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Elyons Erwachen Band 2 (German)
6.4 Der fünfte Monat

6.4 Der fünfte Monat

Es war kaum eine Stunde vergangen, als James und Cheng zu ihnen fanden. Elyon und Finan saßen auf Jeskos Rücken, der dösend auf einer Lage Stroh im riesigen Stall lag. Der hölzerne Bau war zwar hoch genug, doch nicht lang genug, sodass Jesko sich nicht frei bewegen konnte und meistens in sich selbst eingerollt auf dem Boden lag.

»Heiliges Gold!«, rief Cheng aus. Jesko riss den Kopf hoch. Finan ließ von seinem Fell ab, das er gerade zu mehreren Zöpfen geflochten hatte, und starrte in die entgeisterten Gesichter der zwei Männer.

»Und ich dachte, ich wäre vorbereitet gewesen«, stieß James atemlos aus und kam vorsichtig näher, während er Jesko mit riesigen Augen betrachtete. Als wollte er jede Einzelheit des Tieres für immer in sein Gedächtnis einbrennen.

»Das ist ein erstaunlicher Fluch. Es sieht so ... natürlich aus. Fast wie das echte Tier.« Cheng legte den Kopf schief. »Wie ist das möglich?«

Finan ahnte, was sie meinten. Zum einen hatte er Jannes Flughündin gesehen. Zum anderen gab es in der Bibliothek genug Lehrbücher mit Zeichnungen über die korrupte Schattenwesen. Einige hatten fürchterliche Fratzen, andere besaßen sechs menschliche Arme, die aus einem raupenartigen Körper wuchsen. Wieder andere hatten drei Köpfe von drei verschiedenen Tieren.

Finan sprang ab und half Elyon hinunter. Es geschah völlig unbewusst, da er es so oft getan hatte. Für einen kurzen Moment überlegte er noch, dass sie wahrscheinlich seine Hilfe nicht brauchte, doch sie hatte ihn bereits an der Schulter gepackt und sprang von Jesko ab.

In Momenten wie diesen fiel Finan erst auf, wie vertraut sie miteinander waren. Sie hatte am Anfang immer nur sehr störrisch seine Hilfe angenommen und alles alleine machen wollen. Finan gab zu, dass er dankbar für ihre Gesellschaft war, auch wenn er sie am Anfang für eine anstrengende Mitreisende gehalten hatte. Er fragte sich, ob Elyon sie als Freunde bezeichnete. Ob sie überhaupt das Konzept von Freundschaft kannte.

»Jesko, bleib liegen«, sagte Elyon, die einzige, die dem Drachen etwas befehlen konnte. Folgsam legte er den Kopf zurück auf das Stroh, sein Blick blieb jedoch auf die zwei Fremden.

»Der einzige Unterschied liegt tatsächlich an den Augen, ich kann ansonsten nichts feststellen«, murmelte James vor sich hin.

»Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine Korruption durch ein Biss allein eine so naturnahe Gestalt hervorbringen kann«, überlegte Cheng weiter. »Das könnte damit zusammenhängen, dass der Ursprung des Fluchs bei Gestaltwandlern liegt. Immerhin hatte König Elyon damals die gleiche Gabe wie seine Gattin und nach alten Überlieferungen, war sie eine der mächtigsten Gestaltwandlerinnen, die es jemals gegeben hat.«

»Das dachte ich mir auch schon!«, rief eine Frauenstimme vor der offenen Stalltür. Dort stand Heidrun in ihrer schwarzen Kluft und hielt sich keuchend an den Seiten. Sie lehnte sich mit einem Arm gegen den Torrahmen und wischte sich mit der anderen Hand über die Stirn.

»Es tut mir leid, ich habe versucht, so schnell wie möglich meine Arbeit zu beenden. Argh! Ich habe wirklich keine Ausdauer«, ächzte sie.

»Heidrun! Wie schön, endlich mal wieder dein schlafloses Gesicht zu sehen«, neckte James lachend.

»Ja, ja. Ich werde in diesem Jahrzehnt wahrscheinlich meinen Schlaf nicht mehr nachholen können.« Heidrun winkte ab und packte einen Stapel Blätter aus ihrer Schultertasche heraus.

»Die sind für euch. Ich habe Skizzen und Notizen mithilfe von Elyons Erzählungen und alten Schriften angefertigt.«

»Danke, Heidrun, du bist die Beste!«, sagte Cheng und nahm ihr voller Eifer den Packen aus der Hand.

