte sie ein überraschtes Raunen aus der Menge.
Eine weibliche Stimme, nicht weit von ihnen, sagte ein paar Worte, dann hörte sie Schritte.
»Wir sollen ihnen folgen. Bleib bei Jesko, das Tor ist breit genug, dass er durch kommt.«
Elyon war dankbar, dass der Drache neben ihr stand. Ein mächtiges Raubtier, das auf sie hörte. Niemand sollte ihr zu nahe kommen oder sie angreifen.
»Meine Vermutung ist, dass der Mann, der mit uns gerade gesprochen hat, so eine Art Anführer ist, da ihm alle den Weg freimachen und sich kurz verbeugen. Er führt uns gerade zu dem größten Haus im Dorf«, wisperte Finan neben ihr.
Ein Haus klang gut. Auch wenn Elyon am liebsten in der Wildnis schlief, hier war die Luft viel zu kalt und kroch in der Nacht durch sämtliche Kleidungsschichten, bis es ihre Knochen zum Zittern brachte. Sie sehnte sich nach einem Dach und Wänden, die sie vor dem Wetter schützten und der unbekannten Gegend, die Elyon nicht sehen konnte.
Sie hielten an.
»Wir stehen vor einer riesigen Scheune, wahrscheinlich für Jesko gedacht.«
Nach Finans Hinweis, klopfte Elyon an Jeskos Seite und sagte ihm in Gedanken, dass es Zeit war, sich zurückzuziehen. Der Drache bewegte sich von ihr weg, bald war auch Finans Gegenwart nicht mehr da und die eisige Luft umgab sie. Etwas surrte, das Ziehen von Leder hallte durch die Scheune. Finan löste wohl die Taschen von Jeskos Körper. Dann kratzten Schritte auf hölzernen Boden und ein Tor fiel zu. Elyon streckte ihre Hand aus und schon bald berührte sie Finans kalte Finger, um sie um seinen Oberarm zu legen.
Er führte sie weiter über den harten Erdboden, doch es waren nur ein paar Schritte, ehe sie wieder anhielten. Der Mann sagte wieder etwas, dann quietschte eine Tür und eine angenehme Wärme strahlte ihnen entgegen.
Finan seufzte erleichtert und trat mit ihr ins Haus. Die Wärme brannte zunächst in ihrem Körper, vor allem die Nasen- und Fingerspitzen. Doch dann tauten Elyons Glieder auf und ihre Muskeln entspannten sich.
Das Ehepaar unterhielt sich, in der Ferne meldete sich eine helle, weibliche Kinderstimme. Die Frau rief etwas zurück, dann führte Finan Elyon eine knarrende, enge Holztreppe hinauf.
»Schlaf«, sagte die tiefe Stimme freundlich.
»Vielen Dank«, sagte Finan, sein Arm bewegte sich nach vorne, wahrscheinlich durch eine Verbeugung, dann erhob der Prinz sich wieder. Eine Lichtquelle kam näher, Elyon erkannte die schemenhafte Gestalt eines großen, blonden Menschen mit langen Haaren. Finan nahm die Kerze und führte Elyon in den Raum hinein.
»Soll ich dir helfen, dich zurechtzufinden?«, fragte Finan.
Elyon schüttelte den Kopf. Sie wollte nur ihren Mantel ausziehen und sich dann aufs Bett legen. Dafür streckte sie vorsichtig ihren Arm aus und beugte sich leicht hinunter, um nach dem Bett zu suchen. Denn die Kerze brachte ihr nicht genug Licht, um etwas im Raum zu erkennen.
»Oh«, sagte Finan. »Ich dachte, sie geben uns getrennte Räume, aber die beiden sind weggegangen.«
Der Prinz sagte dies, als wäre es ein Problem. Elyon verstand nicht wieso, sie hatten die letzten Tage ständig zusammen in der Wildnis übernachtet.
»Und es gibt nur ein Bett.«
»Zu klein?«, fragte Elyon müde. Endlich stießen ihre Finger gegen die Matratze. Elyon setzte sich ächzend auf die weiche Unterlage.
»Nein. Es ist ein Ehebett.«
Elyon verstand nicht, was das Problem war. Doch es war ihr egal. Sie zog an den Bändern ihres Mantels, streifte ihn von ihren Schultern und ließ ihn zu Boden fallen.
»Das ziemt sich nicht. Wir sind weder verwandt, noch verheiratet.«
»Egal. Ich fasse dich nicht an, du fasst mich nicht an.«
Elyon benutzte ihre Füße, um die Stiefel abzustreifen, dann suchte sie nach der Decke, bedeckte sich und zum ersten Mal seit langem schlief sie sofort ein, sobald ihr Kopf auf das Kissen lag.