James und er überflogen die Papiere, bis sie schließlich an einem hängen blieben. Von der Ferne erkannte Finan eine Zeichnung von Jesko.

»So wie ich es verstehe, funktioniert dieser Fluch ja so ähnlich wie die Gabe der Gestaltwandler«, murmelte Cheng vor sich hin, während er intensiv das Bild betrachtete.

Elyon stellte sich zu Jeskos Kopf und streichelte seine Ohren.

»Ja, so sehe ich das auch«, stimmte James zu. »Es ist wie eine organische Hülle, die den menschlichen Körper umgibt. Je länger dieser Fluch weilt, desto schwieriger ist es für die Betroffenen, sich wieder in Menschen zu verwandeln, irgendwann übernimmt dieser Fluch das Bewusstsein des Menschen und die Verfluchten können sich gar nicht mehr verwandeln.«

»Die Frage ist,« warf Heidrun ein, deren Atmung sich wieder beruhigt hatte, »ob der menschliche Körper sich ebenfalls auflöst, nachdem sie sich ihre Fellfarbe ändert, oder nicht. Dazu konnte Elyon mir keine Auskunft geben. Aber ausgehend von den Korruptionen aus Gerwenen würde ich behaupten, dass der ursprüngliche Körper noch bestehen bleibt und demzufolge sollte es möglich sein, Jesko noch herauszuholen. Dies könnte aber auch einfach nur naiver Optimismus meinerseits sein, ich gebe es zu.«

James und Cheng nickten nachdenklich.

»Gut, fangen wir doch mit dem an, was schon versucht wurde. Elyon, Finan, was habt ihr oder andere schon versucht, um den Fluch aufzuheben?«, fragte James.

»Nichts«, sagte Elyon mit nüchterner Stimme.

Finan konnte es ihr nicht übelnehmen. Sie hatte genug damit zu tun gehabt, einfach zu überleben und hatte im Vergleich zu ihm erst vor kurzem von dem Fluch erfahren. Also war er nun wohl an der Reihe. Finan nahm tief Luft und versuchte während seiner Aufzählung nicht auf die genauen Worte zu achten, um sich nicht an die grauenhaften Bilder zu erinnern, die damit verbunden waren.

»Verschiedenste Kräuter, Heiltrunke von Ärzten und Scharlatanen, die meisten waren mit irgendwelchem Tier-, Drachen- oder Menschenblut gemischt. Das, was am besten funktioniert hat, war sie hungern und dursten zu lassen. Das hat aber, wenn überhaupt, eine Verwandlung nur verschoben, nicht verhindert. Auch das Abschneiden von verschiedenen Körperteile wie Kopf, Beine oder Schwanz wurde probiert, doch das hat nicht funktioniert, die Körperteile sind wieder nachgewachsen.«

Während Finan alles aufzählte, wurden die Augen der drei Älteren immer größer.

»Makaber«, wisperte Heidrun, ihre Worte gefüllt mit Grauen.

»Nun, wir haben, trotz fragwürdiger Methoden, zumindest schon einmal einen Ansatz«, sagte Chen leise.

»Ihr habt nur Körperteile abgeschnitten? Niemals versucht, nur dort aufzuschneiden, wo der menschliche Körper liegt?«, hakte James nach.

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Finan schüttelte den Kopf. »Es war schwer genug, die Tiere so außer Gefecht zu setzen, dass sie keine Gefahr für die Männer waren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das anstellen sollte. Man kann sie kaum betäuben, um so präzise zu schneiden.«

»Traumtod«, warf Elyon ein. »Traumtod beruhigt sie. Vielleicht auch betäuben.«

»Was ist Traumtod?«, fragte Heidrun.

Elyon versuchte, die Pflanze zu beschreiben, wie sie aussah, den Duft und den Geschmack. Zu viel davon konnte einen Menschen leicht umbringen, doch Finan selbst trank gerne eine kleine Menge mit warmem Wasser, wenn er nicht schlafen konnte.

»Das klingt nach Troumenkraut, ich kann das aus der Apotheke besorgen«, sagte Heidrun und schrieb etwas in ihr Notizheft.

Cheng meldete sich zu Wort. »James, bedeutet dies, dass du versuchen möchtest, Jesko aus dem Drachen herauszuholen?«

Finan fühlte, als würde man ihn in den Magen schlagen. Jesko aufschneiden? Er war fast wie ein Vater für ihn, auch wenn er eigentlich Nevin zugeteilt worden war. Er traf den Blick des Drachens. Dieser gähnte nur. Wie viel Jesko wohl von der Unterhaltung verstehen konnte? Oder konnte er nur Elyon verstehen?

»Dies wäre mein erster Vorschlag, ja, auch wenn mir bewusst ist, dass es sehr gefährlich werden könnte. Was glaubt ihr, Finan und Elyon? Wärt ihr damit einverstanden?«

»Moment, moment, bevor sie entscheiden, sollten wir uns ausmalen, was der schlimmste Ausgang dieser Prozedur sein könnte, um die Risiken abzuwägen«, warf Cheng ein.

»Guter Einwand, mein Freund.«

Finan atmete erleichtert auf. Wäre er im Kaiserreich, hätte er ihnen bereits seine Meinung gegeigt, doch mit Gerwenisch als Hindernis und der Tatsache, dass sein Titel ihm hier nur wenig Autorität verlieh, hielt er lieber seinen Mund, auch um keine zukünftigen diplomatischen Beziehungen zu zerstören, die Finan bereits jetzt schon plante. Doch er würde alle gerwenischen Wörter nutzen, die er gelernt hatte, um Jesko vor tödlichen Verletzungen zu schützen.

»Der erste Ausgang ist ganz leicht, er könnte sterben«, sagte Heidrun. Eine betroffene Stille breitete sich im Stall aus.

»Ich habe einmal jemanden herausgeholt, doch der Drache war bereits tot«, sagte Elyon leise. »Aber ich weiß ungefähr, wo er sich befinden könnte.«

Ihre tiefe Stimme, gepaart mit den Worten und ihrem finsteren Blick jagten Finan einen unangenehmen Schauer ein.

»Nun, es könnte aber auch sein, dass Jesko die Schmerzen spürt, trotz Betäubung, dann wird es gefährlich für denjenigen, der die Operation durchführt«, überlegte Cheng.

»Heißt, wenn Elyon dies übernimmt, könnte sie verletzt oder getötet werden«, ergänzte James.

»Gäbe es nicht eine Möglichkeit, dass er sich selbst wieder aus dem Drachen befreit?«, fragte Cheng.

James und der schwarzhaarige Mann tauschten Blicke aus. Auch Heidrun schien zu überlegen.

»Wie soll das gehen?«, fragte Finan. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. Sonst hätten die Betroffenen dies doch schon längst selbst versucht, nach Finans Meinung.

»Wenn Elyon Befehlsgewalt über die Drachen hat, könnte sie nicht vielleicht etwas mit ihrer Macht ausrichten? Jesko befehlen, sich selbst aus dem Drachen zu befreien?« James trat einen Schritt näher auf Jesko zu. »Ein Versuch kostet nichts und sollte hoffentlich niemandem schaden. Ich vermute, dass du Elyon, deine Gabe einsetzen musst, um dich mit Jesko zu verbinden. Du kannst es gerne jetzt gleich ausprobieren, während wir dabei sind. Aber wenn du dich nicht bereit dazu fühlst, ist es natürlich auch in Ordnung, es ein anderes Mal zu probieren. Wir sind ja noch ein paar Tage da, falls du unsere Unterstützung haben möchtest.«

Elyon schüttelte den Kopf. »Ich versuche es jetzt.«

Finan hatte diese Antwort von ihr bereits erwartet. Elyon war nicht jemand, der unnötig zögerte. Da sie sowieso neben Jesko stand, streckte sie ihre Hand aus und berührte ihn über seine Nüstern. Dann schloss sie die Augen und blieb regungslos vor dem Drachen stehen. Zunächst passierte nichts. Elyon verharrte still und schweigend. Finan vermutete, dass Elyon mit Jesko wie mit Valka kommunizierte. Auch der Drache wirkte wie erstarrt. Wie in Trance starrte er in die Leere.

Ein Zischen unterbrach die Stille. Finan konnte zunächst nicht deuten, woher es kam, erst als bald darauf ein dünner schwarzer Nebel aus Jeskos Augen, Ohren und Nüstern heraus strömte, war die Quelle gefunden. Finan spannte den Körper an und wollte auf Elyon zulaufen, doch die anderen bewegten sich nicht von der Stelle und beobachteten nur, was Finan zurückhielt, da er hoffte, dass sie mehr Ahnung von dem hatten, was da gerade vor sich ging.

Cheng stieß einen fremdländischen Laut aus, der nach einem Schimpfwort klang.

»Sollten wir eingreifen?«, fragte Heidrun atemlos. Finan spannte wieder seinen Körper an, doch James schüttelte den Kopf. »Warten wir noch kurz«, sagte er, ohne die Augen von Elyon zu lassen.

Finan tat es ihm nach, sein Körper immer noch angespannt, er ging leicht in die Knie, sollte er ihr zu Hilfe eilen müssen.

Der Nebel war nicht besonders stark und verflüchtigte sich knapp über Jeskos Kopf. Elyons Gesichtsausdruck war konzentriert, aber weder angestrengt noch schmerzverzerrt. Finan behielt weiterhin beide im Auge.

Da jaulte Jesko auf, ein dicker Strom des Nebels strömte aus seinem Maul heraus und bildete einen Kokon um Elyon. Sie ließ erschrocken ihre Hand los, dann wurde auch diese von dem Nebel verdeckt. Es geschah zu schnell, als Finan und die anderen zu ihr hinliefen, war sie bereits komplett vom Nebel bedeckt. Jesko fiel regungslos in sich zusammen.

»Jesko!«, rief Finan. Er überließ Elyon den anderen und wandte sich seinem Ziehonkel zu.

Der Drache lag mit geschlossenen Augen da. Das Maul offen, die Zunge hing schlaff. Finan packte seinen Kopf mit den Händen und schüttelte ihn.

»Jesko, Jesko, wach auf!«

Der Drache bewegte sich nicht. Finans Hände begannen zu zittern, es fühlte sich an, als würde sein Herz kurz stehen bleiben.

»Komm schon, Finan, reiß dich zusammen«, sagte er leise zu sich selbst und hielt seine Hand vor Jeskos Nüstern. Als er einen warmen Hauch auf seiner Handfläche spürte, atmete er erleichtert auf.

»Elyon! Kannst du uns hören?«

Elyon war immer noch in dem Nebel gefangen, doch statt unförmig um sie herumzuschwirren, zog er sich in die Länge. Bald war ein Kopf zu erkennen. Der Kopf eines Flugdrachens.

»Elyon! Elyon!«, riefen alle drei. Sie standen um die Nebelschwaden, doch keiner traute sich näher ranzugehen.

»Cheng!«, rief James.

Dieser streckte seine Hände aus, ging in die Knie und spannte seine Finger an. Eine Eispfütze formte sich um die Nebelschwaden auf dem Boden. Cheng krümmte seine Finger immer mehr zusammen, dann zog er seinen Arm hoch und das Eis schoss in die Höhe und fing den Nebel in ein glasklares Gefängnis ein. Hinter dem Eis waberte der Nebel für ein paar Augenblicke, doch je länger es in dem Eis gefangen blieb, desto stiller wurde der Nebel.

Wie gebannt starrte Finan auf Chengs Konstrukt, das knisterte und klirrte. Seine Hand war immer noch ausgestreckt und angespannt, ein Zeichen, dass er das Eis nach innen weiter ausweitete.

»Da, ich habe sie gefunden«, rief Cheng aus und entspannte seine Hand. Der Nebel löste sich auf, Elyon war endlich wieder sichtbar. Cheng machte eine wischende Bewegung und das Eis löste sich in Wasser auf. Finan rannte auf Elyon zu. Ihr blasses Gesicht wirkte wie betäubt, ihre Lider waren geschlossen. Er griff gerade noch nach ihren Oberarmen, ehe sie zusammenbrach.

Er sackte mit ihr auf den nassen Boden zusammen. Ihr Körper fühlte sich eiskalt an. Schnell schlang er seine Arme um sie und griff auf seine Gabe zurück, um seinen Körper aufzuheizen.

Elyon war viel kleiner als Finan und er musste sie auf seinen Schoß hochnehmen, damit ihr Kinn auf seiner Schulter lag.

»Atmet sie?«, fragte er mit zitternder Stimme. Sein Herz raste in seiner Brust.

Heidrun trat auf sie zu und sah nach.

»Ja, sie atmet. Sie ist nur bewusstlos. Das passiert häufig wenn jemand von einer Korruption angegriffen wird.«

Finan fragte nicht, was genau geschehen war. Er hatte genug damit zu tun, Elyon zu halten und aufzuwärmen, sowie seinen Körper darzubringen, nicht wegen dem Schreck wie verrückt zu zittern.